
Sitzen vier Polen im Auto
Selbst unter Rezensenten der Zeitungen ist es üblich, dass ein Buch angelesen, dann durchgeblättert wird und dann nach Geruch rezensiert wird. Bazon Brock in einem Vortrag1. (Kleine Ergänzung hierzu.) transkribiert; Link zum Vortrag leider deaktiviert ↩
Da ist es also wieder: ein neuer Literaturkanon. Diesmal geht es um »Europas Weltliteratur«. Von Zeit zu Zeit liest der Literaturkritiker die Alten so gern, dass man dies unbedingt allen anderen mitteilen möchte. »Rp.« lautet die Abkürzung auf den ärztlichen Rezepten und »recipe« rufen die Feuilletonisten in die sich längst verzweigende Leserschaft hinein und stellen Ärzten gleich Rezepte gegen Lesefrust und ‑überdruß aber vor allem ‑überfluss aus. Aber wie schon dieses Ärztelatein nur noch Residuen eines einst stolzen Standes dokumentiert, so verpuffen am Ende die Imperative, Empfehlungen oder einfach nur gut gemeinten Ratschläge im »anything goes« der angeblich nach Orientierung ächzenden Leserschaft. Und das ist eigentlich gut so.
Die Weisheiten der werktäglichen Börsensendung in der ARD sind zumeist eh nur von bescheidenem Rang. Da wird mit Zahlen jongliert und auch schon mal Statistiken falsch ausgewertet. Hauptsache, die gerade gängige Meinung (es sei alles »grau und trostlos«) in den »Erwartungsbarometern« wird entsprechend bebildert.
So ging es auch am 17.07., als das derzeit sinkende Wachstum Chinas halb triumphal, halb resignativ vermeldet wurde. Im zweiten Quartal wachse die Wirtschaft dort »nur« noch um 7,6% (was zwar im Verhältnis zu Europa »märchenhafte« Zustände seien, aber im Vergleich zum durchschnittlichen Wachstum Chinas im Jahr 2007 mit 14% ein Rückgang vom 46%. Diese Aussage wird mit einer Graphik unterstützt und wörtlich sagt der Berichterstatter Markus Gürne: »Binnen fünf Jahren ging es also um 46% bergab.«
Große Empörung bei Politikern von CDU und FDP – und auch in der Schweiz: Das Land Nordrhein-Westfalen hat wieder einmal eine CD mit gestohlenen Daten von deutschen Steuersündern aufgekauft. Solche Vorgänge sind umstritten, da der Staat widerrechtlich angeeignete Daten auswertet. Aber darum geht es schon lange mehr: Es geht um’s Geld und Landesregierungen unterschiedlicher politischer Couleur hatten in der Vergangenheit Lösegelder für derartigen Datenträger bezahlt (die sich dann sehr schnell amortisierten).
Die Empörung richtet sich dahingehend, dass die SPD/Grünen-Landesregierung in NRW einen Aufkauf einer solchen CD vorgenommen hat, währenddessen das sogenannte Steuerabkommen zwischen der Schweiz und Deutschland im Bundesrat von eben diesen Parteien blockiert wird. Der NRW-Finanzminister begründet den Aufkauf damit, dass das Abkommen noch nicht in Kraft sei und man sich daher nicht so verhalten brauche. Der FDP-Generalsekretär beklagte sich, die rot-grüne Regierung »mache mit dem Ankauf deutlich, dass sie sich nicht an das geplante Steuerabkommen mit der Schweiz halten wolle«.
Wenn man einige Tage nach der Verhandung des Bundesverfassungsgerichts die Berichterstattung Revue passieren und alle mehr oder weniger gewichtigen Aussagen zur Kenntnis genommen hat, so bleibt bei mir – vielleicht zum ersten Mal im Leben – das Gefühl einer unbestimmbaren Furcht vor der Zukunft dessen, was man – technokratisch kühl – Gemeinwesen nennt. Schier unversöhnlich haben sich wohl die Prozessgegner in Karlsruhe gegenüber gestanden. Hier die Politik – im parteienübergreifenden Konsens ihrer Alpha-Protagonisten agierend (außer die Linkspartei). Sie erklären den vorgeschlagenen Weg für »alternativlos« und malen in seltener und seltsamer Eintracht das Scheitern Europas in dicken Strichen auf ihre Fahnen. Aber warum maßregelt mich dieses Katastrophenszenario nicht? Warum verfalle ich nicht deswegen in Schockstarre und Unbehagen, sondern vor allem ob der scheinbar unausweichlichen Alternativlosigkeit, die sich da aufzutun scheint?
Der inzwischen inflationäre Gebrauch von Katastrophenszenarien behagt mir nicht und macht mich noch skeptischer als würde man die vorgeschlagenen Maßnahmen nüchtern als Notwendigkeit postulieren und mit ihnen argumentieren. Aber das findet gar nicht statt. In Wahrheit vermag niemand zu erklären, warum dieser dritte (oder vierte?), im Prinzip vermutlich unendlich große »Rettungsschirm« nebst entsprechendem Vertragswerk in Kombination mit einer Souveränitätsabgabe an eine noch nicht einmal in Skizzenstrichen entworfenen europäischen Institution den Euro und/oder Europa – und damit die Welt! – retten soll. Die Erklärungen der Befürworter bleiben blass und vage. Einige lassen sich dieses Zögern auch noch als besondere Authentizität bescheinigen. Die Kanzlerin sagte, sie fahre »auf Sicht« – und genau das gilt als »ehrlich«. Gleichzeitig weiß sie aber, dass Europa ansonsten zu scheitern droht. Aber wie kann jemand im Nebel fahren und das Land am Horizont trotzdem sehen?
Die Wolken hingen schwer und in Trauben über den orangeroten Dächern beisammen: Julia ging einen Schritt vom Fenster zurück, schlüpfte in ihre Turnschuhe und öffnete die Tür: Sie trat hinaus auf die Straße, überquerte die gepflasterte Fahrbahn, und spazierte gemächlich dahin.