Bo­tho Strauß: Oni­rit­ti

Botho Strauß: Oniritti - Höhenbilder

Bo­tho Strauß:
Oni­rit­ti – Hö­hen­bil­der

Un­längst konn­te man le­sen, dass bei der Be­sied­lung des Mars durch Erd­be­woh­ner (op­ti­mi­sti­sche Pla­nun­gen se­hen dies ab 2025 vor) auf Häu­ser ver­zich­tet wer­den muss. Me­teo­ri­ten­schau­er, Sand­stür­me, Temperaturschwan­kungen und Welt­raum­strah­lun­gen ma­chen dies un­mög­lich. Statt­des­sen müss­ten die Erd­lin­ge in La­va­höh­len und ‑kra­tern le­ben, die es auf dem ro­ten Pla­ne­ten auch in grö­sse­rer An­zahl zu ge­ben scheint. Ein be­rühm­ter Ar­chi­tekt hat hier­zu be­reits ent­spre­chen­de Ent­wür­fe vor­ge­legt. Am En­de des ver­mut­lich größ­ten tech­no­lo­gisch-zi­vi­li­sa­to­ri­schen Ak­tes der Mensch­heit wä­re der Ho­mo sa­pi­ens wie­der ein Höh­len­be­woh­ner.

Es ist eher un­wahr­schein­lich, das Bo­tho Strauß beim Schrei­ben sei­nes neu­en Bu­ches »Oni­rit­ti – Höh­len­bil­der« die­ses Bild vor Au­gen hat­te. Er de­fi­niert Oni­rit­ti als »Bild­schrif­ten auf der Höh­len­wand der Nacht«, er­wähnt ei­nen Ge­dan­ken von An­dré Le­roi-Gour­han über die Höh­len­bil­der von Las­caux, schickt den Le­ser gleich zu Be­ginn in das »Un­ter­ir­di­sche Reich Agh­ar­ti« und da­nach nach »Id­le Ci­ty«, dem »Mär­chen­reich der ge­brech­li­chen See­len«, phan­tas­ma­go­riert von »ge­hei­men Grot­ten« und ent­deckt ein »Ha­des­äqui­va­lent«.

Die Höh­le, bei Pla­ton einst Sinn­bild für das un­freie In­di­vi­du­um, ist hier nicht mehr der Ort der Ma­ni­pu­la­ti­on und des (fal­schen) Scheins, son­dern wird zum Exil der letz­ten (den­ken­den) Men­schen um­ge­wer­tet. Er­klomm Za­ra­thu­stra den Berg so haust Strauß in der Höh­le. Die Schat­ten- und Trug­bil­der fin­det er in ei­ner an­de­ren, ei­ner vir­tu­el­len Welt, die die rea­le Welt zu usur­pie­ren droht oder be­reits usur­piert hat. »Schon ver­strickt oder nur ver­netzt« lau­tet denn auch leicht süf­fi­sant ein­mal die Fra­ge. Der Ver­netz­te ist der Ge­fan­ge­ne des 21. Jahr­hun­derts und Rück­zug die neue Bür­ger­pflicht.

Aber die Höh­le ist auch Auf­füh­rungs­ort, Büh­ne, in der Be­gin­ne von Thea­ter­stücken nebst Re­gie- oder Sze­nen­an­wei­sun­gen ent­wor­fen wer­den und sich Paa­re (Er und Sie) be­geg­nen (et­was, was Strauß im­mer sehr gut in­sze­niert hat). Nein, ei­ne Er­zäh­lung wie »Her­kunft« (die­se Hom­mage an den Va­ter und an die un­ter­ge­gan­ge­ne Welt sei­ner Kind­heit und Ju­gend, so ganz oh­ne Weh- oder Schwer­mut) ist das nicht. »Oni­rit­ti« ist ein Kon­vo­lut aus (schein­bar?) lo­sen Fä­den, Epi­so­den, klei­nen Dra­ma- oder Pro­sa­stücken, Traum- bzw. Alp­traum­no­ta­ten, die dann oft ge­nug ins Sur­rea­le ab­drif­ten et­wa wenn bei Bus­fahr­ten ur­plötz­lich klei­ne Ho­mun­cu­li auf dem Ne­ben­sitz Platz ge­nom­men ha­ben oder ein Paar mit »et­was grö­ße­ren Kör­pern als üb­lich« evo­ziert wird. Es wird von Men­schen er­zählt, die ei­ne Va­se (spä­ter dann ei­ne Obst­scha­le) um­ar­men. Ei­ne Frau, die »in der Tür zu Hau­se« ist. Ein Mensch er­zählt, wie er zum »Brust­füß­ler« wur­de und spä­ter er­fährt der Le­ser von Bäu­men, die sich »im Ne­ben­ein­an­der« lie­ben.

Man kennt der­lei Skur­ri­li­tä­ten von Strauß aus »Mi­ka­do«, aber die­se Ge­schich­ten hat­ten ei­ne Struk­tur, zu­wei­len ei­ne Poin­te und ver­lo­ren sich nur sel­ten im Traum­haf­ten. Hier wird hin­ge­gen frei as­so­zi­iert, das En­de ist häu­fig un­klar, fehlt gar. Es sei denn, dass sich ir­gend­wie der Bo­gen zur di­gi­ta­len Welt schla­gen lässt, die Strauß mit ent­spre­chen­der Kri­tik schon in »Lich­ter des To­ren – Der Idi­ot und sei­ne Zeit« über­zo­gen hat­te. Aus dem »Idio­ten« von da­mals ist nun ein Spöt­ter ge­wor­den, et­wa wenn von ei­nem Strom­aus­fall im In­ter­net­ca­fé die Re­de ist, der »Click-Gän­ger« und »Netz­nest­hocker« ver­lacht wird oder die »sprung­haf­ten links« dem »Vor­marsch von Läu­sen« glei­chen.

So wird die Höh­le zur »da­ten­freie Her­ber­ge, trans­pa­renz­ab­wei­send«, »Asyl bie­tend vor der Mensch­heits­seu­che Kom­mu­ni­ka­ti­on, Ex­hi­bi­ti­on, In­for­ma­ti­on« und der »alt­mo­di­sche Päd­erast oh­ne Netz­an­schluß« aus den »ver­schol­le­nen Ta­gen der Hundertfünfund­siebziger« er­scheint plötz­lich als put­zi­ger Exot (dem hier al­ler­dings ei­ne Frau am Gar­ten­zaun be­geg­net, de­ren Kopf von ei­nem »kleine[n] viereckige[n] Holz­ka­sten« um­schlos­sen wird).

Im­mer wie­der ver­wan­delt sich der Er­zäh­ler und schlüpft in die ab­son­der­lich­sten Rol­len: Er ist »der Dau­er­ge­kränk­te«, der »Ant­litz­samm­ler«, der »ab­ge­kämpf­te Wan­de­rer«, der »Be­wußt­ma­cher«, der »Buch­hand­lungs­wahn­sin­ni­ge«, der »an­ge­wi­dert Le­ben­de« oder der »un­er­müd­lich Träu­men­de«. Selbst­iro­nie oder nur Po­se die­ses »Abtrünnige[n] des All­tags« der »ge­plagt in sei­nen Träu­men her­um­irrt wie in ei­nem al­ten Krieg, bei dem we­der Aus­bruch noch Front noch Geg­ner ein­deu­tig zu er­mit­teln sind, von ei­nem Nacht­mahr nach dem an­de­ren um­zin­gelt, im­mer­zu vor un­lös­ba­re Auf­ga­ben ge­stellt, als wä­re sein Le­ben ein ein­zi­ger Prüf- und Hin­der­nis­lauf«?

Be­zeich­nend: »ge­plagt in sei­nen Träu­men herumirr[en]« ge­nügt nicht. Es muss auch noch das Bild »wie in ei­nem al­ten Krieg« fol­gen. War­um? Al­les spricht da­für, dass das Mar­tia­li­sche mehr als nur Ko­ket­te­rie ist. Hier ist ei­ner mit vol­ler Über­zeu­gung in Geg­ner- nein: Feind­schaft zum Zeit­ge­nos­sen­tum. Da­bei ist der »Feind« stets prä­sent – es sind die »Ghouls«, die Al­les­be­schmut­zer. Und weil die Spra­che auch be­schmutzt ist, muss sie er­neu­ert wer­den. Fol­ge­rich­tig da­her die Aus­sa­ge: »Le­ben heißt, Me­ta­phern­pro­ble­me zu lö­sen«. Und Strauß fin­det, er­fin­det und kre­iert mit gro­ßer Lust neue Be­grif­fe. Schon der Ti­tel des Bu­ches ist ein Neo­lo­gis­mus. Die No­tat­split­ter hei­ßen »All­tags-Per­pe­tu­la« (Ein­zahl: »Per­pe­tu­lum«). Ein Mensch er­lei­det das »Pel­o­ros-Schick­sal« und der Alltag­sakteur ist der »De­si­de­ra­teur«. Al­les Code­wör­ter für den Ein­tritt in die Strauß’schen Höh­len­gän­ge.

Nur noch sel­ten ent­steht so et­was wie Trotz. »Wer­den wir doch, die wir wa­ren!« steht dann dort (wich­tig hier die Set­zung des Bei­strichs) und zwar: »Ab­ge­leb­te, die, seil­hüp­fend, wie­der mit fri­schen Ta­gen be­gin­nen«. Und wei­ter: »Jung­sein, wo es sich einst nicht be­währ­te, kehrt’s nun zu neu­er Prü­fung zu­rück.« Aber in die­sen Ap­pel­len stecken eben auch sub­ku­tan die Zwei­fel. Ist die De­ge­ne­ra­ti­on nicht schon zu weit fort­ge­schrit­ten? Und war­um soll et­was ge­lin­gen, was sich nicht be­währ­te? Am En­de bleibt nur der Op­fer­ge­stus des Lei­den­den: »Ei­ner muß er­dul­den. Wer er­dul­det, ist schön.« Und dann er­schei­nen die­se Auf­zeich­nun­gen als Sinn­bil­der wie das vom al­ten, ver­bo­ge­nen Sekt­kor­ken­draht, der in ei­nem klei­nen Bach um­her­treibt und dann »für im­mer« an ei­nem »Stein­vor­sprung« hän­gen­bleibt. Höch­stes Glück: nicht mit dem Strom weg­ge­trie­ben zu wer­den.

»Geh in dei­ne Geist-Höh­le, schließ al­les aus au­ßer Gott«. Die­ser Satz ist Im­pe­ra­tiv und Ver­mächt­nis zu­gleich. Strauß (ver-)kleidet sein Un­be­ha­gen an und in der Kul­tur in My­stik und Sur­rea­lis­mus. Aber ir­gend­wann droht die Er­mat­tung, all die wohl­ge­setz­ten Re­fe­ren­zen und Ver­wei­se zu ent­schlüs­seln. Ja, da sind wun­der­schö­ne Sze­nen, herr­li­che Evo­ka­tio­nen, die den Le­ser auf­schau­en und aus dem Fen­ster blicken las­sen. Auf den letz­ten fünf Sei­ten gibt es apho­ri­sti­sche »Dich­te Sät­ze«. Plötz­lich wünscht man sich, das gan­ze Buch hät­te aus sol­chen Split­tern be­stan­den, oh­ne all die­sen an­ge­kleb­ten ok­kul­ten Bal­last, der vie­le der Pro­sa­stücke be­schwert. Aber die Zei­ten als das Wün­schen noch ge­hol­fen hat, sind ja auch vor­bei.