Ein neues Gespenst geht um. Man mag es »Identitätspolitik« (Bernd Stegemann), »Wokeness« (Esther Bockwyt) oder »Moralspektakel« (Philipp Hübl) nennen. Im Kern ist es eine aus den USA herüberschwappende, sich epidemisch ausbreitende Geisteshaltung, die, zu Ende gedacht, an die Grundfesten pluralistischer Gesellschaften rüttelt. Der deutsche Duden definiert das englische Lehnwort woke als »in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung«. Eigenschaften, die zunächst positiv besetzt sind, denn wer ist nicht für eine gerechte Welt und gegen Rassismus? Ginge es nach Verfechtern diesen Denkens, dürften die Begriffe »woke« und Wokeness gar nicht verwendet werden, denn wie schon »political correctness« soll es sich um einen rechten Kampfbegriff handeln. Das kann man als ziemlich durchsichtigen Versuch nehmen, eine dogmatisch auftretende Ideenlehre als unabweisbares Erfordernis für eine neue Welt einzuführen.
Die Publikationen, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, nehmen drastisch zu. Es ist nahezu unmöglich, den Überblick zu behalten. Hier sollen drei Bücher vorgestellt werden, die die Thematik versuchen, möglichst unideologisch zu erfassen, aber unterschiedliche Prioritäten setzen. Während der Philosoph Philipp Hübl in Moralspektakel einen tiefen, deskriptiven Einblick verschafft, analysiert die Psychologin Esther Bockwyt in Woke vor allem die Auswirkungen der Gender-Theorie(n) auf die physische und psychische Gesundheit Betroffener und zeigt, wie sehr dieses Denken bereits in politischen Institutionen bis hin zu Gesetzgebern eingesickert ist. Im bereits im letzten Herbst erschienenen Buch Identitätspolitik untersucht der Kultursoziologe Bernd Stegemann die Auswirkungen der von den Protagonisten verfochtenen schroffen Ablehnung des Universalismus zu Gunsten eines Werte-Relativismus und entdeckt in der Umdeutung der Werte der Aufklärung frappierende Parallelen zwischen rechten und linken Denkrichtungen.
Sahra Wagenknecht gehört in Deutschland zwar zu den bekanntesten Politikern der Partei Die Linke (hier im weiteren »Linkspartei« genannt, um diese von der allgemeinpolitischen Richtung »Linke« abzugrenzen), aber ist auch ein Beispiel dafür, dass Bekanntheit, überparteiliche Beliebtheit und Respekt nicht automatisch mit Einfluss in der jeweiligen Partei verbunden ist. Man spricht dann schnell von jemanden, der »in der falschen Partei« sei.
Man kann Wagenknecht vieles vorwerfen, aber Angst vor Konflikten gehört nicht dazu. Trotz ihrer Entmachtung nebst Ablösung als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag 2019 und dem mehr oder weniger sichtbaren Scheitern einer außerparlamentarischen, linken Sammlungsbewegung »aufstehen« wagt sie sich immer wieder ins Getümmel. So wurde sie unlängst zur Spitzenkandidatin der Linkspartei in NRW gewählt, was dahingehend interessant ist, weil Wagenknecht eigentlich nichts mit diesem Bundesland zu tun hat. Was sie nicht davon abhält, im Wahlkreis Düsseldorf II anzutreten.
Zum innerparteilichen Streitfall wurde die Kandidatur unter anderem durch die Publikation ihres neuesten Buches »Die Selbstgerechten«, in dem Wagenknecht furios mit dem sogenannten »Linksliberalismus« ins Gericht geht, für den sie bisweilen den leicht despektierlichen, aber griffigen Begriff »Lifestyle-Linke« verwendet.
Allen Bekenntnissen zum Trotz ist »Die Selbstgerechten« bisweilen durchaus auch eine Abrechnung. Dabei ist es kein Zufall, dass es starke Übereinstimmungen mit Bernd Stegemanns »Die Öffentlichkeit und ihre Feinde« gibt – war doch Stegemann Mitgründer und im Vorstand von »aufstehen«. Wagenknechts Vorhaben geht aber weiter. Zwar kritisiert sie zunächst auf rund 200 Seiten die sogenannte »linke« Identitätspolitik, aber anschließend folgen auf rund 140 Seiten Positionierungen für eine neue, zeitgemässe »linke« Politik, die diesen Namen verdienen soll.
Entfremdete Lifestyle-Linke
Im Fokus von Wagenknechts Kritik steht der »Linksliberalismus«. Damit meint sie ausdrücklich nicht die sozialliberale Politikrichtung der Regierungen zwischen 1969 und 1982: »Wenn in diesem Buch von Linksliberalismus die Rede ist, ist der Begriff immer im modernen Verständnis als Bezeichnung für die Weltsicht der Lifestyle-Linken gemeint und nie in dem früheren Wortsinn.« Diese Unterscheidung sei wichtig weil beide Denkrichtungen nichts miteinander zu tun hätten. Den Begriff verwende sie trotzdem, weil er sich etabliert habe. Damit verfährt sie ähnlich wie in ihrem Buch »Freiheit statt Kapitalismus« von 2011, in dem »Neoliberalismus« ebenfalls in der zeitgenössischen Konnotation (vulgo: dereguliertes Wirtschaftssystem) verwendet wird und nicht im Sinne der ordo-liberalen Entwürfe von Eucken und Müller-Armack (obwohl sie diese erwähnt).
Die vorgebrachte Diagnose ist beileibe nicht neu: Sich links wähnende Aktivisten, mehrheitlich akademisch ausgebildet, solide Mittel- bis Oberschicht, großstädtisch, »weltoffen und selbstverständlich für Europa, auch wenn jeder unter diesen Schlagworten etwas anderes verstehen mag«, besorgt ums Klima, setzt sich für »Emanzipation, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten ein«. Sie usurpieren den Diskurs innerhalb der politischen Linken. Der Nationalstaat ist diesen »Lifestyle-Linken« ein Auslaufmodell: Man schätzt »Autonomie und Selbstverwirklichung mehr als Tradition und Gemeinschaft. Überkommene Werte wie Leistung, Fleiß und Anstrengung findet [man] uncool.«
Wagenknecht konstatiert eine Entfremdung der Linken mit ihren potentiellen Wählern: »Früher gehörte es zum linken Selbstverständnis, sich in erster Linie für die weniger Begünstigten einzusetzen, für Menschen ohne hohe Bildungsabschlüsse und ohne ressourcenstarkes familiäres Hinterland. Heute steht das Label links meist für eine Politik, die sich für die Belange der akademischen Mittelschicht engagiert und die von dieser Schicht gestaltet und getragen wird.«
Gemeint ist der bisweilen verbitterte, in Universitäten aber auch sozialen Netzwerken bis hinein in die Publizistik geführte Kampf für Sprach- und Sprechge- bzw. verbote, vor allem jedoch gegen vermeintlichen Rassismus und Diskriminierungen von Minderheiten. Er will allerdings, so Wagenknecht, keine rechtliche Gleichheit, sondern ufert aus in »Quoten und Diversity, also für die ungleiche Behandlung unterschiedlicher Gruppen.« Die Folge: »Der identitätspolitische Linksliberalismus, der die Menschen dazu anhält, ihre Identität anhand von Abstammung, Hautfarbe, Geschlecht oder sexuellen Neigungen zu definieren, […] spaltet […] da, wo Zusammenhalt dringend notwendig wäre. Er tut das, indem er angebliche Minderheiteninteressen fortlaufend in Gegensatz zu denen der Mehrheit bringt und Angehörige von Minderheiten dazu anhält, sich von der Mehrheit zu separieren und unter sich zu bleiben. Nachvollziehbarerweise führt das bei der Mehrheit irgendwann zu dem Gefühl, die eigenen Interessen ihrerseits gegen die der Minderheiten behaupten zu müssen.« (Hervorhebungen S. W.)
Der Dramaturg und Autor Bernd Stegemann widmet sich in seinem neuesten Buch »Die Öffentlichkeit und ihre Feinde« mit aller gebotenen Ausführlichkeit dem aktuellen Status quo dessen, was man Kommunikations- oder auch Diskursgesellschaft nennt und beschreibt, wie Entwicklungen aus den USA auch in Deutschland immer mehr Fuß fassen. Die gleiche Thematik behandelt »Generation beleidigt«, ein viel beachtetes Buch der französischen Journalistin Caroline Fourest, die sich eindeutig als Aktivistin u. a. für LGBTQ-Rechte stark macht und aus einer feministischen Position heraus argumentiert. Stegemann begnügt sich nicht mit einer Zustandsbeschreibung, sondern führt aus, wie dies den Umgang mit den tatsächlichen, existentiellen Problemen des Anthropozäns (Klimawandel, Umweltverschmutzung, soziale Ungleichheit, Migrationsströme) nicht nur hemmt, sondern verunmöglicht. Sein Buch steht im Zentrum dieser Besprechung.
Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde
Zunächst unterscheidet er zwischen den gängigen Konzepten der spätmodernen Gesellschaftsbeschreibung: »Auf der einen Seite gibt es die Systemtheorie, die erklärt, dass jedes System einen blinden Fleck braucht, um funktionieren zu können, und die zugleich reflektiert, dass Fortschritt nur dadurch möglich ist, dass alle Systeme wechselweise ihre blinden Flecken kritisieren. Auf der anderen Seite stehen die Mythenerfinder und Fundamentalisten, die ihren eigenen blinden Fleck verleugnen und jeden Hinweis darauf als Angriff auf ihre Identität zurückweisen.«
Neoliberalismus und Individualismus
Wie konnte es soweit kommen? Stegemann charakterisiert die Postmoderne als »Erzählung eines radikalen Individualismus«. Damit war, spätestens nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/90, der Weg frei für das, was er »Neoliberalismus« nennt. Er verwendet den Begriff nicht in seiner ursprünglichen Bedeutung, dem ordo-liberalen Wirtschaftssystem à la Walter Eucken. Neoliberalismus ist für ihn Synonym für den entfesselten, grenzenlosen, globalisierten Kapitalismus, der unterschwellig die Prioritäten in Gesellschaft und Politik bestimmt. Er wird zur Urquelle einer sich immer weiter spaltenden Gesellschaft, deren Folgen bis hinein in die öffentliche Diskurse spürbar sind.