Die roten Nester von Glut, die sich noch an den Firsten der Dächer und in den Spitzen der Pappeln gehalten und sich in das Gefieder der vorüber fliegenden Krähen gelegt hatten, verglommen: Dunkelgrau und glatt schoss der Fluss, an dessen, mit Pflastersteinen befestigten, Böschung ich stand, dahin, eine matte Fläche, die ich noch vor kurzem, langsam und zäh, wie Lava, mit Wirbeln und Strömungen, dahin fließen sah, silbern, irisierend in allen Abstufungen von Rot, Gelb und Orange, von einem Ausbruch herrührend, weit, weit, entfernt: Ein Tag wie viele andere, verfiel und doch war er von einem Reichtum gewesen, wie man ihn selten gewinnt. Aus den Büschen und dem Wasser kroch bereits die Kühle und von der Erde stieg das Dunkel hoch, aber mein Wohlwollen blieb: Wie der Tag so die Nacht, dachte ich, setzte mich auf die Bank, die einige Schritte weit entfernt stand, zog die Beine an und schmiegte mich an die Lehne: Was sich so lange angedeutet und hingezogen hatte, war rasch vollbracht: Die Gleichförmigkeit der Schatten machte sich überall breit, jene andere Welt, mit ihren eigenen Gesetzen, dem Verlust von Klarheit und Form, dem Wechsel der Sinne und dem Wachen des ansonsten Schlafenden: Mit den letzten Strahlen des Lichts verfiel auch mein Staunen, das nie an die Wiederkehr des Gleichen gebunden war, die nur Teilnahmslosigkeit und Selbstverständlichkeit zur Folge hat: Mein Staunen hatte immer den einzelnen Erscheinungen und Wesen der Natur gegolten, die dadurch, jede für sich, aus ihr heraustraten und mich an etwas, das ich im Geschäft der Tage allzu leicht und gerne vergaß, erinnerten: Unverblümt sind sie in ihrem Wachsen, ihrem Reifen ohnehin, in ihrem Verfall noch und ihrer Wiederkehr: Unverblümt ist das Schöne, das sich verschwendet, weil es ist, ohne für, ohne wenn und ohne aber: Nicht selbstverständlich wie der Wechsel der Jahreszeiten oder eben jener von Tag und Nacht, nicht so wie das Seiende oder das Leben für denjenigen, der mitten in ihm aufwächst: Unverblümt ist ein Werk ohne Plan und Schöpfer, ohne Zutun überhaupt.
Schönheit
Figuren der Umwertung: Nietzsche und Genet (III)
9
1963 schrieb Genet an seinen Verleger Marc Barbezat, Nietzsche habe Die Geburt der Tragödie in einem Zug geschrieben, ohne je in Griechenland gewesen zu sein. »In Korfu«, fuhr er fort, »habe ich alles von ihm gelesen. Was mir gefallen hat, die Ideen, die mir entsprechen: jenseits von Gut und Böse: der Übermensch. Natürlich nicht der von Hitler oder Göring. Lächerlich zu denken, der Besitz von Schlössern und Tausenden Hektar Land ermögliche es einem, wie ein Übermensch zu leben. Nietzsche forderte eine viel härtere Moral für den Übermenschen.« (LB 261) Auch an dieser Stelle bezieht sich Genet ausdrücklich auf eine positive Moral, die er bei Nietzsche zu finden meint (vermutlich hat er besonders die kurzen Skizzen eines neuen Barbarentums im Kopf). Die Porträts der Stilitano, Mignon, Harcamone und Konsorten sind handfeste Gestaltungen des Übermenschen, den sich Nietzsche alles in allem doch etwas eleganter vorstellte, »aus einem Holz geschnitzt, das hart, zart und wohlriechend zugleich ist.« (EH 267) Jüngers Arbeiter ist eine weitere Ausgestaltung dieses Typus; eine Gestalt, die freilich, vergleicht man sie mit Genets Helden, abstrakt bleibt und sich außerdem als verbindlicher Vorschlag an die Mehrheitsgesellschaft richtet. Handelt es sich bei diesen literarischen und ideologischen Schöpfungen um »Entstellungen« von Nietzsches Gedanken? Nein, sondern um unterschiedliche Realisierungen eines Modells, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Luft lag und von Nietzsche so elliptisch gezeichnet wurde, daß sehr verschiedene Realisierungen der Leerformen möglich waren. Auch der »Neue Mensch«, wie er Ernesto Guevara aufgrund seiner Guerrilla-Erfahrung vorschwebte, hat noch Teil an dieser Auslegungsgeschichte.