Hel­mut Böt­ti­ger: Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung

Helmut Böttiger: Die Jahre der wahren Empfindung
Hel­mut Böt­ti­ger: Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung

Es gibt in­zwi­schen un­zähl­ba­re ana­ly­tisch-hi­sto­ri­sche Be­trach­tun­gen zu der Epo­che, die all­ge­mein ver­kür­zend mit »1968« be­zeich­net wird (und die ei­gent­lich 1966 be­gann). In den letz­ten Jah­ren sind nun ver­mehrt Pu­bli­ka­tio­nen er­schie­nen, die ein­zel­ne Jah­re aus dem 1970er-Jahr­zehnt un­ter­su­chen und hi­sto­ri­sche Zä­su­ren ent­deck­ten, die maß­geb­lich den Vor­gang der Ge­schich­te be­stimm­ten. So ana­ly­sier­te Kar­sten Kram­pitz das Jahr 1976 als An­fang vom En­de der DDR (und so­mit in­di­rekt auch des »re­al exi­stie­ren­den So­zia­lis­mus«) . Der Hi­sto­ri­ker Frank Bösch li­ste­te in Zei­ten­wen­de 1979: Als die Welt von heu­te be­gann wich­ti­ge welt­po­li­ti­sche Er­eig­nis­se des Jah­res 1979 als rich­tungs­wei­send auf. Und der Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Phil­ipp Sa­ras­sin un­ter­such­te un­längst mit 1977- Ei­ne kur­ze Ge­schich­te der Ge­gen­wart, die »tie­fen ge­sell­schaft­li­chen, po­li­ti­schen, kul­tu­rel­len, wis­sen­schaft­li­chen und tech­no­lo­gi­schen Ver­schie­bun­gen und Brü­che in West­eu­ro­pa und den USA«, die sich, so die The­se »im Jahr 1977 bün­deln las­sen« (das Er­geb­nis über­zeugt eher we­ni­ger).

Der Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hel­mut Böt­ti­ger nimmt sich nun auf fast 500 Sei­ten (mit 37 Ab­bil­dun­gen) des gan­zen Jahr­zehnts an. In Die Jah­re der wah­ren Emp­fin­dung (an­ge­lehnt an den Ti­tel ei­ner Er­zäh­lung von Pe­ter Hand­ke) re­sü­miert er die 1970er-Jah­re als ei­ne »wil­de Blü­te­zeit der deut­schen Li­te­ra­tur« (so der Un­ter­ti­tel). Im Un­ter­schied zu den oben ge­nann­ten Bü­chern sucht Böt­ti­ger nicht zwang­haft nach hi­sto­ri­schen Wen­de­punk­ten, son­dern ver­sucht zu be­schrei­ben, wie die 68er-»Revolution« und ih­re Aus­wir­kun­gen in die Li­te­ra­tur po­li­tisch und vor al­lem äs­the­tisch über­führt wur­de.

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Kol­lek­tiv­ge­spenst ge­gen In­di­vi­du­al­ge­spenst

Wie­der­le­se­ver­such über Ni­co­las Borns »Die erd­ab­ge­wand­te Sei­te der Ge­schich­te«.

Nicolas Born: Die erdabgewandte Seite der Geschichte
Ni­co­las Born: Die erd­ab­ge­wand­te Sei­te der Ge­schich­te

Nach der Be­schäf­ti­gung mit Ni­co­las Borns letz­tem Ro­man »Die Fäl­schung« und der hier­in deut­lich ge­äu­ßer­ten Jour­na­lis­mus- und Sprach­kri­tik (die, wie ich ana­ly­sie­re, als ein Vor­läu­fer der Kri­tik Pe­ter Hand­kes an der Be­richt­erstat­tung zu den Ju­go­sla­wi­en-Krie­gen der 1990er Jah­re gel­ten kann) be­sorg­te ich mir an­ti­qua­risch den be­kann­te­sten Ro­man Borns »Die erd­ab­ge­wand­te Sei­te der Ge­schich­te«, der drei Jah­re vor der »Fäl­schung« er­schie­nen war und für den Ly­ri­ker Born so et­was wie den Durch­bruch be­deu­te­te.

Mein Ex­em­plar war die 6.–8. Tau­send-Auf­la­ge 1976. Die Klap­pen­tex­te be­stan­den vor al­lem aus Aus­schnit­ten aus Re­zen­sio­nen, na­tur­ge­mäß al­le lo­bend. Wie nicht an­ders zu er­war­ten stand an er­ster Stel­le ein Satz von Mar­cel Reich-Ra­nicki, dann et­was von Wolf­ram Schüt­te. Auf der hin­te­ren Klap­pe ist dann noch ei­ne Pas­sa­ge aus Pe­ter Hand­kes Be­gleit­schrei­ben zum Buch aus der »Zeit« ab­ge­druckt.

Ich er­in­ne­re mich das Buch vor vie­len Jah­ren aus der Bi­blio­thek ent­lie­hen und nach we­ni­gen Sei­ten weg­ge­legt und schließ­lich vor der Ab­ga­be­frist zu­rück­ge­ge­ben zu ha­ben. Zu ex­zes­siv schien mir die Kla­ge des Ich-Er­zäh­lers über sich, sei­ne Freun­din Ma­ria und über­haupt die Welt.

Nach der Lek­tü­re des schö­nen Tex­tes von Hil­mar Klu­te zum 80. Ge­burts­tag des 1979 ge­stor­be­nen Ni­co­las Born griff ich nun zum Buch. Es war eben auch das sanf­te Plä­doy­er Klu­tes für die »neue Sub­jek­ti­vi­tät«, die die deutsch­spra­chi­ge Li­te­ra­tur lan­ge Zeit präg­te und – wenn man ge­nau hin­schaut – längst wie­der­ge­kehrt ist, frei­lich an­ders als da­mals in den 1970er Jah­ren (hier­auf wird noch ein­zu­ge­hen sein), die mich nun wie­der neu­gie­rig mach­te.

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