Wel­ten und Zei­ten VIII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Auf­leuch­ten­de De­tails von Pé­ter Ná­das: ein un­ver­gleich­li­ches Buch. Kann man es mit ei­nem an­de­ren ver­glei­chen? Mir kommt Ca­na­le Mus­so­li­ni in den Sinn, der Do­ku­men­tar­ro­man des Ita­lie­ners An­to­nio Pen­n­ac­chi. Bei­de Bü­cher sind nicht pri­mär Fik­ti­on, bei­den geht es um kol­lek­ti­ve und in­di­vi­du­el­le Er­in­ne­rung, bei bei­den ist die Fa­mi­lie des Au­tors in­vol­viert, aber Fa­mi­li­en­ro­ma­ne im her­kömm­li­chen Sinn sind sie auch nicht. Es wur­de be­strit­ten, daß es so et­was wie kol­lek­ti­ve Er­in­ne­rung über­haupt ge­ben kön­ne: Er­in­nern kön­ne man sich nur an et­was, was man selbst er­fah­ren, was ei­nem per­sön­lich zu­ge­sto­ßen sei. Als ich mit dem Ar­gu­ment das er­ste Mal kon­fron­tiert war, schien es mir über­zeu­gend, mach­te mir aber Un­be­ha­gen, weil ich die Er­in­ne­run­gen, die ich aus Bü­chern, von Leh­rern, Groß­el­tern und an­de­ren Per­so­nen, aus den Me­di­en, nicht zu­letzt auch aus der Li­te­ra­tur, ob Fik­ti­on oder nicht, be­zo­gen ha­be, nicht ein­fach als Il­lu­si­on ab­tun und auf­ge­ben woll­te. Na­tür­lich gibt es ein kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis, und al­so auch kol­lek­ti­ve Er­in­ne­rung. Ob sie »zu­trifft«, ist ei­ne an­de­re Fra­ge. Das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis ist Ver­än­de­run­gen un­ter­wor­fen, wie das in­di­vi­du­el­le Ge­dächt­nis auch. Nur funk­tio­niert das kol­lek­ti­ve Ge­dächt­nis an­ders als das in­di­vi­du­el­le. Aus ein­zel­nen Be­rich­ten wer­den öf­fent­li­che Er­zäh­lun­gen ge­bil­det, de­nen gro­ße Tei­le der Be­völ­ke­rung – nicht aber sämt­li­che In­di­vi­du­en – Glau­ben schen­ken. Wie bei fik­tio­na­len Tex­ten kommt es auch bei hi­sto­ri­schen, das heißt: Ge­schich­te kon­sti­tu­ie­ren­den Tex­ten auf ih­re Glaub­wür­dig­keit an.

Den Auf­leuch­ten­den De­tails eig­net, we­nig­stens für mich, ein ho­her Grad an Glaub­wür­dig­keit, und Pen­n­ac­chis Ca­na­le Mus­so­li­ni auch. War­um? Bei­de sind her­vor­ra­gend er­zählt und ge­schrie­ben. Ein we­sent­li­cher Wert sol­cher Ro­ma­ne liegt in ih­rer Zeu­gen­schaft, was viel­leicht ein bes­se­res Wort ist als »Do­ku­men­ta­ti­on«. Die Ro­man­haf­tig­keit, wohl auch die Not­wen­dig­keit, die Form des Ro­mans zu ver­wen­den, liegt in der Kom­ple­xi­tät des­sen, was es zu be­rich­ten gilt, und auch in der Viel­zahl der Stim­men, die zu Ge­hör ge­bracht wer­den müs­sen. Ná­das geht in sei­ner ti­ta­ni­schen Er­in­ne­rungs­tä­tig­keit von sich selbst aus, von ei­ge­nen Er­in­ne­run­gen, geht dann aber weit über sein in­di­vi­du­el­les Ge­dächt­nis hin­aus und gibt die münd­li­chen Er­zäh­lun­gen zahl­rei­cher Ver­wand­ter wie­der, ar­bei­tet dar­über hin­aus mit Ar­chiv­ma­te­ri­al, Ta­ge­bü­chern u. dgl. und setzt – das merkt man je­dem Satz an – sein ge­wal­ti­ges Vor­stel­lungs­ver­mö­gen ein. Pen­n­ac­chi hat da­ge­gen die Ge­schich­ten, von de­nen er er­zählt, gar nicht selbst er­lebt, ver­mut­lich aber Fa­mi­li­en­mit­glie­der und Be­kann­te be­fragt, Be­rich­te und Bü­cher ge­le­sen, denn er selbst, 1950 ge­bo­ren, war in La­ti­na auf­ge­wach­sen, der Haupt­stadt der Pon­ti­ni­schen Sümp­fe, die un­ter Mus­so­li­ni ur­bar ge­macht wur­den. Im Ver­gleich zu Auf­leuch­ten­de De­tails liest sich Ca­na­le Mus­so­li­ni mehr wie ein Ro­man mit Fi­gu­ren, die in dem ge­sell­schaft­li­chen und land­schaft­li­chen Raum le­ben, den er auf­baut, oh­ne daß man sich dau­ernd die Fra­ge stel­len müß­te, ob das al­les ei­ner Wirk­lich­keit ent­spre­che – ob­wohl die­se Sor­ge, der Wirk­lich­keit ge­recht zu wer­den, si­cher auch ein An­trieb für Pen­n­ac­chi war, viel­leicht so­gar der we­sent­li­che.

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Wel­ten und Zei­ten VII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Es gibt ein Er­zäh­len oh­ne Fik­ti­on. Selbst­ver­ständ­lich. Wahr­schein­lich ist Fik­ti­on die spä­te­re Er­fin­dung, er­zählt wur­de seit Men­schen­ge­den­ken. Man kann nicht le­ben oh­ne Er­zäh­lung, des­we­gen brauch­te Ro­bin­son sei­nen Frei­tag. Aber viel­leicht trifft die­se Aus­sa­ge über­haupt nicht zu und bei­des, Er­zäh­len und Fik­ti­on, ist gleich­ur­sprüng­lich. Wenn er­zählt wird, wird auch ge­lo­gen, selbst dann, wann der Er­zäh­ler nichts als die Wahr­heit im Sinn hat.

All die vie­len zeit­ge­nös­si­schen Er­zäh­ler, die nichts er­fin­den oder vor­ge­ben, nichts zu er­fin­den. Die Rei­se­be­richt­erstat­ter, Re­por­ter, Bio­gra­phen, Do­ku­men­tar­schrift­stel­ler. Hi­sto­ri­ker wie Ju­les Mi­che­let, die Ge­schich­te in Ge­schich­ten er­zäh­len. Die Den­kend-Er­zäh­len­den, Es­say­isten à la Mon­tai­gne. In un­se­ren Brei­ten, ich nen­ne nur zwei, aus der sel­ben Schul­klas­se (in Salz­burg) her­vor­ge­gan­gen, recht un­ter­schied­li­chen Na­tu­rells: Pe­ter Ste­phan Jungk und Karl-Mar­kus Gauß.

Da­ge­gen je­ne, die sich ver­krampft um Fik­ti­on be­mü­hen. Als wä­ren Er­fin­dun­gen bes­ser als die Wirk­lich­keit. Da­ge­gen das – auch nicht sehr tief­grün­di­ge – Bon­mot, die Wirk­lich­keit sei phan­ta­sti­scher als die Pro­duk­te der Phan­ta­sie. »Kannst ned er­fin­den.«

Jean Paul, noch ein­mal: zu prall sein Sack – der Sprach­sack näm­lich, wo die Rea­li­en eher spär­lich sind. Zu we­nig Lee­re in den Er­zäh­lun­gen; zu we­nig Luft, zu we­nig Schwei­gen. Zu ba­rock? Die wah­ren Er­zäh­ler sind – Bo­la­ño sprach von Luft­poe­ten, ich möch­te, im hie­si­gen Kon­text, sa­gen: – die wah­ren Er­zäh­ler sind Aereo­nar­ra­to­ren. Wie hei­ßen sie? Ei­ni­ge ha­be ich schon ge­nannt.

Hier noch ein Na­me: Die Er­zäh­lun­gen des Dich­ters Dy­lan Tho­mas sind Schnitz­wer­ke der Sprach­kunst, und zu­gleich las­sen sie, nein, schaf­fen sie Luft­räu­me gleich je­nen Leer­stel­len in ei­ner gu­ten fran­zö­si­schen Ba­guette. Das könn­te ein Ide­al des Er­zäh­lens sein.

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Wel­ten und Zei­ten III

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»Die Wahr­heit der Lü­gen«: mit die­sem viel­leicht doch et­was bil­li­gen Pa­ra­dox im Buch­ti­tel faß­te Ma­rio Var­gas Llosa einst sei­ne Es­says zur Li­te­ra­tur zu­sam­men. Fik­ti­on ist et­was Ähn­li­ches wie Lü­gen, aber doch nicht ganz, denn der Lüg­ner gibt vor, die Wahr­heit zu sa­gen, der Ro­man­cier aber nicht, je­den­falls sagt er sie nicht un­mit­tel­bar mit sei­nen Er­fin­dun­gen. Al­len­falls tut er das in ei­nem tie­fe­ren Sinn, wo im­mer der lie­gen mag. So auch Var­gas Llosas in sei­nen ei­ge­nen Ro­ma­nen, die dem Le­ser die Il­lu­si­on »le­bens­na­her« Fi­gu­ren und Hand­lun­gen zu ver­mit­teln su­chen, was ih­nen auch her­vor­ra­gend ge­lingt, zum Bei­spiel in dem groß­an­ge­leg­ten und groß­ar­ti­gen Ge­spräch in der Ka­the­dra­le, wo sehr viel schwa­dro­niert wird.

In ei­nem wört­li­che­ren Sinn ar­bei­te­te der Ar­gen­ti­ni­er Ma­nu­el Pu­ig mit Lü­gen. Aber auch bei ihm wä­re nach­zu­fra­gen: Wel­che Art von Lü­gen sind das? Sehr oft kei­ne Lü­gen im stren­gen Sinn, son­dern Il­lu­sio­nen, Aus­weich­ma­nö­ver ge­gen­über Tat­sa­chen, Angst vor de­ren Fol­gen, wenn man ih­nen ins Au­ge blickt. Es sind Selbst­täu­schun­gen, klei­ne Be­trugs­ma­nö­ver, ein Klam­mern an den ver­meint­li­chen Sinn (des Le­bens usw.). Und oft auch Ideo­lo­ge­me, mehr oder min­der bil­li­ge Über­zeu­gun­gen, ver­mit­telt durch Mas­sen­me­di­en, durch Pop­kul­tur, durch – in Ar­gen­ti­ni­en – schmal­zi­ge Tan­gos und auch durch Li­te­ra­tur, vor al­lem durch tri­via­le, die dem Mas­sen­pu­bli­kum sei­ner­zeit, als es noch kein Fern­se­hen gab, aus dem Ra­dio zu­ström­te.

Aber wie kann sich dann in Li­te­ra­tur Wahr­heit zei­gen? Zum Bei­spiel durch Col­la­ge, durch die Viel­falt der Stim­men, die sich be­geg­nen und über­la­gern, durch die Äqui­di­stanz des Er­zäh­lers oder des Au­tors, der sich nicht ein­mischt, son­dern die Stim­men ne­ben- und ge­gen­ein­an­der­stellt. Ge­nau dar­in be­steht sei­ne Kunst und sein Wahr­heits­an­spruch. Ein sehr spe­zi­fi­scher, künst­le­ri­scher Wahr­heits­an­spruch. Pu­igs Ro­man – La traición de Ri­ta Hay­worth, zu deutsch (wenn ich nicht ir­re): Der schön­ste Tan­go der Welt – ist wahr, weil gut ge­macht.

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