Wel­ten und Zei­ten VII

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Es gibt ein Er­zäh­len oh­ne Fik­ti­on. Selbst­ver­ständ­lich. Wahr­schein­lich ist Fik­ti­on die spä­te­re Er­fin­dung, er­zählt wur­de seit Men­schen­ge­den­ken. Man kann nicht le­ben oh­ne Er­zäh­lung, des­we­gen brauch­te Ro­bin­son sei­nen Frei­tag. Aber viel­leicht trifft die­se Aus­sa­ge über­haupt nicht zu und bei­des, Er­zäh­len und Fik­ti­on, ist gleich­ur­sprüng­lich. Wenn er­zählt wird, wird auch ge­lo­gen, selbst dann, wann der Er­zäh­ler nichts als die Wahr­heit im Sinn hat.

All die vie­len zeit­ge­nös­si­schen Er­zäh­ler, die nichts er­fin­den oder vor­ge­ben, nichts zu er­fin­den. Die Rei­se­be­richt­erstat­ter, Re­por­ter, Bio­gra­phen, Do­ku­men­tar­schrift­stel­ler. Hi­sto­ri­ker wie Ju­les Mi­che­let, die Ge­schich­te in Ge­schich­ten er­zäh­len. Die Den­kend-Er­zäh­len­den, Es­say­isten à la Mon­tai­gne. In un­se­ren Brei­ten, ich nen­ne nur zwei, aus der sel­ben Schul­klas­se (in Salz­burg) her­vor­ge­gan­gen, recht un­ter­schied­li­chen Na­tu­rells: Pe­ter Ste­phan Jungk und Karl-Mar­kus Gauß.

Da­ge­gen je­ne, die sich ver­krampft um Fik­ti­on be­mü­hen. Als wä­ren Er­fin­dun­gen bes­ser als die Wirk­lich­keit. Da­ge­gen das – auch nicht sehr tief­grün­di­ge – Bon­mot, die Wirk­lich­keit sei phan­ta­sti­scher als die Pro­duk­te der Phan­ta­sie. »Kannst ned er­fin­den.«

Jean Paul, noch ein­mal: zu prall sein Sack – der Sprach­sack näm­lich, wo die Rea­li­en eher spär­lich sind. Zu we­nig Lee­re in den Er­zäh­lun­gen; zu we­nig Luft, zu we­nig Schwei­gen. Zu ba­rock? Die wah­ren Er­zäh­ler sind – Bo­la­ño sprach von Luft­poe­ten, ich möch­te, im hie­si­gen Kon­text, sa­gen: – die wah­ren Er­zäh­ler sind Aereo­nar­ra­to­ren. Wie hei­ßen sie? Ei­ni­ge ha­be ich schon ge­nannt.

Hier noch ein Na­me: Die Er­zäh­lun­gen des Dich­ters Dy­lan Tho­mas sind Schnitz­wer­ke der Sprach­kunst, und zu­gleich las­sen sie, nein, schaf­fen sie Luft­räu­me gleich je­nen Leer­stel­len in ei­ner gu­ten fran­zö­si­schen Ba­guette. Das könn­te ein Ide­al des Er­zäh­lens sein.

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Zur gü­ti­gen Aus­lö­schung

Delfi 02
Del­fi 02

Es muss­te ja so kom­men. Nach der an­spre­chen­den Aus­ga­be 01 mit zwei her­aus­ra­gen­den Tex­ten wirkt die zwei­te Aus­ga­be von Del­fi eher ma­ger. Wo­bei man in­di­rekt beim The­ma die­ses Hef­tes ist: Fleisch. Fleisch sei, so klin­gelt es im Edi­to­ri­al der Her­aus­ge­ber Fat­ma Ay­d­emir, Hen­g­ameh Yag­hoo­bi­fa­rah, En­ri­co Ip­po­li­to und Miryam Schell­bach, »in Wort und Sub­stanz fos­si­les Be­geh­ren. Es ist Ver­füh­rung und Pro­jek­ti­ons­flä­che.« Fleisch ist dem­nach nicht nur »ein Stück Le­bens­kraft« (© CMA-Wer­bung 1967ff), son­dern »schafft Sinn­lich­keit«. Und wei­ter heißt es, leicht heid­eg­gernd: »Fleisch ist…die Leit­me­ta­pher für den wo­gen­den, tä­ti­gen, sor­gen­den Leib der Be­ru­hi­gung, wir drücken uns an Brü­ste und le­gen den Kopf auf Schö­ßen ab.« Wie pro­gres­siv Kitsch for­mu­liert sein kann.

Mir hin­ge­gen fiel zu­nächst nur der Film von Rai­ner Er­ler aus 1979 mit dem Ti­tel Fleisch ein, in­dem es um Or­gan­han­del ging, und mit ihm be­gann die sehr lan­ge kol­por­tier­te Fa­ma vom ge­kid­napp­ten Mann aus dem Au­to oder vor dem Su­per­markt, der Stun­den spä­ter mit ei­ner gro­ßen Nar­be und oh­ne ei­ne Nie­re in ir­gend­ei­ner Ka­schem­me auf­wacht. Und nun al­so Fleisch als Mot­to, was, wenn man es nicht wüss­te, wäh­rend der Lek­tü­re ei­ni­ger­ma­ßen über­rascht. Zwar gibt es hier und da ei­ni­ge fleisch­li­che, zu­meist ho­mo­ero­ti­sche Epi­so­den (sie sind meist ähn­lich lang­wei­lig wie die Schil­de­run­gen he­te­ro­se­xu­el­len Ak­tio­nen in der deut­schen Li­te­ra­tur; wer will, kann das bei Rai­ner Mo­ritz nach­schla­gen), aber die wir­ken zum Teil ein biss­chen pflicht­schul­dig, et­wa in der Ge­schich­te um den Tod ei­ner Groß­mutter (Bur­çin Te­tik mit Se­hers Gar­ten) und den Evo­ka­tio­nen der Er­zäh­le­rin von ih­ren di­ver­sen Som­mern in Groß­mutter-Gar­ten. War­um frau dort nicht nä­her drauf- oder bes­ser noch: auf­ge­schaut hat? Die­se Groß­mutter hat mich so­fort in­ter­es­siert; sie starb viel zu früh. Scha­de.

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