Man nennt es »Miranda-Urteil« oder einfach nur »die Rechte«. In Hunderten von Krimis wurden sie dem scheinbar oder tatsächlich überführten Mörder vorgelesen. Sie beginnen mit »Sie haben das Recht zu schweigen…«. Das Recht, die Aussage zu verweigern, ist ein essentielles Recht eines Verdächtigen oder Angeklagten. Mit dem Schweigen verhindert er unter anderem, sich in Widersprüche zu verwickeln, die dann als Hebel der Beweisführung gegen ihn dienen könnten, was sich im zweiten Satz zeigt: »Alles was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden«. Da das Recht zu schweigen auch bedeutet, dass man auf Aussagen zur Entlastung verzichtet, gehen Laien zumeist davon aus, dass Schweigen einem Tat-Eingeständnis gleich- oder mindestens nahekommt.
Auch Christian Wulff muss dieser Meinung sein. Nicht, dass er bei seinem Prozess geschwiegen hat. Aber im Prozess ging es nicht um das, was ihn nach wie vor umtreibt: Die Medienkampagne gegen ihn und gegen seine damalige Frau Bettina. Christian Wulff schweigt dazu nicht. Er schreibt darüber ein Buch. Dabei hat er womöglich den zweiten Satz seiner Rechte nicht bedacht.
Der Elder Statesman
Wulff tastet sich in dem Buch an die Kampagne um seinen Rücktritt als Bundespräsident heran. Dabei wechselt er ständig zwischen der Betrachtung der diversen Phasen des Skandalons und seiner politischer Biographie. Bei letzterem verfällt er schnell in einen salbungsvoll-pastoralen Elder-Statesman-Ton. Politik mache ihm »Freude« liest man da und wir erfahren, er führe seine Herde lieber von hinten (wie er es von Nelson Mandela gehört habe). »Ich habe schon immer gern unterschiedliche Menschen zusammengeführt und motiviert« steht da und der Käse ist dann endgültig geschmolzen. Von seiner Zeit als Ministerpräsident schwelgt Wulff in den höchsten Tönen. Selbstlob ist durchaus seine Sache. Dass aus der geplanten feindlichen Übernahme von VW durch Porsche der Volkswagen-Konzern gestärkt herausging, bucht er großzügig auf seine Seite. Bemerkenswert sein Politikverständnis dieses Amtes. Als demokratisch gewählter Politiker sieht er es als seine Aufgabe an, Unternehmen »Hilfe auf dem Weg zu neuen Absatzmärkten« zu leisten. Vielleicht kann mir jemand diese Stelle in der niedersächsischen Verfassung einmal zeigen? Ich habe nur §37 Absatz 1 gefunden und dort steht unter anderem: »Die Ministerpräsidentin oder der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.«. Sogar der Bundespräsident ist für Wulff neben seinen repräsentativen und protokollarischen Pflichten hauptsächlich dazu da, »den Zusammenhalt und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesellschaft« zu fördern. Somit hatte die Bullshit-Phrase »Wettbewerbsfähigkeit« mit Wulff Einzug ins Bellevue und in das Amt des Bundespräsidenten gehalten.