AUFZEICHNUNGEN ZU DER SCHRIFTSTELLERIN MARIANNE FRITZ (1948 – 2007)
- ANLÄSSLICH EINER GEMEINSAMEN LESEREISE IM HERBST 19781
Erster Eindruck: lieb und meschugge. Die Besessene, von der Schreibarbeit Aufgefressene. Sie spricht Dialekt, hat darüber hinaus einen Sprachfehler: Betroffen vor allem die gutturalen Laute. Und das L.
Brillenträgerin. Großer Brillenrahmen.
Im Drehturmrestaurant bemerkt sie zunächst nicht, daß es sich dreht, versteht also nicht, wieso sich die Aussicht immer wieder verändert.
Klaus Kastberger, der in diesem Jahr 60 Jahre alt wird, bekam unlängst (verdientermaßen) den Österreichische Staatspreis für Literaturkritik zugesprochen. Niemand, der sich mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur beschäftigt, kann auf Dauer dem quecksilbrigen Geist Kastbergers entkommen. Als ordentlicher Professor der Karl-Franzens-Universität in Graz steht er nicht nur am Katheder, sondern kuratiert Lesungen, Diskussionsveranstaltungen und Symposien, moderiert zusammen mit Daniela Strigl eine Literaturshow mit dem zukunftsweisenden Titel Roboter mit Senf, begibt sich in die Niederungen der Literaturkritik, stellt und entfacht literarisch-ästhetische Debatten und sitzt in diversen Jurys. Rechtzeitig zur Leipziger Buchmesse mit ihrem Schwerpunkt Österreich präsentiert der Sonderzahl-Verlag in einem schick designten Buch (die Haptik des Covers!) zehn Aufsätze zur österreichischen Literatur unter dem zünftigen Titel Alle Neune. Das Paradoxon wird rasch aufgelöst. Neun österreichische Autorinnen und Autoren werden werkgenetisch skizziert. Ein weiterer Text widmet sich einer (informellen) Autorengruppierung. Die Auswahl der Schriftsteller orientiert sich an den Forschungsschwerpunkten des Autors in den letzten Jahren. Erschienen sind die Texte zwischen 2009 und 2021 in Büchern, Festschriften oder als Symposiumspublikationen. Für Alle Neune wurden sie noch einmal »gründlich überarbeitet«, was man auch an den Anmerkungen sieht, die als rote Marginalien gesetzt wurden, für die in die Jahre gekommene Leser wie ich zwar eine Lupe benötigen, aber das macht nichts.
Der Band beginnt lebhaft mit dem »letzte[n] Mohikaner des sechsfachen Daktylus«, Anton Wildgans. Dieser sei zu Recht vergessen, so spottet Kastberger und am Ende des Aufsatzes glaubt man ihm. Man lernt, dass Wildgans’ Kunst unter anderem darin bestand, »aus der Plattitüde eine Attitüde zu machen«. Die urteilstützende Referenz auf Karl Kraus, der Wildgans nicht mochte, erscheint hingegen nicht zwingend, denn Kraus mochte à la longue niemanden (und vice versa). Interessanter ist die Beschäftigung mit Richard Billinger, zu dem Kastberger zusammen mit Daniela Strigl 2014 ein Symposium veranstaltete. Zunächst als expressionistischer Lyriker begonnen und sich im Umfeld von Carl Zuckmayers »Henndorfer Kreis«, entschied er sich in den 1930er Jahren zum »Reichsbauerndichter« der Nazis zu werden. Billinger wurde 1932 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet und schrieb nicht nur dem Blut und Boden-Denken verhaftete, beliebte Stücke sondern auch Drehbücher, wie zum Beispiel für Veit Harlans Die goldene Stadt von 1942.
Kastberger zitiert aus einer »Homestory« des späteren Feuilletonchefs und Chefredakteurs der Wochenzeitung Die Zeit, Josef Müller-Marein, der 1937 neben seinen Texten zum Völkischen Beobachter für ein Medium mit dem Namen Lokal Anzeiger den körperlichen Hünen Richard Billinger besuchte und seine Dichter-Inszenierungen verbreitete. Spätestens mit Zuckmayers Einordnungen im sogenannten Geheimreport, ist deutlich, dass Billinger ein »parfümierter Großstädter« war, »der in seinem Werk den Bauern nur spielte«. Dass Billinger bei den Nazis reüssieren konnte, war eigentlich ungewöhnlich. Denn er war 1935, zwei Jahre vor Müller-Mareins Inauguration, wegen seiner Homosexualität für mehrere Wochen inhaftiert und ins Konzentrationslager Dachau verbracht worden. Einigen Funktionären war er deswegen dauerhaft ein Dorn im Auge, aber seine Popularität schütze ihn und er erhielt in den 1940er Jahren weitere Preise, bevor er dann nach dem Krieg dem Vergessen übergeben wurde.
Vor wenigen Wochen wurde die österreichische Schriftstellerin und Dramatikerin Elfriede Jelinek 76 Jahre alt. Mit wohltuender Anlasslosigkeit kommt nun ein Film der Berliner Dokumentarfilmerin Claudia Müller mit dem schönen Titel »Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen« in die Kinos. Müller ist durch ihre Fernseharbeiten u. a. über Jenny Holzer, Katharina Grosse und ...
Der erste Appetit scheint gestillt. Die Postillen wenden sich vorübergehend wieder anderen Themen zu. Mindestens eine entblödete sich nicht vom »Inzest-Monster« zu sprechen. Ausgerechnet sie, die einen ganzen Schwarm von Lügenmonstern beschäftigen, mit ihrem Mentor Kai Diekmann. Ich spreche von Deutschland; das österreichische Mediengewitter habe ich nicht mitbekommen. Vielleicht ist das gut so.
Ich stelle die These auf: Sie haben Josef F. gebraucht. Nein: Sie brauchen ihn. Immer noch. Sie verzehren sich nach ihm. Wenn es ihn nicht gäbe – so verrückt und lügnerisch können sie gar nicht sein, ihn zu erfinden. Sie freuen sich, dass jemand ein noch schlimmerer Mensch ist, als ihre Phantasie es hätte erfinden können. Sie suhlen sich im Elend seiner Opfer. Sie weiden sich an ihnen und verbrämen dies mit einem schmierigen Betroffenheitstheater.
Ein österreichisches Gericht beging einen Lapsus. Es nannte Josef F.s Frau in einem öffentlichen Dokument nicht Rosemarie, sondern »Maria«. Welch’ ein Witz: Josef und Maria in Amstetten. Ihr Kind hat nun gelitten. Es hat für uns gelitten. Für unsere Sensationsgier. Zu unserem Plaisir. »Thrill« nennt man das im Englischen. Und jetzt müssen sie alle noch einmal leiden. Mit dem Attributgewitter der üblichen Verdächtigen.