Ver­beu­gung

Merk­wür­dig, wie manch­mal Wer­bung doch wirkt. Frei­lich meist an­ders, als es be­ab­sich­tigt ist. Neu­lich fuhr ich an ei­nem rie­si­gen Pla­kat vor­bei, wel­ches ge­mäß CDU mich an­lei­ten soll, die­se Par­tei zu wäh­len. Wohl­stand ist nicht selbst­ver­ständ­lich steht dar­auf. Aber den Satz ha­be ich gar nicht mit­be­kom­men. Ich nahm nur den Men­schen im Blau­mann wahr, der vor ...

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Jer­zy Jedlicki: Die ent­ar­te­te Welt

Jerzy Jedlicki: Die entartete Welt
Jer­zy Jedlicki: Die ent­ar­te­te Welt

Jer­zy Jedlicki, Jahr­gang 1930, Hi­sto­ri­ker an der Pol­ni­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und spe­zia­li­siert auf Ideen­ge­schich­te, hat mit der Auf­satz­samm­lung »Die ent­ar­te­te Welt« ein auf­schluss­rei­ches Buch vor­ge­legt. Sein de­tail­rei­cher, aber nie er­drücken­der Blick auf die Ideen­ge­schich­te des 19. Jahr­hun­dert bis zum Er­sten Welt­krieg, spe­zi­ell auf die De­ge­ne­ra­ti­on d’an­g­lai­se, de­ren Schil­de­rung mehr als die Hälf­te des Bu­ches aus­füllt, ist er­fri­schend un­auf­ge­regt. Da wird nicht in je­dem drit­ten Satz ei­ne Kon­ti­nui­tät in das 20. Jahr­hun­dert hin­ein kon­stru­iert, be­haup­tet oder nach­ge­wie­sen. Jedlicki baut auf die ge­schichts­be­wuss­te Kom­pe­tenz des Le­sers und des­sen Fä­hig­keit, Fä­den auf­zu­neh­men und ggf. wei­ter­zu­spin­nen oder zu ver­wer­fen.

Und wenn er – wie im Vor­wort – die Brücke zur Neu­zeit schlägt und fest­stellt, dass der Be­griff der »Kri­se« heu­te gna­den­los über­stra­pa­ziert wird und da­durch sei­ne kla­ren se­man­ti­schen Kon­tu­ren ver­liert, kommt dies nie als pri­mi­ti­ves Zeit­geist­bas­hing da­her – eher im Ge­gen­teil. Jedlicki zeigt spe­zi­ell am Bei­spiel Eng­lands und Frank­reichs, dass un­ge­fähr seit der in­du­stri­el­len Re­vo­lu­ti­on par­al­lel zu den en­thu­si­as­mier­ten, teil­wei­se fu­tu­ri­stisch oder an­ders­wie ideo­lo­gisch be­ein­fluss­ten Fort­schritts­gläu­bi­gen und –hö­ri­gen he­te­ro­ge­ne Ge­gen­be­we­gun­gen her­vor­tre­ten, die in ei­ner Mi­schung zwi­schen hi­sto­risch ar­gu­men­tie­ren­dem Ge­schichts­pes­si­mis­mus, ver­zwei­fel­ten Re­stau­ra­ti­ons­be­mü­hun­gen (ins­be­son­de­re der Ro­man­ti­ker, die Jed­lin­ki als Ge­gen­auf­klä­rer be­greift und mit de­nen er ver­gleichs­wei­se scharf ins Ge­richt geht) und ni­hi­li­sti­schen Welt­un­ter­gangs­pro­phe­zei­un­gen das mehr oder we­ni­ger bal­di­ge En­de der Zi­vi­li­sa­ti­on und/oder Kul­tur be­fürch­ten (ge­le­gent­lich auch her­bei zu be­schwö­ren schei­nen).

Der »Dis­kurs über die Kri­se« be­ginnt mit der Auf­klä­rung

Zwar wird auf ho­hem Ni­veau die prak­tisch seit Exi­stenz der Schrift­kul­tur mess­ba­re Zi­vi­li­sa­ti­ons­kri­tik in vie­len (west­li­chen) Kul­tu­ren er­läu­tert, Jedlicki plä­diert aber nach­drück­lich für ei­ne kla­re zeit­li­che Ab­gren­zung des Dis­kur­ses über die Kri­se. Von dem Zeit­punkt an, als die Men­schen auf den Ge­dan­ken kom­men und das Be­wusst­sein ent­wickeln selbst ih­re Ge­schich­te [zu] ma­chen, al­so in dem Mo­ment, als die Ver­ant­wor­tung des Men­schen­ge­schlechts oder zu­min­dest sei­ner auf­ge­klär­ten Füh­rer für die­se Zi­vi­li­sa­ti­on und für Eu­ro­pa an­er­kannt wird, be­ginnt das, was er zu­sam­men­ge­fasst Degeneration…der Fort­schritts­idee nennt.

Die­se be­ginnt al­so mit der Auf­klä­rung (und dem da­mit ver­bun­de­nen suk­zes­si­ven Zu­rück­wei­chen der Re­li­gio­nen) En­de des 18./Anfang des 19. Jahr­hun­derts. Sie ist un­wei­ger­lich mit der zu­neh­men­den, spä­ter ra­sant sich ent­wickeln­den In­du­stria­li­sie­rung ver­bun­den, dem me­cha­ni­schen Zeit­al­ter, und wird durch sie be­feu­ert. Ei­ner der er­sten, die im Men­schen das »ent­ar­te­te Tier« sa­hen, war Rous­se­au. Auch für Schil­ler galt die »gei­sti­ge Auf­klä­rung« be­reits als Ver­derb­nis. Für an­de­re war der Mensch des Fort­schritts ei­ne »mo­ra­lisch recht pri­mi­ti­ve Spe­zi­es« mit »schier un­glaub­li­chem« – pri­mär de­struk­tiv emp­fun­de­nen – »Po­ten­ti­al«.

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