
Anfang des Jahres konnte man in einem britischen Artikel einiges über die Ursachen des Bedeutungsverlusts der deutschen Gegenwartsliteratur lesen. Ein Argument war, dass es kaum noch zeitgenössische deutsch(sprachig)e Autoren gebe, die übersetzt würden (gemeint war natürlich die Übersetzung ins Englische). Nachträglich stellt sich heraus, dass mindestens eine deutsche Autorin übersehen wurde, die seit Jahren fleißig übersetzt wird. Der englische Wikipedia-Artikel weist 22 Sprachen aus, was höchst beachtlich ist. Nahezu alle Prosa von und ihre vier Theaterstücke sind zeitnah ins Englische übersetzt worden.
Die Autorin heißt Jenny Erpenbeck, wurde 1967 in Ost-Berlin geboren und gewann vor einigen Wochen für ihren 2021 erschienenen Roman Kairos den International Booker-Prize. Es ist nicht so, dass Erpenbeck in Deutschland unbekannt wäre – die Reihe ihrer Preise und Auszeichnungen ist ansehnlich, darunter der Thomas-Mann- und der Internationale Stefan-Heym-Preis. 2015 stand Erpenbeck auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ehrlicherweise muss man aber zugeben, dass das Feuilleton bisher nicht unbedingt sehnsüchtig ihre neuen Romane und Erzählungen erwartet hat. Die Ausnahme ist Volker Weidermann, der seit mindestens vier Jahren regelmäßig erklärt, dass Erpenbeck bald den Literaturnobelpreis erhalten wird. Ansonsten sind die Rezensionen zumeist wohlwollend bis freundlich; Verrisse gab es selten. Die aufmerksamkeitsfördernden und allseits angesehenen deutschen Literaturpreise hat Erpenbeck allerdings noch nicht bekommen.
Gilt also abermals, dass die Prophetin nichts im eigenen Land gilt? Und ist es ein deutsches Spezifikum, dass eine Autorin, die international Erfolge vorweisen kann, nicht gefeiert, sondern mit selbstgefälliger Arroganz, in der auch eine gewisse Portion Neid mitschwingen dürfte, bedacht wird? So verfasste Ilko-Sascha Kowalczuk einen diffus anklagenden, fast zornigen Text, der vermutlich entstand, weil sich Erpenbeck in Interviews über ihre mangelnde literarische Anerkennung in Deutschland beklagt hatte (den Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland erhielt sie immerhin bereits). Es würden, so soll sich Erpenbeck geäußert haben, zu wenige ostdeutsche Juroren in den Jurys sitzen. Kowalczuk bekennt mit gönnerhafter Attitüde, er lese Erpenbecks »Schreibe« »nicht ungern«, um dann seine Vorbehalte mit Erpenbecks Sozialisation in der DDR zu begründen. Etliche »ostdeutsche« Preisträger würden zudem der These widersprechen, dass es nicht an den Jury-Besetzungen liegen würde und suggeriert zwischen den Zeilen, dass die Zurückhaltung mit einer gewissen »Ostdeutschtümelei« in Erpenbecks Literatur zu tun haben könnte, einer »Sehnsucht nach dem Gestern«. Dass auch andere preisgekrönte Autoren aus der ehemaligen DDR gibt, die ostalgisch schreiben, wird nicht thematisiert.
Erpenbeck sei in eine kommunistische Familie hineingeboren worden, Eltern und Großeltern hätten für DDR-Verhältnisse in einer »Parallelwelt« Privilegien gehabt, so Kowalczuk, der auch noch gleich eigene Erlebnisse einbringt, die einen großen Kontrast zu denen der Erpenbecks darstellen. Weil Erpenbecks DDR-Bild nicht dem (wohl begründbaren) Verdammungsurteil entspricht und sich die Autorin entgegen den Usancen des Literaturbetriebs über mangelnde Wertschätzung beklagt hat, sieht sich ein seriöser Autor genötigt, eine Schriftstellerin – ja, was?, zu maßregeln? Es geht also nicht um Literatur, sondern um eine abstruse Form von Sippenhaft. Grund genug für mich, der außer Erpenbecks Text vom Bachmannpreis 2001 noch nie etwas von ihr gelesen hatte, jetzt Kairos, das ausgezeichnete Buch, zu lesen.