Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑7/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Salzburg, auf dem Mönchsberg. Hier soll vor Jahren ein berühmter Epiker gewohnt haben. © Leopold Federmair
Salz­burg, auf dem Mönchs­berg. Hier soll vor Jah­ren ein be­rühm­ter Epi­ker ge­wohnt ha­ben. © Leo­pold Fe­der­mair

Schluß. Mei­ne ab­ge­bro­che­nen Lek­tü­ren woll­te ich doch un­ter den Tep­pich keh­ren. Bes­ser, du machst mal halt und blickst zu­rück (auf die­sen Rück­blick hier). Die Re­de ist da nur von Er­zähl­li­te­ra­tur, fast al­les Ro­ma­ne. Da­bei ha­be ich doch auch Es­says ge­le­sen, nicht nur von Fo­ster Wal­lace, auch von Ol­ga Mar­ty­n­o­va und Tho­mas Stangl. Mon­tai­gne, den le­se ich so­wie­so im­mer, mei­ne Bi­bel, die es­sais. Auch so­ge­nann­te Sach­li­te­ra­tur, Grund­fra­gen der Ma­schi­nen­ethik zum Bei­spiel, die Na­men von Sach­buch­au­to­ren ver­ges­se ich mitt­ler­wei­le fast aus­nahms­los. Und Ge­dich­te? Ich ge­hö­re zu de­nen, die die Ly­rik für den Kern des Pla­ne­ten Li­te­ra­tur hal­ten: ein hei­ßer, glü­hen­der Kern, der in der Epik manch­mal Erup­tio­nen zei­tigt; em­ble­ma­tisch in Bo­la­ños Wil­den De­tek­ti­ven. Ri­car­do Pi­glia hat so gut wie gar kei­ne Ge­dich­te ge­schrie­ben – nur ei­nes, im Traum:

Soy
el equi­li­bri­sta que
en el ai­re ca­mi­na
de­s­cal­zo
sob­re un alambre
de púas

Ich bin
der Seil­tän­zer der
in der Luft geht
oh­ne Schu­he
auf dem
Sta­chel­draht

– aber 2008 zur Er­öff­nung der Buch­mes­se in Bue­nos Ai­res sag­te er in sei­ner (wie üb­lich im­pro­vi­sier­ten) Re­de, in den ei­li­gen Zei­ten, in de­nen wir heu­te leb­ten, sei die Dich­tung ei­ner der we­ni­gen Räu­me, in de­nen man ei­ne ei­ge­ne Zeit­lich­keit ent­fal­ten kön­ne. Und er wi­der­sprach Ador­nos Ver­dikt, nach Ausch­witz sei das Schrei­ben von Ge­dich­ten bar­ba­risch (die Über­lie­fe­rung trans­por­tiert das Ad­verb »un­mög­lich«, doch Ador­no hat­te »bar­ba­risch« ge­schrie­ben, fast so, als mach­te sich ein Dich­ter al­lein durch sein Da­sein mit der Na­zi-Bar­ba­rei ge­mein): Die ar­gen­ti­ni­sche Er­fah­rung nach »un­se­rem klei­nen Ausch­witz« zei­ge, daß dies sehr wohl mög­lich sei, sag­te Pi­glia und ver­wies auf Ju­an Gel­man1 und Leó­ni­das Lam­bor­ghi­ni. »Wir, die Er­zäh­ler«, fuhr Pi­glia fort, »brin­gen den Dich­tern Hoch­ach­tung ent­ge­gen, weil sie mit Spra­che in Rein­kul­tur ar­bei­ten.«

Wei­ter­le­sen ...


  1. Diese Mitteilung verbanne ich in die Fußnote, weil die Fülle des Getanen, Gelesenen, Geschriebenen langsam ein bißchen angeberisch wirkt; andererseits gehört das halt alles zum Bericht, dessen Teile sich wechselseitig erhellen sollen: Kürzlich habe ich zwei Gedichte von Gelman für eine zweisprachige Anthologie spanischer und lateinamerikanischer Dichtung übersetzt, und vor einigen Jahren auch einen ganzen Gedichtband, der bisher – auf deutsch – nicht veröffentlicht ist. Von Gedichten bin ich umgeben, mehr als von Romanen, Erzählungen oder Essays. Mit den Gedichten lebe ich. Freilich, sie lassen mir auch keine Ruhe, treten nicht so zurück in ihre Schlafkammer wie, zum Beispiel, die ersten beiden Bände der Suche nach der verlorenen Zeit. Man liest öfter und genauer, es kommt zu Verschiebungen und Überlagerungen des Sinns. So daß wir beim Übersetzen manchmal zu zweifeln beginnen: Was steht hier: amo oder amor, zwei grundverschiedene Wörter, grundverschiedene Bedeutungen. Herr oder Liebe? Mit Susanne Lange, einer großartigen Übersetzerin, der wir u. a. den neuen deutschen Don Quijote verdanken, tausche ich mich jetzt gerade darüber aus. Übersetzen ist ein genaueres, eindringliches, schöpferisches Lesen.