Josef Braml: Die transatlantische Illusion
»Die transatlantische Illusion« von Josef Braml war bereits vor dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine ein Bestseller. Der Verlag legte Anfang März mit einer zweiten, aktualisierten Auflage nach, in der das Ereignis vom 24. Februar eingearbeitet wurde. Braml wird als Generalsekretär der »Trilateralen Kommission« vorgestellt, einer sogenannten Denkfabrik (»Thinktank« – böse übersetzt mit »Denkpanzer«), der – wie dies mit den meisten Organisationen dieser Art so üblich zu sein scheint – einige Mythen ob ihrer Auswirkungen und Dimensionen anhaften.
Entgegen der Erwartung, die man nach dem Vorwort an den Titel hegt, geht es allerdings nicht nur um Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Erfolg des Buches dürfte sich auch der dezidiert kritischen Sicht auf die USA verdanken. In fast beschwörendem Ton wird ausgeführt, dass sich Europa nicht länger der »transatlantischen Illusion« hingeben dürfe. Die USA, so die These, werden in naher Zukunft nicht mehr als »Schutzmacht« für »Sicherheit und Wohlstand der Alten Welt« zur Verfügung stehen, weil sich der geostrategische Fokus auf den Indo-pazifischen Raum, insbesondere, China konzentriere. Aber eben auch, weil die Vereinigten Staaten selber nicht mehr eine stabile Macht darstellen.
Als Beleg hierfür wird der »amerikanische Patient« einer genauen Untersuchung unterzogen. Nichts wird ausgelassen. Etwa die unzulässigen außenpolitischen Einmischungen seit den 1950er Jahren vor allem in Südamerika (Guatemala, Chile) und im Nahen und Mittleren Osten (von Mossadegh/Iran 1953 bis in die Gegenwart). Als Tiefpunkt wird der völkerrechtswidrige und mit Lügen unterfütterte Irakkrieg 2003 herausgestellt. Immerhin würden die Affären und Missgriffe der Außenpolitik im Nachhinein mindestens teilweise öffentlich aufgearbeitet – anders als etwa in Diktaturen.
»Future War«, das Buch dreier Militärstrategen, erstmals 2021 publiziert und jetzt in deutscher Übersetzung vorliegend, bekommt durch die russische Invasion in die Ukraine zusätzliche Relevanz. Die Lektüre ist beunruhigend, ernüchternd und anstrengend, aber auch lohnend.
Zwei Tage vor der Invasion russischer Truppen in die Ukraine erschien das Buch »Future War – Bedrohung und Verteidigung Europas« in deutscher Sprache. Geschrieben wurde es von den beiden ehemaligen US-Generälen John R. Allen und Frederick Ben Hodges sowie dem britischen Militärhistoriker Julian Lindley-French. Die deutsche Übersetzung stammt von Bettina Vestring (der man aus vielen Gründen ein großes Lob zollen muss). Der Verlag weist zu Recht auf die traurige Aktualität des Buches hin, welches, so Klaus Naumann, ehemaliger General und Generalinspekteur der Bundeswehr, in glücklicheren Zeiten geschrieben worden sei. Tatsächlich erschien »Future War« 2021 in der »Oxford University Press«. Die Lektüre zerstreut den Eindruck rasch, damals seien wesentlich glücklichere Zeiten gewesen.
Die Kernthesen des Buches sind schnell umrissen: Erstens erfordert die Verteidigung Europas im zukünftigen Krieg ein neues, umfassendes Sicherheitskonzept, in dem individuelle Sicherheit und nationale Verteidigung miteinander harmonieren. Beide sind unverzichtbar für eine neue Art von Abschreckung, die sich im komplexen Mosaik der Hybrid‑, Cyber- und Hyper-Kriegsführung bewähren muss. Zweitens haben die neuen Technologien zur Folge, dass sich die Führung moderner Kriege – und folglich auch die europäische Verteidigung – von Grund auf verändert.
Leider sind, so die immer wiederholte Prämisse, diese Entwicklungen durch die Covid-19-Pandemie insbesondere in Europa, aber auch in den USA, aus dem Fokus geraten. Die Staaten hätten, wie es leicht vorwurfsvoll – vor allem in Richtung Deutschland – heißt, in der Pandemie lieber in individuelle menschliche Sicherheit als in nationale Verteidigung investiert. Dabei ist die Pandemie nur ein Beschleuniger einer europäischen Bräsigkeit hinsichtlich der Verteidigungsbereitschaft zu verstehen. Die Autoren sprechen von einem schwindelerregenden Niedergang Europas seit 2010. Es werden vier globale Megatrends genannt, die Europas Niedergang noch beschleunigen könnten: Der Klimawandel (und die hieraus entstehende Massen-Migration), der demografische Wandel (aussterbende Gesellschaften), Wasser- und Ressourcenknappheit (bzw. strategische Abhängigkeiten zu Staaten wie Russland und China) und die Verschiebung wirtschaftlicher und militärischer Macht in Richtung Asien.
Überbeanspruchung der USA
Während die USA sich vor allem von Chinas zunehmenden Aggressionen im südpazifischen Meer (insbesondere um Taiwan herum) zu konzentrieren hat und den Blick auf die Krisensituationen im Mittleren Osten legt, glauben die Europäer immer noch, sich im Zweifel auf den, wie es bisweilen polemisch heißt, amerikanischen Steuerzahler verlassen zu können. Dabei dürfte bei einer Gleichzeitigkeit mehrerer Konflikte den USA rasch die Ressourcen ausgehen und ihre Prioritäten nicht mehr in Europa zu finden sein.
Vor einigen Tagen publizierte ein gewisser Lijian Zhao einen Tweet, in der eine Karte mit den Ländern gezeigt wurde, die, so heißt es dort, gemeint seien, wenn von der »internationalen Gemeinschaft« die Rede sei. Der sarkastische Ton ist für einen Chinesen ungewöhnlich, zumal es sich um den stellvertretenden Generaldirektor der Informationsabteilung des chinesischen Außenministeriums handelt. ...
Von Hiroshima über Taipei nach Wien zu fliegen, lag eigentlich nahe; ich weiß nicht, warum ich nicht früher auf diese Idee gekommen war. Vielleicht wegen der Animositäten gegen China – nur die China Airlines bieten diese Flugverbindung an –, die in der japanischen Bevölkerung immer noch verwurzelt sind, so auch bei meiner Frau, und die von entsprechenden Animositäten auf der chinesischen Seite genährt werden (und umgekehrt). Gespräche mit einer aus Taiwan stammenden Studentin, die meinen Unterricht an der Universität Hiroshima besuchte, weckten mein bis dahin allenfalls latentes Interesse an dem Land.
Wir fuhren also, meine elfjährige Tochter und ich, eines Morgens zum Flughafen, mit dem Taxi, da schwere Unwetter und Erdrutsche die Bahngeleise weggeschwemmt hatten, und stiegen ins Flugzeug der China Airlines, wobei ich vor der Tür noch einmal zwei Schritte zurück machte, um mir eine der auf dem Serviertischchen liegende englischsprachige Zeitung zu nehmen: die Taipei Times. Das Flugzeug war spärlich besetzt, die Flugzeit betrug zweieinhalb Stunden, ich hatte alle Ruhe und Zeit der Welt, um das nicht sonderlich umfangreiche Druckwerk durchzulesen. Auf Seite 3, taiwanesische Innenpolitik, stieß ich auf einen Artikel mit der Überschrift ‘Ocean’ Bravo the Bear mascot draws criticism. Innenpolitik?, dachte ich. Das Foto daneben zeigte einen weißbärtigen kahlhäuptigen Mann, der neben zwei anderen Personen mehr oder weniger fortgeschrittenen Alters an einem langen Tisch mit weißem Tischtuch saß und in ein rotes Mikrophon hineinsprach. Auf dem Tisch, am linken Fotorand, waren vier bläulich-schwarze Plüschbären aufgehäuft, sie trugen einen gelben Knopf an einem weißen Streifen, Halsband oder Fell, das war nicht auszumachen. Ich begann zu lesen, und es stellte sich heraus, daß es ein höchst ernsthafter Artikel war. Das Problem, von dem er handelte (Zeitungsartikel handeln naturgemäß von Problemen), bestand darin, daß die Kulturabteilung der Stadtregierung von Taipei beschlossen hatte, das Design des Maskottchens »Bravo the Bear« zu ändern. Dieses Maskottchen – das vom Foto, der Knopf an seinem Bauch stellte eine Goldmedaille dar – war bei der Bevölkerung von Taipei sehr beliebt, wie Shih Ying, der Präsident der Humanistic Education Foundation, betonte. Stiftung für humanistische Erziehung, dachte ich, was für ein ehrwürdiger Name! Solche Änderungen, sagte Shih Ying der Zeitung zufolge, würden nicht hingenommen werden, würde man sie an der Mona Lisa vornehmen. Er meinte die echte Mona Lisa, die im Pariser Louvre ausgestellt ist. Derselbe Name, Mona Lisa, wurde vom taiwanesischen Volksmund Bravo the Bear verliehen, weil er ein so schönes Lächeln zeige; Mona Lisa war gewissermaßen zum Spitznamen – oder Künstlernamen – des Bären geworden. Aber warum hatte die Stadtregierung das Aussehen der Mona Lisa von Taipei verändert? Der Präsident der Humanistischen Gesellschaft sprach von Verblendung und Arroganz der Mächtigen. Eine weitere Erklärung, sozusagen der Hintergrund der Geschichte, den die Artikelschreiber beisteuerten, lag darin, daß es Probleme mit den Markenrechten gab, die die Kulturabteilung durch kleine Änderungen – ein ozeanblaues Näschen anstelle des schwarzen – elegant zu umgehen versuchte. Einen solchen Angriff auf ihr geistig-künstlerisches Eigentum, dachte ich den Gedanken Shihs fortspinnend, einen solchen Angriff würde sich die echte Mona Lisa niemals gefallen lassen. Die Gesellschaft zur Rettung der Universiade-Version von Bravo the Bear hatte eine Petition verfaßt, die nicht nur von zahllosen Bürgern der Stadt, sondern auch von bekannten taiwanesischen Spitzensportlern unterschrieben worden war (von Künstlern war in diesem Zusammenhang leider nicht die Rede). Das Maskottchen war ursprünglich für die Sommeruniversiade entworfen worden, die 2017 in Taipei stattgefunden hatte.