»Die transatlantische Illusion« von Josef Braml war bereits vor dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine ein Bestseller. Der Verlag legte Anfang März mit einer zweiten, aktualisierten Auflage nach, in der das Ereignis vom 24. Februar eingearbeitet wurde. Braml wird als Generalsekretär der »Trilateralen Kommission« vorgestellt, einer sogenannten Denkfabrik (»Thinktank« – böse übersetzt mit »Denkpanzer«), der – wie dies mit den meisten Organisationen dieser Art so üblich zu sein scheint – einige Mythen ob ihrer Auswirkungen und Dimensionen anhaften.
Entgegen der Erwartung, die man nach dem Vorwort an den Titel hegt, geht es allerdings nicht nur um Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Erfolg des Buches dürfte sich auch der dezidiert kritischen Sicht auf die USA verdanken. In fast beschwörendem Ton wird ausgeführt, dass sich Europa nicht länger der »transatlantischen Illusion« hingeben dürfe. Die USA, so die These, werden in naher Zukunft nicht mehr als »Schutzmacht« für »Sicherheit und Wohlstand der Alten Welt« zur Verfügung stehen, weil sich der geostrategische Fokus auf den Indo-pazifischen Raum, insbesondere, China konzentriere. Aber eben auch, weil die Vereinigten Staaten selber nicht mehr eine stabile Macht darstellen.
Als Beleg hierfür wird der »amerikanische Patient« einer genauen Untersuchung unterzogen. Nichts wird ausgelassen. Etwa die unzulässigen außenpolitischen Einmischungen seit den 1950er Jahren vor allem in Südamerika (Guatemala, Chile) und im Nahen und Mittleren Osten (von Mossadegh/Iran 1953 bis in die Gegenwart). Als Tiefpunkt wird der völkerrechtswidrige und mit Lügen unterfütterte Irakkrieg 2003 herausgestellt. Immerhin würden die Affären und Missgriffe der Außenpolitik im Nachhinein mindestens teilweise öffentlich aufgearbeitet – anders als etwa in Diktaturen.
Braml spricht von einer »Macht ohne Moral«, die ausschließlich ökonomischen und imperialistischen Zielen orientiert und überall das »Recht des Stärkeren« – also das der USA – durchgesetzt habe bzw. durchsetzen will. Die Liste ist lang. Am Internationalen Strafgerichtshof beispielsweise beteilige sich die USA nicht. Über die Manifestierung des US-Dollar als weltweite Leitwährung hätten die Vereinigten Staaten jahrzehntelang die eigene Ökonomie am Laufen gehalten und auf Kosten anderer gelebt. Die Niedrigzinspolitik der Fed hält, so die These, den Status quo noch eine Zeit lang offen, aber der nächste Crash dürfte nur eine Frage der Zeit sein. Die Verbündeten behandele die USA oft genug nur als Vasallen (wobei diese Bezeichnung in Anführungszeichen gesetzt wird). Man zwinge sie über die NATO dazu, militärische Güter aus dem USA abzunehmen und hält damit die einheimische Rüstungsindustrie am Laufen. Die Verteidigungsausgaben der USA werden von Braml als verdeckte Industriepolitik ausgewiesen.
Auch im Außenhandel setze sich die USA über internationale Regeln hinweg, sabotiere die Schiedsstellen der WTO und setze sogar Verbündete bei der Abfassung von Handelsabkommen unter Druck. Selber ist man darauf bedacht, sich einseitig Vorteile zu verschaffen. Der Handelsprotektionismus Trumps wie auch die harte Politik gegenüber China würde von Biden weitergeführt. Den Protektionismus der EU blendet Braml sicherheitshalber aus. Vernichtend die Prognose, dass die USA ihre Schulden vermutlich nie mehr zurückzahlen könne. Mittels amerikanischer Hightech-Unternehmen spionierten die USA Politik und Wirtschaft anderer Staaten inklusive der Verbündeten für ihre eigenen Interessen aus. Die Wertmaßstäbe, die man an andere Nationen anlegt, erfüllt man selber nur dann, wenn es in das politische Konzept passt. Das begann nicht erst bei Donald Trump, der mit »America first« die eigenen Interessen absolut setzte. Allerdings, so könnte man einwenden, wird ein amerikanischer Präsident ja auch dafür gewählt.
Braml bestreitet, dass die USA und Europa (er meint damit meist die Europäische Union) noch genügend gemeinsame Interessen haben. Er bezieht sich hierbei nicht nur auf Trumps desaströse Äußerungen über das weitere Schicksal der NATO, sondern auch auf die das Diktum, die EU als ökonomischen Konkurrenten aufzufassen. Außenpolitisch hätte Trump die europäischen Versuche, den Iran von der Entwicklung zu Atomwaffen abzuhalten, durch die Kündigung des Abkommens sabotiert, was nicht im Interesse Europas gewesen war. Die Sabotage sei erfolgt, um die sich zwischen Europa und dem Iran anbahnenden Geschäftsverbindungen auszuhebeln. Seit dem Zweiten Weltkrieg, so die Bilanz Bramls, habe die USA insgesamt eine »Entmündigung Europas« betrieben. Das ist starker Tobak.
Die amerikanische Demokratie sei »im Innern existenziell bedroht« und tendiere zur »Anokratie«. Seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 wären aus Sicherheitserwägungen heraus sukzessive Bürgerrechte eingeschränkt worden; hier habe Obama wenig abgemildert. Mehrfach weist Braml auf die Gefahr einer erneuten Präsidentschaft Donald Trumps hin. Bisweilen wird er tendenziös. Im Epilog referiert er aus einem Buch der Politikwissenschaftlerin Barbara F. Walter. Vom Titel erwähnt er nur das, was in sein Szenario eines baldigen Bürgerkriegs innerhalb der USA passt: »How Civil Wars Starts«. Tatsächlich geht es aber noch weiter; der vollständige Titel lautet: »How Civil Wars Starts: And How To Stop Them«.
Der Autor zeichnet ein Besorgnis erregendes Bild der Supermacht USA. Es dient dazu, um die Notwendigkeit auf die Autonomie europäischer Interessen hinsichtlich der Verteidigungs‑, Sicherheits- und Außenpolitik zu belegen. Die USA, so die Arbeitshypothese, seien zukünftig weder in der Lage noch willens den militärischen Schutz innerhalb der NATO zu schultern. Braml stellt sogar den Zweitschlag-Willen der USA infrage, europäische Verbündete im Verteidigungsfall mit nuklearen Mitteln zu verteidigen.
Die USA habe, so die These, nach der Sowjetunion im Kalten Krieg mit China einen neuen Lieblingsfeind gefunden. Diese Sicht ist allerdings in höchstem Maße verharmlosend. Die militärischen Ambitionen Chinas im südchinesischen Meer und die hieraus für die USA entstehenden möglichen Konsequenzen sind manifest. Ein potentieller chinesischer Angriff auf Taiwan – von Xi Jingping nicht explizit ausgeschlossen – kommt in den Ausführungen des Autors merkwürdigerweise nicht vor. Über die Ansprüche mehrerer Staaten, vor allem jedoch Chinas auf die Spratly-Inseln, die einen strategischen Mehrwert in der Kontrolle wichtiger Schifffahrtsrouten bedeuten, erfährt der Leser ebenfalls nichts. Hier gibt es fast täglich Zusammenstöße auch in internationalen Gewässern, die China einfach für sich beansprucht. Immerhin bekommt man zu wissen, dass natürlich auch China die Regeln der WTO nicht einhält und mit ihren Subventionen den sogenannten freien Weltmarkt verzerrt. Amerikas Furcht vor der Ausspionierung westlicher Personen und Unternehmen durch eine Beteiligung von Huawei am europäischen 5G-Netz kontert Braml mit der NSA-Abhöraffäre der USA. Als würde das eine durch das andere aufgehoben.
Immerhin erfährt der Leser über die Bemühungen Chinas, der »Dollarfalle« zu entkommen, den Yuan als eine neue Leitwährung und gegen »SWIFT« ein neues Zahlungssystem »CIPS« zu implementieren. Dass all diese Maßnahmen nicht im Interesse der USA und auch des Westens sein können, dürfte eindeutig sein. Sie jedoch als rein ökonomische Projekte einzuordnen, verkennt die strategischen Absichten Chinas.
Zwar kommt die Invasion Russlands in die Ukraine in der neuen Auflage vor, aber die Intentionen Putins für diese Aggression hat Braml entweder nicht mitbekommen oder er ignoriert sie. Dabei liegen sie spätestens seit dem 21.02.2022 ziemlich offen auf dem Tisch. Stattdessen wird die lauwarme Argumentation der potentiellen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine (und Georgiens) gemäß einem Beschluss des G7-Treffens von 2008 aufgetischt. Dabei waren beide Länder noch nicht einmal in die erste Stufe, den »Membership Action Plan« (MAP), aufgenommen worden; ihnen war lediglich zugesichert worden, dass dies irgendwann der Fall sein werde. (Im MAP der NATO findet sich aktuell nur Bosnien-Herzegowina.)
Dass, wie Braml erläutert, das Schwarze Meer durch einen Beitritt der Ukraine zum »NATO-Meer« würde und dies für Russland inakzeptabel sein muss, ist zwar richtig, aber es ist ja nicht so, dass die Russische Föderation in den vergangenen vierzehn Jahren nicht ausreichende Möglichkeiten gehabt hätte, dies in geordneten diplomatischen Verhandlungen auszudrücken. Stattdessen begann 2014, sechs Jahre später, mit der Annexion der Krim und der Implementierung sogenannter »Volksrepubliken« im Donbass die Destabilisierung der Ukraine. Womöglich könnte man am Ende eher im Zögern der Aufnahme in den MAP die Ursache für den Krieg sehen. Eine Ukraine in der NATO hätte Putin kaum angegriffen.
Braml schlägt als ersten Schritt zur Lösung des aktuellen Konflikts vor, diese sehr vagen und seit 2008 nicht mehr weiterverfolgten Beitrittsmöglichkeiten der beiden Länder »als Ergebnis eines Prozesses, an dessen Ende eine neue Sicherheitsarchitektur steht« aufzugeben (wie Georgien dazu steht, scheint ihn gar nicht zu interessieren). Für den weiteren Umgang mit Russland findet er die sattsam bekannte Phrase: »Wandel durch diplomatische Annäherung und glaubwürdige militärische Abschreckung«. Es ist kaum etwas anderes von jemandem zu erwarten, der Angela Merkel eine »realistische Außenpolitik« bescheinigt. Man kann dem Autor höchstens zu Gute halten, dass er dies wohl vor Butcha und Mariupol geschrieben hat.
Die größte Gefahr sieht Braml darin, dass sich Russland zu sehr China zuwendet. Dass dies bereits durch gemeinsame Militärmanöver (u. a. Wostok-2018) und einem unlängst erst abgeschlossenen Freundschaftsvertrag gängige Praxis ist, wird nicht erwähnt. Tatsächlich erhält China durch die Sanktionen des Westens die Möglichkeit, Russland als billigen Rohstofflieferanten vorübergehend als eine Art »Tankstelle« zu benutzen (dabei dürften weit niedrigere Preise als die auf dem Weltmarkt erzielbaren gezahlt werden). Dies wird langfristig für Russland nicht unproblematisch sein. Interessant ist allerdings, dass am Ende des Buches noch als Möglichkeit erwogen wird, dass Washington irgendwann eine geostrategische Allianz mit Moskau eingehen könnte, um den chinesischen Einfluss zu reduzieren. Diese Volte, die aktuell in etwa so wahrscheinlich ist wie ein Meteoriteneinschlag auf der Erde, wird ohne weitere Erläuterung versehen.
Trotz oder gerade wegen ihrer Vormachtstellung in der NATO erscheint die USA also mittelfristig als unzuverlässiger Bündnispartner. Um seinen militärischen Schutz nicht von Wahlergebnissen aus den Vereinigten Staaten abhängig zu machen, plädiert Braml für eine eigenständige Europäische Sicherheitspolitik. So weit, so gut. Hierzu rekurriert er auf eine Rede des französischen Staatspräsidenten Macron vom 7. Februar 2020, in dem er sich unter anderem offen zeigt, andere EU-Staaten unter dem nuklearen Schutzschild der »Force de frappe«, der französischen Atomstreitmacht, aufzunehmen. Braml empfiehlt dies für Deutschland. Der angenehme Nebeneffekt wäre, dass deutsche »Sonderwege« ausgeschlossen wären. Auch ein typisch deutscher Einwand; außerhalb Deutschlands befürchtet dies kaum noch jemand seriös. Die deutsch-französische Achse innerhalb der Europäischen Union könnte, so die Annahme, in diesem Bereich voranschreiten und mit der Zeit würden sich andere Länder anschließen.
Im Gegensatz zu John R. Allen, Frederick Ben Hodges und Julian Lindley-French, den Autoren von »Future War«, die die Europäer in der Verpflichtung sehen, eine starke konventionelle Streitmacht aufzubauen, möchte Braml dies auf die nukleare Bewaffnung ausdehnen. Damit wären die Europäer von der Verpflichtung »befreit«, amerikanische Militärgüter einzukaufen, um im Verteidigungsfall die »nukleare Teilhabe« durch die USA zu erhalten (d. h. konventionelle Waffen mit amerikanischen Nuklearwaffen zu bestücken, bspw. Flugzeuge). Ausdrücklich spricht Braml hier vom F‑35-Bomber, der den Europäern, so der Tenor, praktisch aufgedrängt würde.
Die Abkehr Europas von der nuklearen Teilhabe wäre zweifellos mehr als nur ein Affront gegenüber den Vereinigten Staaten. In der NATO würden Parallelstrukturen geschaffen. Eine Folge könnte sein, dass sie europäischen Waffensysteme unter Umständen nicht mehr mit den amerikanischen kompatibel wären. Überraschend die Aussage im Buch, dass das von der NATO ausgegebene 2%-Ziel nicht mehr für notwendig erachtet wird, weil es am Ende nur die amerikanische Rüstungsindustrie begünstige. Wie die eigenen europäischen Ambitionen bezahlt werden sollen, sagt Braml nicht.
Zwar wäre man unabhängiger von den Produkten der amerikanischen Rüstungsindustrie, aber es stellt sich sofort die Frage, wer in Europa die neuen Flugzeuge und Waffensysteme produzieren soll. Bisher war beispielsweise für den Flugzeugbau in Frankreich die »Dassault Aviation« federführend. Wie würde hier das Gemeinschaftsunternehmen »Airbus« eingebunden werden können? Schon jetzt werden die EU-weiten Ausschreibungsverfahren kritisch betrachtet.
Der innereuropäische Streit wäre vorprogrammiert. Es gibt schlichtweg nicht »die« europäischen Interessen; die einzelnen Staaten haben divergierende Sicherheits-Prioritäten. So sieht man die russische Bedrohung in Estland oder Polen stärker als vielleicht in Portugal. Und wie wäre ein griechisch-türkischer Konflikt in der Ägäis in einem EU-Verteidigungsbündnis zu händeln? Selbst zwischen Deutschland und Frankreich könnte es zu Divergenzen in Lagebeurteilungen und politischen Maßnahmen (wie bspw. Sanktionen) kommen. Wie sollen sich die heterogenen Länder der EU auf eine langfristig einheitliche Sicherheits- und Verteidigungslinie einigen, wenn sie noch nicht einmal in der Lage sind, einen einheitlichen Sitz für ihr Parlament festzulegen?
Vielleicht wäre es möglich, in Europa eine Art »verteidigungspolitischen Schengenraum« zu etablieren. Aber was geschieht, wenn in Frankreich demnächst rechts- oder linksextreme Kräfte in Regierungsverantwortung gewählt würden? Die Abhängigkeit von Wahlentscheidungen wäre nur verschoben. Ein zusätzlicher Fehler in diesen Überlegungen ist, dass Großbritannien in Bramls Szenario keine Rolle spielt; er bezieht sich ausdrücklich auf die EU-Staaten. Ließe man die Briten außen vor, würde dies zu einer engeren politischen und militärischen Verbindung zwischen den USA und Großbritannien führen (man denke an die seltsame Allianz beim Irakkrieg 2003).
Ein weiterer Punkt, der eine solche deutsch-französische Militärachse auf wenig Gegenliebe stoßen lässt, zeigt sich im Verlauf des Russland-Ukraine-Krieges. Die zögerliche Haltung Frankreichs und insbesondere Deutschlands bei den Lieferungen schwerer Waffen für die Ukraine und die Diskussion um die Definition der Kriegsziele innerhalb des »Westens« stehen im Kontrast zu den Unterstützungen durch Polen, den baltischen Ländern, Tschechiens und der Slowakei (von Großbritannien nicht zu reden). Eine deutsch-französische Führungsrolle in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas wäre für die ost- und mitteleuropäischen Staaten nach diesen Erfahrungen keine Alternative zum US-dominierten NATO-Bündnis.
Am Ende des Buches fasst Braml nochmal die bisweilen sehr ambitionierten Schritte zusammen, die seiner Meinung nach erforderlich sind. Viele davon sind durchaus vernünftig. Etwa die Möglichkeit, Euro-Anleihen auszugeben, um den Euro als eine der Leitwährungen zu etablieren. Oder die Schaffung von den USA unabhängiger Tech-Konzerne. Diese sollten dann allerdings tunlichst nicht als supranationale Unternehmen, die von Brüssel gelenkt werden oder auf Hilfen angewiesen sind, fungieren. Europa sollte bilaterale Handelsabkommen abschließen, zum Beispiel mit den MERCOSUR- oder ASEAN-Staaten, wobei dies andere Fragen aufwerfen würde (etwa inwiefern China über das RCEP-Abkommen Teil eines ASEAN-Kontraktes werden würde).
Zur Verharmlosung der chinesischen Ambitionen des Autors passt im übrigen auch seine Haltung zu CAI, dem Investitionsabkommen zwischen der EU und China, dessen Ratifizierung nicht zuletzt auch aufgrund von Bedenken des EU-Parlaments stockt. Braml fürchtet sich geradezu vor eine Art Rückabwicklung der Globalisierung. Hierbei wird nicht berücksichtigt, dass sich Unternehmen und ganze Staaten nicht nur hinsichtlich von Lieferketten sondern auch im Know-How von China fast abhängig gemacht haben. Statt von der Gefahr einer De-Globalisierung im Sinne Trumps zu reden, sollte man besser die Vokabel der »Chinaisierung« (»Future War«) verwenden, die in den letzten Jahren zu gefährlichen Abhängigkeiten in vielen Bereichen (Medizinprodukte; Rohstoffe; kritische Infrastruktur) geführt hat.
Manches ist eher Wunschdenken, Etwa wie man die USA gewinnen könnte, ihre Politik des sogenannten »schwachen Dollar« aufzugeben. Dabei ist allerdings schon die These fraglich, da der US-Dollar zwischen 2007 und 2015 – aus unterschiedlichen Gründen – gegenüber dem Euro weitaus schwächer war als heute. Hinzu kommt, dass ein schwacher Dollar Importe verbilligt.
Trotz der vorgebrachten Einwände liefert »Die transatlantische Illusion« einen ersten Einstieg in die Problematik einer dringend notwendigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Manchmal werden Lösungswege recht unausgegoren und handstreichartig präsentiert. So wenn man Ende mit einem Nebensatz die operativen Bedenken für eine zur Seite gewischt werden, in dem man einfach erklärt, das Einstimmigkeitsprinzip innerhalb der EU abzuschaffen. Vermutlich geht das. Allerdings nur – einstimmig. Da scheint die nächste, die europäische Illusion, vorprogrammiert.
Nur mit einem Fernrohr vom Mond aus (low resolution) kann ich Braml zustimmen. Ja, die transatlantische Illusion gibt es wirklich, sie ist Teil unserer Außen- und Sicherheitspolitik seit vielen Jahrzehnten. Die U.S.A. und die Europäer verfolgen zwei komplementäre Ziele; die Europäer priorisieren die Verteidigung, und die U.S.A verfolgen die Errichtung einer globalen Einflusssphäre. Beides richtet sich gegen Russland und China, aber dann scheiden sich auch schon die Geister. Die Außen- und Sicherheitspolitik findet keinen Eingang in die europäische Integration, – man verkauft nur die jeweilige aktuelle Verständigung als den immer neuen Beginn von etwas Großem. Das ist Rhetorik, mehr nicht. Wir beobachten schon lange drei Ebenen: die NATO als Ganzes, etwa im Verteidigungsfall 2001; dann die NATO als europäisch-amerikanischen Antagonismus (die Erweiterungsfrage 2008, und die unverblümte Aufschiebung); und die singuläre Verabredung auf regionale Einsätze (Mali, oder das Horn von Afrika), die Allianz der Freiwilligen. Ich würde jede Wette eingehen, dass das so bleibt. Warum?! Weil die Lage der Dinge kompliziert ist, und die Realität nicht auf unser Bedürfnis nach Vereinfachung reagiert. Allenfalls wird unsere Geduld am Ende sein, aber die Wirklichkeit macht so schnell nicht schlapp.
Die Globalisierung ist am Ende, soviel steht fest. Jedenfalls genau dasjenige Konzept der Globalisierung, das auf einen fairen Ausgleich aller friedlichen Interessen hinauslief, ohne kulturelle und strategische Aspekte zu würdigen. Imperative des einzig effizienten Wirtschaftssystems... Wandel durch Handel, war keine grundfalsche Logik, weil alle wirtschaftlichen Beziehungen auch Einstiegspunkte für subalterne Interessen sind. [Und wenn Frauen jemals abhängig von Männern waren, vergasen sie doch niemals, ihren Ernährern die Hölle heiß zu machen, wenn es sein musste.] In Deutschland entdeckt man gerade die »Abhängigkeit« als das wegweisende Axiom aus der Krise. Nie wieder Abhängigkeit, lehrt die Gender-Erfahrung, und von den Gesetzen der Physik wird man sich auch noch frei machen. Ich weiß nicht, ob die Naivität nicht schon immer der einflussreichste Berater im Westen war. Nach der Globalisierung kommt nach Niall Ferguson der neue Kalte Krieg, und die Ukraine ist sein erstes Opfer. Zwischen die Fronten geraten, oder stolz, genau im richtigen Moment der Weltgeschichte die Seiten zu wechseln?! So ganz und gar vorbehaltlos möchte ich mich der Werte-Rhetorik von Selenskji nicht anschließen, aber was ich denke, ist letztlich schnuppe, denn auf die schreckliche Lage der Dinge müssen sich vorallem die Ukrainer selbst einen Reim machen. Das wird schwer genug. Der Frieden wird die europäische Ordnung neu definieren, oder wie man in der Hauptstadt-Presse sagen würde, – der Sieg. Diese Kategorien fallen ja im Moment in eins, und Nuancen sind an der Heimatfront nicht gerne gelitten.
Das Buch von Braml kommt zu spät. Europa kann Verteidigung, aber die Ordnung von Räumen ist nicht unser Ding. Die deutsch-französische Achse ist m.M.n. eine Erfindung, so wie wenn man auf Verwandtengeburtstage fährt, und sich vorher einredet, dass man die Leute gern hat. Ich warte immer noch auf eine gute Erklärung, warum das nicht funktioniert. Ich meine, die Deutschen sind politisch gesehen natürlich absolut untalentiert, und bedürfen einer intelligenten Bevormundung, damit sie nicht auf »Sonderwege« geraten. Aber warum machen das die Franzosen nicht?! Ich glaube, sie mögen uns nicht.
Naja, die »Globalisierung« ist natürlich nicht »am Ende«. Es gibt sie übrigens seit vermutlich mehr als tausend Jahren – Handel findet schon sehr lange statt. Die Idee, dass Handel bzw. das globale Wirtschaften Kriege verhindert, wurde spätestens mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs ad absurdum geführt. 1914 war die Welt (besser: Inner-Europa und auch USA) vernetzter denn je. Auf die Verwandtschaftsgrade innerhalb der jeweiligen Regenten ist ja auch immer wieder verwiesen worden. Den Krieg hat es nicht aufgehalten. Fast könnte man sagen: gerade deswegen nicht – weil man an eine eher begrenzte, rasche »Reinigung« der Luft dachte. Der internationale Handel wird weitergehen. Aber die Idee, dass hieraus eine politische Zähmung entsteht – sie war schon seit hundert Jahren veraltert.
Die deutsch-französische Achse ist in der Tat so etwas wie ein Mythos. Sie bestand nur kurz; vielleicht zwischen Adenauer und de Gaulle und dann später noch einmal zwischen Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing. Ansonsten war diese Beziehung immer von diplomatischen, gegenseitigen Respekt geprägt. Mehr aber nicht. Die Franzosen lassen sich ungern in ihre Politik hineinreden – die Deutschen haben schlichtweg andere, rein ökonomische Interessen. Je mehr man diese Beziehung als »Motor« der EG bzw. EU heraufbeschworen hat, desto gequälter war die Praxis.
Natürlich sind die Deutschen, was strategische Politik jenseits reiner Exportökonomie angeht, Waisenknaben (nur einmal, das war die Entspannungspolitik von Brandt/Bahr, betrieb man Geopolitik). Sie haben schlichtweg keine Ahnung davon, überlassen gerne andere die »Führung«, die sie bei Bedarf dann mit dem Scheckbuch honorieren. Das wird sich nicht mehr ändern. Scholz’ Angst gegenüber Russland ist mit Händen zu greifen: Er fürchtet, dass Russland den Gashahn abdreht. Die SPD-Fraktion hängt dem Traumbild der 1980er Jahre an, als der Doppelbeschluss verhindert werden sollte. Sie haben es nicht verstanden; werden es nie verstehen. Die Lehren aus der Vergangenheit, die sie ziehen, sind dahingehend, dass man sich besser seinem Schicksal fügt. Das ist zwar ein Aberwitz, aber sehr bequem.
So ist denn die Ukraine weit weg. Das fatale Signal, welches dieser Kriegsausgang zeitigt, wird die Generation, die dies jetzt entscheidet, vermutlich nicht mehr berühren. Die Ukraine dient noch ein bisschen als Abnutzungsapparat der konventionellen Landstreitkräfte Russlands, damit ein Angriff auf andere Staaten (Moldawien etwa) erst einmal nicht mehr möglich erscheint. Das wird in ein paar Jahren der Fall sein – übrigens egal, wer dann in Russland im Kreml die Befehle gibt. Die europäische Sicherheitsarchitektur ist am Boden. Biden ist der letzte amerikanische Präsident, der sich noch ein bisschen für Europa interessiert. Egal, wer nachkommt: die USA werden sich zurückziehen; die NATO zum Papiertiger mit Abschreckungsplänen, die niemand mehr ernst nimmt.
[Bot, daher gelöscht – G. K.]
Nur ein bestimmtes Konzept von Globalisierung, welches das unipolare Moment der U.S.A. nach dem Ende des Kalten Krieges mitdenkt, wird momentan »gelöscht«. Die Abhängigkeiten verschwinden natürlich nicht.
Ich staune immer noch über die Große Illusion, die aus der Europäischen Einigung hervorging, eben diese kühne Vernachlässigung der Sicherheitspolitik aus der positiven Erfahrung der wirtschaftlichen Integration heraus. Man durfte annehmen, dass etwas Großes entsteht, das nach außen wirken würde. Die NATO als Bündnis sollte irgendwann einmal überschrieben werden, aber kaum je wurde vertieft nachgedacht. Braml versucht ja, die ganze Strecke nochmal abzulaufen, und findet nur Inkommensurabilitäten. Leider kann man daraus keine direkten Schlüsse ziehen.
Demokratien sind geopolitisch konservativ, das wurde übersehen. Das Narrativ, das diese kleinere Tatsache verdeckt, war die Möglichkeit, das rund um den Globus Demokratien aufwachsen könnten, die sich gegenseitig stützen. Aber dieses Narrativ ignoriert die allermeisten historisch-kulturellen Lokalitäten.
Ich sehe inzwischen ein klares Bestimmungsdreieck zwischen dem Wohlstand, der demokratischen Formation und dem Bedürfnis nach Sicherheit, das einer expansiven »Weltpolitik« das Wasser abgräbt. Niemand hat vor, sein Leben aufs Spiel zu setzen, und die Gasimporte stellt man in der Krise auch nicht gleich ab. Das ist rational, aber es definiert auch die Grenzen von Politik. Die Demokratien konvergieren zum Schwäche-Pol, trotz Bündnis, und die Diktaturen konvergieren zum Stärke-Pol, weil autark. Idealerweise werden also die Demokratien direkt und unmissverständlich von Diktaturen bedroht, so wie Israel. Dann wissen alle immer, was auf dem Spiel steht. Vielleicht liegt darin auch der Grund, warum Länder wie die Türkei beizeiten wieder mehr »Diktatur wagen«: der Wohlstand war nicht ausreichend, um die Leute davon zu überzeugen, dass man insgesamt auf dem richtigen Weg war...
Demokratien sind vor allem träge und je grösser der Wohlstand, desto träger die Bevölkerung und leider auch die Politik. Die Ost-Erweiterung der EU nebst Einführung des Euro waren politische Entscheidungen. In beiden Fällen hatte man die Wirkung auf andere Politikfelder unterschätzt. Zuerst flog uns der Euro um die Ohren (weil elementare wortschaftspolitische Daten nicht berücksichtigt worden). Und jetzt werden die Risse innerhalb der Gemeinschaft und auch der NATO deutlich. Zu heterogen die Interessenlage.
Nahezu jeder geopolitische Beobachter erkennt, dass die USA mittelfristig nicht mehr in der Lage ist, in Europa stabile sicherheitspolitische Verhältnisse glaubhaft aufrecht zu erhalten. Hinzu kommt noch die innenpolitische Lage in den Vereinigten Staaten: Es dürfte nach Biden ein Hang zum Isolationismus in Richtung Europa spürbar werden, weil China die grössere Gefahr darstellt. Kissingers Statement in Davos zielt darauf hin – aber da steht er nicht alleine. Europa sollte sich, so die Idee, mit Russland ins Vernehmen setzen und Einflusssphären akzeptieren. Auch Deutsch: Die Ukraine stört! Das sagt noch niemand, aber spätestens im Herbst, wenn in den USA Zwischenwahlen anstehen, will Biden etwas vorzeigen...
Die europäische und vor allem die deutsche Politik hatte in den letzten Jahrzehnten mehrfach zum »Technologietransfer« – zuerst mit Russland, dann mit China fast aufgefordert. Die Unternehmen sind gefolgt; und nun hängen wir in Lieferketten. Niemand bedachte dies; es lief zu gut. Ich glaube nicht daran, dass man dies signifikant verändern wird. Auch hier: Trägheit. Bis es wieder knallt.