»Denn tatsächlich ist es nicht möglich, längere Zeit zu gehen und zu denken in gleicher Intensität, einmal gehen wir intensiver, aber denken nicht so intensiv, wie wir gehen, dann denken wir intensiv und gehen nicht so intensiv wie wir denken…«, so Oehler, Thomas Bernhards Protagonist aus Gehen, aber da ist jemand, der damit nichts anfangen kann, und das ist Stefan Geyer. Er dockt eher bei Robert Walser, Carl Selig oder Erich Kästner an, bekennt, einst von einem Buch des Norwegers Erling Kagge zum Gehen angeregt worden zu sein und beschäftigt sich mit der »Spaziergangswissenschaft« von Lucius Burckhardt.
»Ich gehe, um zu gehen«, so lautet der oberste Grundsatz der Geh-Philosophie des ehemaligen Suhrkamp-Mitarbeiters, der mehr die Vokabel des Spazierens als die des Wanderns bevorzugt, auch wenn es schon mal 20 km sind, die da in und um Frankfurt herum zurückgelegt werden. Und das unabhängig vom Wetter; manchmal regnet es und gerade das motiviert ihn, auch, wenn er vielleicht mit einem Kater aufwacht. Dann findet sich bei ihm in den sozialen Netzwerken die fast meditative Eintragung à la »Schuhe schnüren, herumgehen, Kopf lüften« (im Sommer vielleicht noch ergänzt um ein »Hut auf«) – nicht selten, wenn man selber froh ist, bei diesem Wetter nicht vor die Tür zu müssen.
Der Extrakt seiner Spaziergänge liegt nun unter dem Titel Der Stadtwanderer vor, fünfzehn Texte mit Schilderungen durch bekanntes und unbekanntes Terrain, querstadtein durch Straßenzüge, Kleingartenanlagen, Einkaufspassagen, Feld- und Wiesenwege, irgendwann zwischen Ende 2021 und der unmittelbaren Gegenwart. Wer wie ich als gelegentlicher Buchmessenbesucher nur das Messegelände und die Gegend um den zur exterritorialen Drogenszene mutierten verwahrlosten Frankfurter Hauptbahnhof kennt, soll eines Besseren belehrt werden.
Anfang des Jahres konnte man in einem britischen Artikel einiges über die Ursachen des Bedeutungsverlusts der deutschen Gegenwartsliteratur lesen. Ein Argument war, dass es kaum noch zeitgenössische deutsch(sprachig)e Autoren gebe, die übersetzt würden (gemeint war natürlich die Übersetzung ins Englische). Nachträglich stellt sich heraus, dass mindestens eine deutsche Autorin übersehen wurde, die seit Jahren fleißig übersetzt wird. Der englische Wikipedia-Artikel weist 22 Sprachen aus, was höchst beachtlich ist. Nahezu alle Prosa von und ihre vier Theaterstücke sind zeitnah ins Englische übersetzt worden.
Die Autorin heißt Jenny Erpenbeck, wurde 1967 in Ost-Berlin geboren und gewann vor einigen Wochen für ihren 2021 erschienenen Roman Kairos den International Booker-Prize. Es ist nicht so, dass Erpenbeck in Deutschland unbekannt wäre – die Reihe ihrer Preise und Auszeichnungen ist ansehnlich, darunter der Thomas-Mann- und der Internationale Stefan-Heym-Preis. 2015 stand Erpenbeck auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ehrlicherweise muss man aber zugeben, dass das Feuilleton bisher nicht unbedingt sehnsüchtig ihre neuen Romane und Erzählungen erwartet hat. Die Ausnahme ist Volker Weidermann, der seit mindestens vier Jahren regelmäßig erklärt, dass Erpenbeck bald den Literaturnobelpreis erhalten wird. Ansonsten sind die Rezensionen zumeist wohlwollend bis freundlich; Verrisse gab es selten. Die aufmerksamkeitsfördernden und allseits angesehenen deutschen Literaturpreise hat Erpenbeck allerdings noch nicht bekommen.
Gilt also abermals, dass die Prophetin nichts im eigenen Land gilt? Und ist es ein deutsches Spezifikum, dass eine Autorin, die international Erfolge vorweisen kann, nicht gefeiert, sondern mit selbstgefälliger Arroganz, in der auch eine gewisse Portion Neid mitschwingen dürfte, bedacht wird? So verfasste Ilko-Sascha Kowalczuk einen diffus anklagenden, fast zornigen Text, der vermutlich entstand, weil sich Erpenbeck in Interviews über ihre mangelnde literarische Anerkennung in Deutschland beklagt hatte (den Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland erhielt sie immerhin bereits). Es würden, so soll sich Erpenbeck geäußert haben, zu wenige ostdeutsche Juroren in den Jurys sitzen. Kowalczuk bekennt mit gönnerhafter Attitüde, er lese Erpenbecks »Schreibe« »nicht ungern«, um dann seine Vorbehalte mit Erpenbecks Sozialisation in der DDR zu begründen. Etliche »ostdeutsche« Preisträger würden zudem der These widersprechen, dass es nicht an den Jury-Besetzungen liegen würde und suggeriert zwischen den Zeilen, dass die Zurückhaltung mit einer gewissen »Ostdeutschtümelei« in Erpenbecks Literatur zu tun haben könnte, einer »Sehnsucht nach dem Gestern«. Dass auch andere preisgekrönte Autoren aus der ehemaligen DDR gibt, die ostalgisch schreiben, wird nicht thematisiert.
Erpenbeck sei in eine kommunistische Familie hineingeboren worden, Eltern und Großeltern hätten für DDR-Verhältnisse in einer »Parallelwelt« Privilegien gehabt, so Kowalczuk, der auch noch gleich eigene Erlebnisse einbringt, die einen großen Kontrast zu denen der Erpenbecks darstellen. Weil Erpenbecks DDR-Bild nicht dem (wohl begründbaren) Verdammungsurteil entspricht und sich die Autorin entgegen den Usancen des Literaturbetriebs über mangelnde Wertschätzung beklagt hat, sieht sich ein seriöser Autor genötigt, eine Schriftstellerin – ja, was?, zu maßregeln? Es geht also nicht um Literatur, sondern um eine abstruse Form von Sippenhaft. Grund genug für mich, der außer Erpenbecks Text vom Bachmannpreis 2001 noch nie etwas von ihr gelesen hatte, jetzt Kairos, das ausgezeichnete Buch, zu lesen.
Mir hingegen fiel zunächst nur der Film von Rainer Erler aus 1979 mit dem Titel Fleisch ein, indem es um Organhandel ging, und mit ihm begann die sehr lange kolportierte Fama vom gekidnappten Mann aus dem Auto oder vor dem Supermarkt, der Stunden später mit einer großen Narbe und ohne eine Niere in irgendeiner Kaschemme aufwacht. Und nun also Fleisch als Motto, was, wenn man es nicht wüsste, während der Lektüre einigermaßen überrascht. Zwar gibt es hier und da einige fleischliche, zumeist homoerotische Episoden (sie sind meist ähnlich langweilig wie die Schilderungen heterosexuellen Aktionen in der deutschen Literatur; wer will, kann das bei Rainer Moritz nachschlagen), aber die wirken zum Teil ein bisschen pflichtschuldig, etwa in der Geschichte um den Tod einer Großmutter (Burçin Tetik mit Sehers Garten) und den Evokationen der Erzählerin von ihren diversen Sommern in Großmutter-Garten. Warum frau dort nicht näher drauf- oder besser noch: aufgeschaut hat? Diese Großmutter hat mich sofort interessiert; sie starb viel zu früh. Schade.
Natürlich ist das Cover eine Provokation. Der* ent_mündigte Lese:r steht dort. Drei Symbole der »Gendersprache« – Stern, Unterstrich, Doppelpunkt. Entweder oder. Hier alles auf einmal. »Für die Freiheit der Literatur« lautet der Untertitel. Dem Buch vorangestellt ist ein Auszug aus Kafkas Brief an Oskar Pollak, jene berühmte Stelle, in der er erklärt, wie ein Buch ...
Alexander Pechmann: Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Das Cover ist in existentialistischem Schwarz, zeigt zwei Hände, die ein aufgeschlagenes Buch halten. Ansonsten ist nichts menschliches zu sehen. Darüber steht der Titel Die Bibliothek der verlorenen Bücher und man fragt sich zunächst, ob es nicht eher die Suche nach dem verlorenen Leser ist, aber das täuscht.
Alexander Pechmann ist der Autor, er ist Übersetzer, Schriftsteller und Herausgeber und diese Vielseitigkeit merkt man diesem Buch an. Es beginnt mit einer Vorrede eines fiktiven, namenlos bleibenden »Unter-Unter-Bibliothekars«, einem einsamen Regalhüter der Bibliothek der nicht geschriebenen, verbrannten oder verlorenen Bücher. Man ist zunächst aufgeschreckt ob des plüschigen Conférenciertons, aber im Laufe der folgenden dreißig Aufsätze meldet sich der Bibliothekar glücklicherweise nur noch selten und wenn, dann eher als Botschafter der Möglichkeiten, denn er hat sie natürlich alle, diese geheimnisvollen, dem normalen Sterblichen verborgenen Werke der Weltliteratur.
Bisweilen gibt es einen kleinen Einblick in die verschollenen Manuskripte, so bei In Ballast to the White Sea von Malcolm Lowry oder dem Stück eines antiken Theaterdichters aus Abdera. Und manchmal greift der »Unter-Unter-Bibliothekar« auch in die Literaturszene ein, holt das ein oder andere Manuskript aus seinem Bestand und versteckt es derart, dass es irgendjemand dann überraschend »wiederfindet«, wie etwa Mary Shelleys Erzählung Maurice oder die Fischerhütte, eine Entdeckung von 1997, rechtzeitig zum 200. Geburtstag der Autorin.
Es gibt viele Gründe, warum Manuskripte und bisweilen Bücher auch bekannter Schriftsteller nicht (mehr) verfügbar sind. Hemingways frühe Aufzeichnungen gingen etwa auf einem Transport quer durch die Welt verloren; er hatte sich inzwischen weiterentwickelt und grämte sich kaum. Ähnlich wie bei T. E. Lawrence, der seine verschlampten Manuskripte zu Die sieben Säulen der Weisheit aus dem Gedächtnis rekonstruierte. Häufig fielen sie allerdings der Vernichtung durch den Autor selber zum Opfer, sei es aus politischen Gründen (von Protagoras zu Abdera über Dr. John Dee [Shakespeares »Prospero«-Vorbild], Dostojewski, Puschkin, einige von Thomas Manns Tagebüchern bis Blaise Cendars) oder weil der Verfasser nicht zufrieden war mit dem Geschriebenen und aus Wut, Selbsthass oder einfach nur zu viel Alkohol zum »Autodafé« schritt, wie beispielsweise Balzac bei seiner Erzählung Der Landarzt oder James Joyces Monumentalmanuskript Stephen Hero.
Mit den drei Stücken Reich des Todes, Baracke und Lapidarium, die im soeben erschienenen Band Lapidarium versammelt sind und der parallel dazu publizierten Textsammlung wrong beendet der Schriftsteller Rainald Goetz seine sechsteilige Schlucht-Reihe, jenen 2007 begonnenen »Versuch der Erkundung der Dunkelzeit der Nullerjahre«, bestehend aus »Klage, Tagebuchessay; loslabern, Bericht; Johann Holtrop, Abriß der Gesellschaft, Roman; ...
Christoph Ransmayr: Als ich noch unsterblich war
Eigentlich sind es dreizehn Erzählungen, die Christoph Ransmayr in seinem neuen Buch versammelt hat. Allesamt sind sie zwischen 1997 und 2018 publiziert worden und werden jetzt mit dem leicht-resignativen Titel Als ich noch unsterblich war endlich an einem Ort zusammengefasst. Wobei der abergläubische Autor in einem kleinen Vorwort von »12a« spricht, um diese ungeliebte Zahl zu vermeiden. Man kann allerdings auch einfach die Einleitung als 14. Geschichte lesen, zumal dort das Cover vom brennenden Schabrackentapir erläutert wird.
Ransmayr spricht in 12a von »Spielformen der Erzählkunst« und beweist in diesem Band seine Vielseitigkeit. Die Titelgeschichte, die den Band eröffnet, handelt von ihm als Kind, welches beim Essen der Buchstabensuppe durch die Mutter angelernt wird »mit einem Löffel voll Buchstaben…die Welt in der Hand« zu halten und sich dem »Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache etwas seltsam Friedliches« hinzugeben. Dieser paradiesisch anmutende Zustand kommt zu einem jähen Ende, als die Mutter »kaum sechzigjährig, an einem heißen Augusttag starb«. Auf dem Totenbett aus Verzweiflung nach Worten ringend, mahnte die Mutter ihren Sohn gestikulierend zur Stille. Ein bewegendes Bild.
Auch die an vorletzter Stelle wie beiläufig eingearbeitete Vatergeschichte An der Bahre eines freien Mannes ergreift den Leser. Karl-Friedrich Ransmayr wird hier als ein Wiedergänger von Michael Kohlhaas erzählt. Dabei klingt es zunächst mehr nach Bartleby. Ransmayrs Vater widerstand als Schüler dem Druck, auf eine Nazi-Eliteschule zu gehen und lehnte es später ab, die Offizierslaufbahn in der Wehrmacht einzuschlagen. »Ich wollte unter diesen Leuten nichts werden«, erklärte er hinterher. Nach dem Krieg wurde er Lehrer und engagierte sich ehrenamtlich, verfasste Eingaben und Gesuche »für Bauern, Handwerker, Gastwirte, Faßbinder und Schichtarbeiter«, schließlich stellvertretender Bürgermeister und vergab hemdsärmelig und unkonventionell Kredite an Kleingewerbetreibende. Seine Beliebtheit weckte Neider, man denunzierte ihn, Gelder veruntreut zu haben. Es wurde ermittelt, Karl-Friedrich Ransmayr »verlor seine Stelle als Oberlehrer, verlor alle seine Funktionen in den Vereinen des Ortes und natürlich auch seinen Rang als stellvertretender Bürgermeister«. Der Prozess ergab, dass er sich zwar nicht bereichert und der Gemeinde keinen Schaden zugefügt hatte, aber der juristische Tatbestand der Untreue blieb bestehen. »Aber Kohlhaas, mein Vater, wollte zum ersten Mal in seinem Leben keine Nachsicht, auch keine Milde, sondern Gerechtigkeit« und »weigerte sich, das Urteil anzunehmen.« Immerhin: »Nach fünf Jahren Nachtarbeit am Fließband der Papierfabrik« erfolgte die vollständige Rehabilitation. Dann starb seine Frau, Ransmayrs Mutter. Der Vater »lehnte…die Wiederaufnahme in die dörfliche Gemeinschaft ab« und organisierte sein Leben neu. Ein zärtlich-bewundernder Ton ist in dieser Erzählung eingewoben.
Eigentlich sind es zwei ganz unterschiedliche Geschichten, die der französische Schriftsteller Mathias Enard in seinem neuesten Roman erzählt. Und das spiegelt sich (absichtlich oder nicht?) bereits in der deutschen Übersetzung des Titels. Im Original heißt der Roman Déserter, in der deutschen Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller Tanz des Verrats. Zum einen handelt es ...