Bannmeilen – Einen Roman in Streifzügen nennt die seit vielen Jahren in Paris lebende Anne Weber ihr neues Buch. Nach dem »rückblickenden Vorspiel« folgen 18 Kapitel, in denen (bis auf eine Ausnahme) eine namenlos bleibende Ich-Erzählerin zusammen mit dem befreundeten Filmregisseur Thierry durch die Pariser Banlieues, die Vorstädte, streift. Genauer: Es ist das Départment Seine-Saint-Denis, ...
2019 gewann die 1982 geborene Kärntnerin Julia Jost im Klagenfurter Bachmannpreis-Wettbewerb für ihre Erzählung Schakaltal den Kelag-Preis (das war damals ähnlich einer Bronzemedaille). Normalerweise werden derart erfolgreiche Texte rasch in fertige Bücher überführt, aber bei Jost mussten potentielle Leser fast fünf Jahre warten, bis heuer der fertige Roman vorliegt. Er trägt den zunächst schrecklichen, nach ...
Schon seit vielen Jahren galt bei den britischen Buchmachern der norwegische Autor Jon Fosse zum erweiterten Kreis der möglichen Literaturnobelpreisträger. Im Herbst 2023 sanken die Quoten immer deutlicher, so dass sich die Überraschung bei der Verkündung dann in Grenzen hielt. Fosse hat rund 40 Theaterstücke verfasst, schreibt Gedichte, Prosa, Kinderbücher und Essays. Er schreibt in Nynorsk, einer im 19. Jahrhindert aus traditionellen Dialekten konzipierten Sprache, die heutzutage nur von einer Minderheit von etwa 10–15% verwendet wird (die »Buchsprache« in Norwegen ist Bokmål). Sein Werk wurde bereits vor dem Nobelpreis in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Fosse selber übersetzte zahlreiche Werke englisch- und deutschsprachiger Autoren, darunter Franz Kafka, Thomas Bernhard und Peter Handke ins Norwegische. Seit 2022 ist er Mitglied der Deutschen Akademie der Künste in Berlin.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten übersetzt Hinrich Schmidt-Henkel Fosses Bücher, die zu großen Teilen im Rowohlt-Verlag erschienen sind. Dort wurde im letzten Jahr der letzte Band seiner Heptalogie aufgelegt, allgemein als das Opus-Magnum Fosses bezeichnet. Das deutsche Feuilleton scheint Fosse allerdings den Nobelpreis nicht zu verzeihen. So konnte man neulich lesen, Fosse sei ein »Nobelpreisträger mit dem Rosenkranz-Tick«. Der Hang des Norwegers, seinen katholischen Glauben in einzelne Figuren und Handlungen einzubauen, wird pauschal als Interpretationsgerüst angeboten. Nun ist es fast unmöglich im sich progressiv gebenden, selbstgefälligen deutschen Literaturbetrieb mit dem Etikett des »christlichen« Autors auch nur annährungsweise zu reüssieren.
Lichtspiel ist von Daniel Kehlmann, hat fast 500 Seiten und ist ein Roman, genauer: eine spezielle Form von Künstlerbiographie. Im Zentrum steht der deutsche Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst (1885–1967), der sich irgendwann G. W. Pabst nannte. Seit den 1920er Jahren galt Pabst zusammen mit Fritz Lang, Ernst Lubitsch und Friedrich Wilhelm Murnau als einer der ...
»Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund.« Das ist der erste Satz dieses ungewöhnlichen Buchs mit dem Titel Ich? aus dem Jahr 1926, welches dankenswerter Weise nach fast einhundert Jahren wieder neu aufgelegt wurde. Es beginnt 1918 mit dem Ende des Krieges. Der Feldwebel Wilhelm Bettuch stolperte während des Rückzugs über die Leiche eines Doktor Hans Stern, eines »Gebildeten«. Fast ein bisschen schadenfroh, dass er, der Bäcker, im Gegensatz zum Arzt den Krieg überlebt hatte, nahm er den Pass des Toten reflexhaft an sich und schlüpfte mehr zerstreut als vorsätzlich geplant in die Rolle des Toten. Und so ertappte er sich dabei, nicht nach Frankfurt zurück zu fahren, zur Bäckerei seiner Mutter, sondern nach Berlin, wo Dr. Stern als Chirurg praktizierte und mit Frau Grete, dem kleinen Sohn und Hund Nero lebte.
Wie selbstverständlich wurde Wilhelm von Grete als Hans freudig empfangen und »ein blauer Strahl von unsäglicher Zärtlichkeit glänzte aus ihren Augen, und während Träne auf Träne unaufhaltsam über die Wange tropfte, öffneten sich die Lippen feucht und weich zu unlöslichem Kuss.« Er kann sein Glück nicht fassen, »es war alles Traum, ein Glück wie in der Luft, das gab es, man durfte nicht aufwachen, man musste sehr leise sein«. Er, der in der Schule unter seinem Namen gelitten hatte (»…in der Pause standen sie um mich, zogen mich an der Hose, an der Jacke, am Hemd. Bettuch, Tüchlein!«), gibt sich dieser wunderbaren Frau hin, die ihn liebt, »ich kann doch nichts dafür, dass ich schwach bin, dass ich sie liebe, ja, damals schon, sofort, ich sah ihr Gesicht und liebte sie und hatte keine Kraft, ihr zu sagen, dass ich es ja gar nicht war, dass sie einen anderen meinte mit ihren Küssen, einen andern liebte, einen andern, einen andern!«
Auch der stille Verehrer Gretes, Staatsanwalt Sven Borges, und die Freundin der Familie, Bussy Sandor, bemerkten nicht, dass ihnen ein anderer gegenüber stand. Nur der Hund biss ihn zur Begrüßung ins Bein. Insgesamt fügt sich Wilhelm problemlos ein. Nur manchmal kommt er sich wie Kaspar Hauser vor, »aus einem dunklen Keller, ich sehe Licht zum ersten Mal, zum ersten Mal einen Baum, eine Wolke, einen Stein, einen anderen Menschen, eine Frau, meine Frau, die Erinnerung kommt ganz langsam, man muss mir sehr viel Zeit lassen, ich bin wie krank, ich sehe alles ganz neu, ich erlebe alles zum ersten Mal.« In Bezug auf Grete entwickelt er, wie er erfährt, eine ähnliche Eifersucht wie Hans. Und er entdeckt »hinter der weißen Stirn« seiner Frau ihre »kleine Seele, krank«, sie »blutet aus tausend Wunden.« Groß die Überraschung als Bussy ihn in einem stillen Augenblick heimlich zu sich bestellte: Der Herr Doktor hatte ein Verhältnis mit ihr.
Auch als Arzt kam Wilhelm überraschend gut zurecht. Er nahm nach seiner Rückkehr die Arbeit sofort wieder auf, führte sogar eine Blinddarmoperation durch, freilich nicht ohne darüber nachzudenken, warum es diesen unnützen Appendix überhaupt gibt. Man setzt ihn als Gerichtsgutachter ein, schickt eine Blutprobe. Es soll untersucht werden, ob das Blut von der Angeklagten stammt oder, wie diese behauptet, von einem Hund. Mord oder Unfall? Eine einfache Untersuchung; er weiß sofort, was zu tun ist. Und das Ergebnis ist eindeutig.
Als er den Gerichtssaal betrat, staunte er nicht schlecht: Die Angeklagte war Emma Bettuch, seine Schwester, auch sie erkannte ihn, seinen Bruder, nicht und dieser hörte ihre Geschichte, ihre Reise nach Berlin, um Geld für die kranke Mutter zu verdienen, die Anstellung als Dienstmagd, die Aussicht, noch mehr als den Lohn zu erhalten, wenn sie sich dem Gutsherren hingeben sollte, was sie tat, »sie war beschmutzt, entehrt«, aber »es gab kein Geld«, und dann ihre Geschichte von diesem Hund, der den Mann in die Kehle gebissen hätte. Wilhelm/Hans wusste es besser, er wusste, es war Mord, aber er sagt etwas anderes, der Staatsanwalt, Sven Borges, der sich als Freund eingeschmeichelt hatte, gerät in Rage, aber »es ist alles gut, das Mädchen ist frei, sie geht schwankend hinaus, Emmchen, im Vorbeigleiten sehe ich ihre Züge, sie blickt mich an, sieht sie mich, mich, mich selbst?«
2012 glänzte Maja Haderlap mit Engel des Vergessens Leser und Kritik. Hier erschrieb eine Autorin mit Leichtigkeit und Strenge ein immergültiges Denkmal über ihren Vater, der Großmutter und zugleich den Kärntner Slowenen, diesen »vielfach Versehrten«. Das Buch beeindruckte in seiner Vielschichtigkeit als Dorf- und Landschaftserzählung, Bildungsroman, Geschichtsbeschreibung und spannte einen epischen Bogen in die Familie der Erzählerin. Und nun also, vielfach erwartet, ja ersehnt, nach mehr als zehn Jahren Nachtfrauen, der neue Roman.
Nachtfrauen ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil, der ziemlich genau zwei Drittel des Buches einnimmt, erzählt aus personaler Sicht von Mira, die in heikler Mission zu ihrer Mutter nach Kärnten fährt. Mira ist Kärntner Slowenin, lebt aber seit ihrem Studium in Wien, wurde widerwillig zu einem »Stadtmenschen«. Sie arbeitet als Fachreferentin im Kulturbetrieb und ist verheiratet mit Martin, einem Lehrer. Das Paar ist kinderlos, die Ehe ist nicht spannungsfrei. Sporadisch besucht sie ihre Mutter. Ihr Vater, ein Waldarbeiter, kam bei der Arbeit ums Leben. Mira wurde hierfür eine Mitschuld gegeben. Der Tod des Vaters bzw. Ehemanns hat das Leben der Familie komplett verändert.
Anni, die Mutter, körperlich leicht gebrechlich, soll aus ihrem Haus in ein Heim umziehen, damit Franz, Miras Cousin, das Gebäude zu einer Tischlerwerkstatt umbauen kann. So wurde es beschlossen. Anni wehrt sich, formuliert Bedingungen, etwa, dass ihre Sammlung von Bauernwerkzeug vorher in ein Museum verbracht werden soll. Stanko, Miras Bruder, ist mit der Situation überfordert. Miras Besuch ist auf zwei Wochen angesetzt; es ist Frühling und bis Ende des Jahres soll der Auszug Annis stattgefunden haben. Es geht um Baugenehmigungen und Fristen.
Mit Der letzte Sansevero liegt jetzt der fünfte und letzte Band der fiktiven Autobiographie des Giuliano di Sanservo des 1995 verstorbenen italienischen Autors Andrea Giovene vor. Es ist der Initiative des Übersetzers Moshe Kahn zu verdanken, dass dieses bemerkenswerte literarische Werk im Galiani Verlag wiederaufgelegt wurde.
Der fiktive Herzog Sansevero, 1903 geboren, Spross einer neapolitanischen Familie, wächst zusammen mit seinen Geschwistern in großbürgerlicher Atmosphäre auf. Eine Wand im Elternhaus zeigte den imposanten Stammbaum des Sansevero-Geschlechts, der bis ins 11. Jahrhundert zurückreichte. Bereits im ersten Band erinnert sich der Ich-Erzähler Giuliano rückwirkend an die kleinen Flecken und Abplatzungen am Stammbaum – sanfte Andeutung für den schleichenden Zerfall. Mit zehn Jahren endete Giulianos Kindheit (so der pathetische Befund) und er wird in eine Klosterschule verbracht. Unnahbarkeit und Kälte der Eltern bestimmen den Lebensweg des Jungen. Hinzu kommt, dass sich der Vater mit seinen Bauprojekten mutmaßlich verkalkuliert hatte. Irgendwann müssen die so stolz ausgestellten Antiquitäten verkauft werden; es droht der Bankrott. Einzig Onkel Gedeone, Staatsanwalt in Neapel, wird zum stetigen moralischen Anker, Ratgeber und Halt in Giulianos Leben.
Der letzte Band beginnt 1945 und endet mit dem letzten Eintrag Giulianos im September 1957, wenige Tage vor seinem Tod. In einem kurzen Anhang wird der Leser durch behördliche Briefe über einige offene Fragen aufgeklärt. So erfährt man, dass der sechs Jahre ältere Bruder Giulianos, Ferrante, kurz zuvor verstorben war. Da beide männlichen Nachkommen wie auch die Schwestern formal kinderlos blieben, ist die Familie nach 900 Jahren ausgestorben. Die Kinderlosigkeit wird im Laufe des Romans noch einmal befragt werden, freilich ohne endgültigen Befund.
Nach den Wirren des Krieges, die ausgiebig im vierten Band erzählt werden, kommt Giuliano wie fast immer eher zufällig in eine Position. Er wird Beamter in einem Ministerium und kümmert sich um die große Zahl der Kriegsflüchtlinge im Land. Die Behörde steht unter kommunistischer Ägide, was irgendwann zu Problemen führt, da Giuliano nicht Mitglied der Partei werden möchte. Hinzu kommt, dass seine Vorgesetzten die von ihm erfolgreich implementierten Maßnahmen für sich beanspruchen. Genau so plötzlich, wie dieses Ministerium entstand wurde es auch aufgelöst. Giuliano kehrt zum schon gebrechlichen Gedeone nach Neapel zurück und wird dort Redaktionsmitglied einer neu gegründeten Zeitung. Als im Mai 1949 der geliebte Onkel stirbt und der Herausgeber der Zeitung in den lokalen Politsumpf einzusinken droht, verlässt er Neapel, um in Guastalla so etwas wie seine Memoiren zu verfassen. Der Leser kann sich nun denken, dass er diese Memoiren in den ersten vier Bänden gelesen hat.
Lutz Rathenow: Trotzig lächeln und das Weltall streicheln Per Leo: Noch nicht mehr Wolfgang Hermann: Der Garten der Zeit Peter Handke: Die Ballade des letzten Gastes En détail: Lutz Rathenow: Trotzig lächeln und das Weltall streicheln Im letzten Jahr wurde der in Jena geborene und inzwischen in Berlin lebende Lutz Rathenow 70 Jahre alt. Dazu ...