Mar­tin von Arndt: Rat­ten­li­ni­en

Martin von Arndt: Rattenlinien
Mar­tin von Arndt: Rat­ten­li­ni­en

Dr. An­dre­as Eck­art, Sohn ita­lie­nisch-deut­scher El­tern, Ner­ven­arzt, Sol­dat für das Deut­sche Kai­ser­reich und in den 1920er Jah­ren Kri­mi­nal­kom­mis­sar in Ber­lin, sitzt im Herbst 1946 in ei­nem Haus der Nä­he von Washing­ton und müht sich mit ei­ner ur­alten Schreib­ma­schi­ne in Über­set­zun­gen von Bü­chern vom Deut­schen ins Eng­li­sche, die nie­man­den in­ter­es­sie­ren. Der Le­ser kennt Eck­art aus Mar­tin von Arndts Ro­man »Ta­ge der Ne­me­sis« als er 1921 in die Fall­stricke tür­kisch-ar­me­ni­scher Ge­heim­dien­ste und deut­scher Au­ßen­po­li­tik ge­riet. In­zwi­schen sind 25 Jah­re ver­gan­gen. Er lebt bei Liam, ei­nem rei­chen und hemds­är­me­li­gen ehe­ma­li­gen ame­ri­ka­ni­schen Bot­schafts­an­ge­hö­ri­gen, der ihn in letz­ter Mi­nu­te aus den Klau­en der Ge­sta­po in die Staa­ten schleu­sen konn­te. Eck­art, Mo­ra­list und Pa­zi­fist, wur­de einst »Na­zif­res­ser« ge­nannt, trat für die jun­ge deut­sche De­mo­kra­tie ein, galt da­mit nach 1933 als po­li­tisch un­zu­ver­läs­sig und wur­de schließ­lich ent­las­sen. Die Haupt­schuld hier­an trägt sein ehe­ma­li­ger As­si­stent Ger­hard Wag­ner, der zum über­zeug­ten Na­zi und SS-Mann wird und sich an sei­nem ehe­ma­li­gen Chef rä­chen will. Eck­art wird zu­nächst drang­sa­liert, spä­ter ge­fol­tert, soll Ge­sin­nungs­freun­de ver­ra­ten, die in­zwi­schen im Un­ter­grund sind, so un­ter an­de­rem auch sei­nen ehe­ma­li­gen As­si­sten­ten Ro­sen­berg. Ge­ra­de noch recht­zei­tig ge­lingt die Flucht in die USA.

Mit sanf­tem Druck lässt sich Eck­art im Herbst 1946 von sei­nen ame­ri­ka­ni­schen Freun­den und Be­kann­ten zur Teil­nah­me an der Ope­ra­ti­on »Rat­ten­li­ni­en« des US-Ge­heim­dien­stes CIC in Eu­ro­pa über­re­den. Hoch­ran­gi­ge Na­zis und SS-Of­fi­zie­re ver­su­chen über die Al­pen bis nach Ita­li­en zu flie­hen um von dort aus per Schiff nach Süd­ame­ri­ka (Ar­gen­ti­ni­en, Chi­le) zu kom­men. Sie er­hal­ten Hil­fe von Sym­pa­thi­san­ten aus Deutsch­land, Öster­reich (vor al­lem auch Süd­ti­rol), dem Ro­ten Kreuz (wel­ches mit ver­blüf­fen­der Nai­vi­tät ausge­stattet scheint) und dem Va­ti­kan. Eck­art und US-Spe­cial-Agent Dan Va­nuz­zi, Sohn ita­lie­ni­scher Ein­wan­de­rer, bil­den zu­sam­men mit zwei Hel­fern ein »Greif­kom­man­do« und sol­len den SS-Ober­sturm­bann­füh­rer Ger­hard Wag­ner, der ak­tiv an Ju­den­er­schie­ssun­gen be­tei­ligt war, auf­spü­ren da­mit er vor Ge­richt ge­stellt wer­den kann. Da­bei spricht die Phy­sis ge­gen Eck­art – er hat sich zwar von sei­ner Mor­phi­um­sucht be­freit (er kehr­te aus dem Er­sten Welt­krieg als Kriegs­zit­te­rer zu­rück), wur­de je­doch zum Links­hän­der (war­um, er­fährt man spä­ter), ist nicht be­son­ders trai­niert, hat Ma­gen­pro­ble­me und ist 60 Jah­re alt. Aber er kennt Wag­ner und des­sen Men­ta­li­tät, spricht ita­lie­nisch und deutsch und der Ap­pell, et­was Gu­tes zu tun, ver­fängt schließ­lich. Da­bei gibt es zwei Pro­ble­me: Die Ver­wal­tung in wei­ten Tei­len Süd­ti­rols ob­liegt bei den Fran­zo­sen, so dass ame­ri­ka­ni­sche Ak­ti­vi­tä­ten nicht ger­ne ge­se­hen sind. Und wenn die Ge­such­ten erst ein­mal in Ita­li­en an­ge­kom­men sind, en­det der of­fi­zi­el­le Ein­fluss der Ame­ri­ka­ner voll­ends, weil Ita­li­en ein sou­ve­rä­nes Land ist.

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Chri­sti­an Kracht: Die To­ten

Wie schon in »Im­pe­ri­um« wer­den in »Die To­ten« hi­sto­ri­sche Per­sön­lich­kei­ten von Chri­sti­an Kracht mit fik­ti­ven Hand­lun­gen und Cha­rak­te­ren zu­sam­men­ge­bracht; ein Gen­re, das mit »Do­­ku-Fic­ti­on« oft nur un­zu­läng­lich be­zeich­net und kei­nes­falls ei­ne Er­fin­dung von Kracht ist, son­dern längst aus dem Fern­se­hen ab­ge­schaut von zahl­rei­chen zeit­ge­nös­si­schen Au­toren prak­ti­ziert wird. So tritt in die­sem Ro­man an zen­tra­len Stel­len ...

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Fi­ston Mwanza Mu­ji­la: Tram 83

Fiston Mwanza Mujila: Tram 83
Fi­ston Mwanza Mu­ji­la: Tram 83

Ir­gend­wo in Afri­ka, in ei­nem Land, das sich Demo­kratische Re­pu­blik Kon­go nennt (und vor­her Zai­re nann­te), viel­leicht in ei­ner Stadt in der Pro­vinz Ka­tan­ga, die hier »Stadt­land« heisst, ei­ner Stadt oder ei­nem Ge­biet, das sich von »Hin­ter­land« ab­ge­spal­ten hat, denn in Stadt­land gibt es Stei­ne und die­se Stei­ne be­inhal­ten Er­ze und vor al­lem Kup­fer und das ver­spricht Reich­tum, aber die­ses Ver­spre­chen gilt nicht für je­den und am En­de kommt es nur noch dar­auf an, ob man auf der orga­nisierten oder des­or­ga­ni­sier­ten Sei­te der Bananen­republik lebt. Dort gibt es das »Tram 83«: Ka­schem­me, Bar, Im­biss, Jazz­club, Büh­ne, Tanz­pa­last, Bor­dell, Drogen­höhle, Geld­wasch­an­la­ge, 24 Stun­den ge­öff­net, ei­ne Mi­schung aus Berg­hain, Cot­ton Club, So­dom und Go­mor­rha, Hie­ro­ny­mus Boschs »Sie­ben Tod­sün­den« und dem »Welt­ge­richt«, Kir­che und Mo­schee, ein Ort, der fas­zi­niert und ab­stösst, Treff­punkt für Gru­ben­ar­bei­ter, Stu­den­ten, »Tou­ri­sten«, Dea­ler, Li­te­ra­ten und Ver­le­ger, Frau­en, die nach »Kü­ken«, »Sin­gle-Ma­mas« und »Ex-Sin­gle-Ma­mas« und, vor al­lem, nach Form und Grö­ße ih­rer Brü­ste un­ter­teilt wer­den, Geschäfts­männer, Zu­häl­ter, Gläu­bi­ge und Athe­isten, Kor­rup­te und Mo­ra­li­sten. Zu Be­ginn fällt ei­nem noch ei­ne Gold­grä­ber­ro­man­tik aus den USA ein, aber das wird ei­nem hier schnell aus­ge­trie­ben, denn hier herr­schen Sex und Geld und ein Frau­en­über­schuss, da Bürger­kriege noch nicht lan­ge zu­rück­lie­gen.

Zu Be­ginn kommt Lu­ci­en ins »Tram 83«, ein Schön­geist mit No­tiz­buch, der ein Büh­nen-Epos nach Pa­ris ab­lie­fern soll. Er trifft sei­nen Freund Re­qui­em, ge­nannt »Ne­gus«, ei­nem auf den er­sten Blick Klein­kri­mi­nel­lem, der im­mer un­sym­pa­thi­scher wird, sich als Kriegs­verbrecher (ein Pleo­nas­mus?), Ban­den­füh­rer, Plün­de­rer, Ver­ge­wal­ti­ger, Er­pres­ser und Schmugg­ler ent­puppt, der Fil­me mit Jean Ga­bin und Li­no Ven­tura mag. Ir­gend­wann gibt es noch den Schwei­zer Ver­le­ger Fer­di­nand, der Ge­fal­len an Lu­ci­ens Tex­ten fin­det, aber schließ­lich von Re­qui­em mit Bil­dern von ihm und der (min­der­jäh­ri­gen) Prosti­tuierten er­presst wird. »Was sagt die Uhr« ist der Stan­dard­satz, den man stel­len­wei­se auf fast je­der Sei­te des Buchs fin­det. »Was sagt die Uhr« fragt die Meu­te für die Mu­ße ein Ver­bre­chen ist. Al­les ist vul­gä­res Busi­ness (vor al­lem der Sex), selbst die Kell­ne­rin­nen drang­sa­lie­ren die Gä­ste zum Trink­geld und für die Pro­sti­tu­ier­ten gilt die (Schach-)Regel: »be­rührt-ge­führt«.

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Em­ma Bras­lavsky: Le­ben ist kei­ne Art mit ei­nem Tier um­zu­ge­hen

Emma Braslavsky: Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen
Em­ma Bras­lavsky:
Le­ben ist kei­ne Art mit ei­nem Tier um­zu­ge­hen

Der Deutsch-Ar­gen­ti­ni­er (oder Ar­gen­ti­ni­en-Deut­sche) Jivan Haff­ner Fernán­dez ist Bun­ker­ar­chi­tekt, An­fang 40 und lebt in Ber­lin. Er ist ver­hei­ra­tet mit der 39jähigen Jo Le­wan­dow­s­ki Fri­d­man. Jivan braucht Geld, die Ge­schäf­te ge­hen schlecht und er hat im­mense Spiel­schul­den, denn sein Hob­by ist On­line-Po­ker. Auch Jos Ak­ti­vi­tä­ten zeich­nen sich da­durch aus, dass sie Geld ko­sten und we­nig bis nichts ein­brin­gen. Sie ist ei­ne »Bes­se­re-Welt-Ak­ti­vi­stin«; ver­mut­lich zu­nächst auf Ba­sis des­sen, was man Eh­ren­amt nennt. Im Lau­fe des Ro­mans »Le­ben ist kei­ne Art mit ei­nem Tier um­zu­ge­hen« durch­läuft Jo das Ca­sting al­ler wich­ti­gen, mul­ti­na­tio­na­len Weltrettungs­organisationen, die auf die­sem Pla­ne­ten nicht mehr so ganz ein­fluss­los sind.

Denn Em­ma Bras­lavskys Buch spielt in ei­ner Zu­kunft, die von al­len po­li­ti­schen und so­zia­len Un­ru­hen ge­rei­nigt scheint. Es muss um das Jahr 2050 sein, in Lu­b­lin ist ge­ra­de der zehn­mil­li­ard­ste Mensch ge­bo­ren wor­den. Die Ver­ein­ten Na­tio­nen ha­ben mehr oder we­ni­ger die Durchsetzungs­macht über­nom­men, ob­wohl die Na­tio­nal­staa­ten wei­ter exi­stie­ren. Auf dem Markt der Idea­li­sten kon­kur­rie­ren kei­ne Kir­chen mehr mit- oder ge­gen­ein­an­der, son­dern welt­weit vor al­lem zwei Or­ga­ni­sa­tio­nen: »Bet­ter­Pla­net« und »Life from Ze­ro«. Die­se lie­fern sich ei­nen er­bit­ter­ten Kampf um Mit­glie­der und vor al­lem Geld­ge­ber. Zu Be­ginn möch­te Jo Pres­se­spre­che­rin der mul­ti­na­tio­na­len Tier­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on »Ani­mal for Rights« wer­den (»der Mensch ist laut Sat­zung der Or­ga­ni­sa­ti­on ‘ein bö­ses Tier‘«) und trifft sich hier­zu mit den bei­den Grün­dern in ei­nem – selbst­re­dend – ve­ga­nen Re­stau­rant. Auch Jivan stößt da­zu; er hat­te sich et­was ver­spä­tet, weil er zum ei­nen noch ei­nen Dö­ner bei sei­nem Freund Ediz ge­ges­sen hat­te und zum an­dern sei­ne al­te Le­der­ta­sche noch ver­stecken muss­te, um kei­nen Arg­wohn bei den Tier­recht­lern zu er­re­gen.

Die Heu­che­lei­en ge­lin­gen Jivan präch­tig. Zwi­schen »Reis­milch-Sal­bei-Küm­mel-Brü­he« und »auf Pal­men­blät­tern ge­grill­tes Pilz­as­sort­ment« un­ter­brei­tet Jivan den tat­säch­lich ernst­haft dis­ku­tier­ten Vor­schlag, wo­nach Men­schen und Tie­re künst­li­che Ein­hör­ner tra­gen soll­ten (da­her das Co­ver). Es ist ge­konnt und ver­gnüg­lich, wie Bras­lavsky die­ses Sze­na­rio in ei­ner Mi­schung aus Lo­ri­ot und Joa­chim Zel­ter in­sze­niert und der Le­ser be­kommt ei­nen Vor­ge­schmack auf Jos Ehr­geiz und Vi­ta­li­tät, auch noch den größ­ten Un­sinn in ih­re Welt­ret­tungs­plä­ne min­de­stens ins Kal­kül zu zie­hen.

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Ma­thi­as Énard: Kom­pass

Mathias Enard: Kompass
Ma­thi­as Enard: Kom­pass

Schon 2010, in sei­nem opu­len­ten wie fa­mo­sen Werk »Zo­ne« hat­te sich Ma­thi­as Énard ei­ner Re­gi­on ver­schrieben, dem Mit­tel­meer, mach­te es zum my­thi­scher Raum, durch­maß ihn von Tan­ger bis Ga­za und al­les was von oder nach der »Zo­ne« kommt und das, was sich in »ihr« ab­ge­spielt hat­te, wur­de ob­ses­siv an­ge­saugt und er­zäh­le­risch ver­ar­bei­tet. Énard brauch­te hier­für ei­ne zwie­lich­ti­ge Fi­gur, ei­nen Kriegs­ver­bre­cher und Spi­on, der die Welt als ei­ne Ab­fol­ge von Hass und Ge­walt de­fi­nier­te und Ge­schichts­li­ni­en und Er­eig­nis­se von 218 vor Chri­stus bis zu den Mas­sa­kern der di­ver­sen Ju­go­sla­wi­en-Krie­ge der 1990er Jah­re her­an­zog und mit­ein­an­der ver­band, ge­treu dem Mo­tiv der Haupt­fi­gur, die »Ge­schich­te ist ei­ne Er­zäh­lung von rei­ßen­den Tie­ren, ein Buch, in dem auf je­der Sei­te Wöl­fe vor­kom­men« und so ist auch die­ses Buch, atem­los, ex­pres­siv, nicht ganz oh­ne Punkt und Kom­ma, son­dern nur oh­ne Punkt; die 600 Sei­ten be­stehen aus viel­leicht zwei Dut­zend ab­ge­schlos­se­nen Sät­zen, al­les steht hin­ter- und ne­ben­ein­an­der, ein Sog, der fes­sel­te, ab­stieß und an­zog und das al­les gleich­zei­tig.

Und nun al­so »Kom­pass« und die Zo­ne ist dies­mal nicht das Mit­tel­meer son­dern der Ori­ent; es gibt al­so Schnitt­men­gen aber nur geo­gra­phi­sche, aber es ist al­les an­ders. In »Zo­ne« wird die Höl­le er­zählt, per­so­nal aus Sicht ei­ner Per­son, wäh­rend ei­ner mehr­stündigen Zug­fahrt. In »Kom­pass« ist es ein ir­di­sches Pa­ra­dies, evo­ziert von ei­nem Ich-Er­zäh­ler, dem öster­rei­chi­schen Mu­sik­wis­sen­schaft­ler Franz Rit­ter, der schlaf­los in ei­ner Nacht in Wien sein Le­ben re­ka­pi­tu­liert, nicht nur aber auch weil er ei­ne töd­li­che Dia­gno­se sei­nes Arz­tes er­hal­ten hat. Er­staun­lich, wie we­nig man am En­de über Rit­ter als Per­son weiß. Aka­de­misch ist er ein Schü­ler von Jean Du­ring und nach ei­ge­ner Aus­sa­ge glück­lich, dem 20. Jahr­hun­dert »wi­der­stan­den« zu ha­ben (was sich dann be­wahr­hei­tet). Al­les an­de­re Per­sön­li­che bleibt dif­fus, selbst sein Al­ter muss man schät­zen (sei­ne Mut­ter ist 75), aber auf die Per­son Rit­ter kommt es ei­gent­lich gar nicht an, ob­wohl das Buch auch ei­ne Lie­bes­ge­schich­te ist (üb­ri­gens kei­nes­falls die Ge­schich­te ei­ner nur ge­schei­ter­ten Lie­be, wie so man­che Re­zen­sen­ten dies hin­ein- oder her­aus­le­sen). Die Lie­be sei­nes Le­bens, der Kom­pass sei­ner Ob­ses­si­on, ist die am En­de Mitt­vier­zi­ger Ori­en­ta­li­stin Sa­rah (es bleibt beim Vor­na­men), ei­ne »no­ma­di­sche Aka­de­mi­ke­rin«, rot­haa­rig, ge­bil­det, wis­sens­dur­stig, the­sen­freu­dig, per­fekt ara­bisch und per­sisch spre­chend, ei­ne »glän­zen­de Kar­rie­re« ma­chend, ein­ge­la­den auf »pre­sti­ge­träch­ti­gen Kol­lo­qui­en« welt­weit – al­les in Al­lem gu­te Vor­aus­set­zun­gen.

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An­dre­as Mai­er: Der Kreis

Andreas Maier: Der Kreis
An­dre­as Mai­er: Der Kreis

Ich er­in­ne­re mich an das er­ste Buch der so­ge­nann­ten Wet­ter­au-Chro­no­lo­gie, die bald den Ti­tel »Ortsum­gehungen« be­kam (oder oh­ne mein Wis­sen be­reits hat­te). Es war der Ro­man »Das Zim­mer« aus dem Jahr 2010, in dem An­dre­as Mai­er so leicht und wahr­haf­tig meh­re­re Ebe­nen ne­ben- und schließ­lich so­gar mit­ein­an­der ver­schmolz. So ver­fei­ner­te er sei­ne kurz zu­vor er­schie­ne­ne »On­kel J.«-Erzählung, ent­warf fast wie ne­ben­bei ei­ne Kultur‑, Mentalitäts‑, Ar­beits- und Lo­kal­ge­schich­te der Bun­des­re­pu­blik der 1970er Jah­re aus hes­si­scher Re­gio­nal­per­spek­ti­ve, evo­zier­te Hö­he­punk­te sei­ner Kind­heit und Ju­gend und stürz­te sich schließ­lich in ei­ner Mi­schung aus Me­lan­cho­lie und Wut in die Ge­gen­wart und em­pör­te sich über die Ver­schan­de­lung der Wet­ter­au (und be­son­ders des »Wichs­buschs«) durch al­ler­lei Um­ge­hungs- und son­sti­ge Stra­ßen.

Die wei­te­ren Bän­de der »Orts­um­ge­hun­gen« er­schie­nen da­nach in ra­scher Fol­ge: 2011 »Das Haus«, 2013 »Die Stra­ße«, 2015 »Der Ort« und nun, 2016 »Der Kreis«. Die ein­zel­nen Bü­cher bil­den kei­ne zeit­li­che Chro­no­lo­gie, son­dern sind locker the­ma­tisch sor­tiert. Nicht nur Ina Hart­wig und Jörg Ma­ge­nau, die schein­bar je­den Band Mai­ers be­spre­chen, schwel­gen re­gel­mä­ßig in Su­per­la­ti­ven. Auch mit ei­ni­ger Mü­he ha­be ich kei­ne se­riö­se ne­ga­ti­ve Kri­tik ge­fun­den (Ama­zon aus­ge­nom­men). Ver­mut­lich hat das auch da­mit zu tun, dass Mai­er fast im­mer in et­wa der Ge­ne­ra­ti­on der je­wei­li­gen Kri­ti­ker an­ge­hört; man blickt auf mehr oder we­ni­ger den glei­chen Er­eig­nis­ho­ri­zont zu­rück. Und viel­leicht wa­ren ja Kind­heit und Ju­gend in ei­ner bür­ger­li­chen Fa­mi­lie in Ham­burg oder Frank­furt in den 1970er und 1980er Jah­ren ent­ge­gen der An­nah­men nicht we­sent­lich an­ders als in der Wet­ter­au-Klein­stadt. Die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bo­te in Mu­sik, Li­te­ra­tur und Thea­ter wa­ren nicht zu­letzt durch die Me­di­en längst uni­ver­sell. In den Elo­gen auf Mai­ers Tex­te ist dem Feuil­le­ton kei­ne Re­fe­renz zu groß, kein Ver­gleich zu ge­wagt, ob es Proust ist oder Bal­zac, auch Knaus­gård, und na­tür­lich Tho­mas Bern­hard, mit dem Mai­er ja mehr als nur äs­the­ti­sche Sym­pa­thie ver­bin­det (er hat über ihn pro­mo­viert).

Der Be­zug auf den öster­rei­chi­schen Dich­ter ist auch hin­sicht­lich der Kri­tik Mai­ers an Bern­hards so­ge­nann­ten au­to­bio­gra­phi­schen Schrif­ten von In­ter­es­se. Mai­er hat­te Bern­hard vor­ge­wor­fen, die­se Bü­cher sei­en »wi­der­sprüch­li­che He­roi­sie­run­gen der ei­ge­nen Per­son, er­mög­licht durch ei­nen dop­pel­bö­di­gen Um­gang mit un­se­rem all­tags­sprach­li­chen Wahr­heits­be­griff«. Nicht nur den Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Jan Sü­sel­beck hat­te die­ser Pas­sus ver­wun­dert, be­geht Mai­er hier doch so et­was wie ei­nen An­fän­ger­feh­ler, in dem er Li­te­ra­tur mit Do­ku­men­ta­ris­mus ver­wech­selt. Selbst wenn der Ein­druck ei­ner nach­prüfbaren Rea­li­tät er­weckt wer­den soll­te, wird er spä­te­stens durch die Genre­bezeichnung »Ro­man« ni­vel­liert bzw. kon­ter­ka­riert. Fast scheint es so, als sei Mai­er zor­nig auf sei­ne ei­ge­nen vor­ei­lig-feh­ler­haf­ten Deu­tun­gen der Pro­sa Bern­hards ge­we­sen.

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Co­lin Bar­rett: Jun­ge Wöl­fe

Colin Barrett: Junge Wölfe
Co­lin Bar­rett: Jun­ge Wöl­fe

Sie hei­ßen Tug, Mark, Jim­my, Val, Bat, Arm oder Owen. Mut­ter und Va­ter sind Ma und Pa. Man ist in Ir­land, der At­lan­tik ist rau und die Or­te wie zum Bei­spiel Glen­beigh ha­ben ein paar Ein­woh­ner und »ei­ne Hun­dert­schaft Pubs«. Je­der kennt je­den. Gal­way oder gar Dub­lin sind exo­ti­sche Bio­to­pe. Wenn Stu­den­ten im Som­mer zum Geld­ver­die­nen und Fei­ern kom­men ist man froh, dass sie da sind aber auch froh, wenn sie wie­der ab­rei­sen.

Das ist das Set­ting von »Jun­ge Wöl­fe«, dem Er­zähl­band des 1982 ge­bo­re­nen, in Dub­lin le­ben­den Co­lin Bar­rett. Das Co­ver zeigt die Si­tua­ti­on in der er­sten Er­zäh­lung »Der klei­ne Clan­cy«. Ei­ne Dorf­ju­gend am »Tag der Läu­te­rung« nach dem »drei­tä­gi­gen Ab­nut­zungs­fest« des Wochen­endes. Jim­my sieht sei­ne Ex-Freun­din Mar­le­ne mit Mark. Man fei­ert. Jim­mys Freund ist Tug, mit sei­nen Bären­kräften und der Ein­falt des Gut­mü­ti­gen ei­ne Art Dorf-Obe­lix. Als er sieht, dass Jim­my sich über Mar­le­ne är­gert, wirft er kur­zer­hand Marks Au­to um und mit Lip­pen­stift schreibt Jim­my dann noch »Hei­ra­te mich« dar­auf. Statt nun die Aus­wir­kun­gen die­ses Vor­falls wei­ter zu be­ob­ach­ten, bleibt Bar­rett bei Tug und Jim­my. Tug ist an­ge­rührt von der Ge­schich­te ei­nes 10jährigen Jun­gen, der seit drei Mo­na­ten ver­misst wird. Auf ih­rem Weg be­geg­nen die bei­den spie­len­den Kin­dern, die ei­ne Brücke als Stütz­punkt »einge­nommen« ha­ben. Dies regt die Phan­ta­sie ob das Schick­sal des ver­miss­ten Jun­gen noch mehr an. Und dann ist auch schon Schluss: Was als Knei­pen­sto­ry be­gann en­det als schwer­mü­ti­ge Ver­miss­ten­er­zäh­lung.

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Boua­lem San­sal: 2084 – Das En­de der Welt

Boualem Sansal: 2084 - Das Ende der Welt
Boua­lem San­sal:
2084 – Das En­de der Welt

Wenn Ge­sell­schaf­ten – aus wel­chen Grün­den auch im­mer – trotz ei­nes ex­or­bi­tan­ten Wohl­stands mit ei­nem dif­fu­sen Un­be­ha­gen der Zu­kunft ent­ge­gen se­hen, weil sie vor Um­brü­chen mit un­si­che­rem Aus­gang ste­hen, dann ist Zeit für dys­to­pi­sche Ro­ma­ne, die dann die eher harm­los da­her­kom­men­de (lei­der zu oft ba­na­le) Fan­ta­sy oder be­wusst tech­nik­af­fi­ne Sci­ence-Fic­tion-Se­lig­keit über­wuchern. Nicht zu­letzt in der ak­tu­el­len deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur gibt es ei­nen Trend zur Dys­to­pie, viel­leicht auch ein­fach nur, weil es im All­tag so gar kei­ne Aben­teu­er mehr zu er­le­ben gibt.

Bei Boua­lem San­sal sieht dies an­ders aus. Der 1950 in Al­ge­ri­en ge­bo­re­ne Au­tor fand erst spät zum li­te­ra­ri­schen Schrei­ben, avan­cier­te aber schnell zum be­kann­te­sten zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­ler sei­nes Lan­des und be­kam 2011 den Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels. Jetzt hat er mit »2084 – Das En­de der Welt« ei­nen Weltunter­gangsroman ge­schrie­ben. Das Buch war zu­nächst in Al­ge­ri­en nicht zu er­hal­ten und sorg­te für Dis­kus­sio­nen in Frank­reich. Seit Mai liegt es auch in ei­ner deut­schen Über­set­zung von Vin­cent von Wro­blew­sky vor.

Das deut­sche Feuil­le­ton be­fragt San­sal aus­gie­big, aber noch mehr möch­te man über sei­ne Ein­schät­zun­gen zur ak­tu­el­len po­li­ti­sche La­ge wis­sen, den Be­dro­hun­gen durch das, was man ge­mein­hin »Is­la­mis­mus« nennt. San­sal hält mit sei­ner Mei­nung nicht hin­ter dem Berg. Er be­zich­tigt be­son­ders die west­li­che Lin­ke als na­iv im Um­gang mit dem po­li­ti­schen Is­lam, was die­se zum An­lass nimmt, ihn in ei­ne neu­rech­te Ecke zu stel­len; das in­zwi­schen be­kann­te Ge­sell­schafts­spiel. Die Er­fah­run­gen, die San­sal in Al­ge­ri­en macht und ge­macht hat, wer­den hier­bei ger­ne her­un­ter­ge­spielt. Die Po­li­ti­sie­rung ei­nes sol­chen Ro­mans hat al­ler­dings meist zur Fol­ge, dass die Dis­kus­si­on we­ni­ger um das Buch als um die po­li­ti­schen The­sen des Au­tors kreist. Dies er­zeugt Er­war­tungs­hal­tun­gen, die je nach Ori­en­tie­rung ent­täuscht oder be­stä­tigt wer­den. Da­bei tritt dann die li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ei­nes sol­chen Bu­ches all­zu oft in den Hin­ter­grund.

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