An­dre­as Mai­er: Der Kreis

Andreas Maier: Der Kreis
An­dre­as Mai­er: Der Kreis

Ich er­in­ne­re mich an das er­ste Buch der so­ge­nann­ten Wet­ter­au-Chro­no­lo­gie, die bald den Ti­tel »Ortsum­gehungen« be­kam (oder oh­ne mein Wis­sen be­reits hat­te). Es war der Ro­man »Das Zim­mer« aus dem Jahr 2010, in dem An­dre­as Mai­er so leicht und wahr­haf­tig meh­re­re Ebe­nen ne­ben- und schließ­lich so­gar mit­ein­an­der ver­schmolz. So ver­fei­ner­te er sei­ne kurz zu­vor er­schie­ne­ne »On­kel J.«-Erzählung, ent­warf fast wie ne­ben­bei ei­ne Kultur‑, Mentalitäts‑, Ar­beits- und Lo­kal­ge­schich­te der Bun­des­re­pu­blik der 1970er Jah­re aus hes­si­scher Re­gio­nal­per­spek­ti­ve, evo­zier­te Hö­he­punk­te sei­ner Kind­heit und Ju­gend und stürz­te sich schließ­lich in ei­ner Mi­schung aus Me­lan­cho­lie und Wut in die Ge­gen­wart und em­pör­te sich über die Ver­schan­de­lung der Wet­ter­au (und be­son­ders des »Wichs­buschs«) durch al­ler­lei Um­ge­hungs- und son­sti­ge Stra­ßen.

Die wei­te­ren Bän­de der »Orts­um­ge­hun­gen« er­schie­nen da­nach in ra­scher Fol­ge: 2011 »Das Haus«, 2013 »Die Stra­ße«, 2015 »Der Ort« und nun, 2016 »Der Kreis«. Die ein­zel­nen Bü­cher bil­den kei­ne zeit­li­che Chro­no­lo­gie, son­dern sind locker the­ma­tisch sor­tiert. Nicht nur Ina Hart­wig und Jörg Ma­ge­nau, die schein­bar je­den Band Mai­ers be­spre­chen, schwel­gen re­gel­mä­ßig in Su­per­la­ti­ven. Auch mit ei­ni­ger Mü­he ha­be ich kei­ne se­riö­se ne­ga­ti­ve Kri­tik ge­fun­den (Ama­zon aus­ge­nom­men). Ver­mut­lich hat das auch da­mit zu tun, dass Mai­er fast im­mer in et­wa der Ge­ne­ra­ti­on der je­wei­li­gen Kri­ti­ker an­ge­hört; man blickt auf mehr oder we­ni­ger den glei­chen Er­eig­nis­ho­ri­zont zu­rück. Und viel­leicht wa­ren ja Kind­heit und Ju­gend in ei­ner bür­ger­li­chen Fa­mi­lie in Ham­burg oder Frank­furt in den 1970er und 1980er Jah­ren ent­ge­gen der An­nah­men nicht we­sent­lich an­ders als in der Wet­ter­au-Klein­stadt. Die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bo­te in Mu­sik, Li­te­ra­tur und Thea­ter wa­ren nicht zu­letzt durch die Me­di­en längst uni­ver­sell. In den Elo­gen auf Mai­ers Tex­te ist dem Feuil­le­ton kei­ne Re­fe­renz zu groß, kein Ver­gleich zu ge­wagt, ob es Proust ist oder Bal­zac, auch Knaus­gård, und na­tür­lich Tho­mas Bern­hard, mit dem Mai­er ja mehr als nur äs­the­ti­sche Sym­pa­thie ver­bin­det (er hat über ihn pro­mo­viert).

Der Be­zug auf den öster­rei­chi­schen Dich­ter ist auch hin­sicht­lich der Kri­tik Mai­ers an Bern­hards so­ge­nann­ten au­to­bio­gra­phi­schen Schrif­ten von In­ter­es­se. Mai­er hat­te Bern­hard vor­ge­wor­fen, die­se Bü­cher sei­en »wi­der­sprüch­li­che He­roi­sie­run­gen der ei­ge­nen Per­son, er­mög­licht durch ei­nen dop­pel­bö­di­gen Um­gang mit un­se­rem all­tags­sprach­li­chen Wahr­heits­be­griff«. Nicht nur den Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Jan Sü­sel­beck hat­te die­ser Pas­sus ver­wun­dert, be­geht Mai­er hier doch so et­was wie ei­nen An­fän­ger­feh­ler, in dem er Li­te­ra­tur mit Do­ku­men­ta­ris­mus ver­wech­selt. Selbst wenn der Ein­druck ei­ner nach­prüfbaren Rea­li­tät er­weckt wer­den soll­te, wird er spä­te­stens durch die Genre­bezeichnung »Ro­man« ni­vel­liert bzw. kon­ter­ka­riert. Fast scheint es so, als sei Mai­er zor­nig auf sei­ne ei­ge­nen vor­ei­lig-feh­ler­haf­ten Deu­tun­gen der Pro­sa Bern­hards ge­we­sen.

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Zick­zack

Ein Brumm­ge­räusch wie von ei­nem un­sicht­ba­ren Bom­ber hoch oben in den Lüf­ten. Der Brum­mer wird sicht­bar, kommt ins Bild, in den Raum, nä­hert sich dem Kör­per des sit­zen­den Man­nes, sei­ner un­ge­schütz­ten Haut. Ha­stig greift er nach sei­ner Jacke, zieht sie über sei­nen Kopf, sei­nen Nacken. Die Hor­nis­se be­rührt sei­ne jetzt ge­schütz­te Schul­ter, sie ist et­wa ...

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Hell-Dun­kel (8 Uhr 15)

In der Schu­le wur­de den Kin­dern ein Film über den Atom­bom­ben­ab­wurf und sei­ne Fol­gen ge­zeigt. Die Leh­re­rin mein­te, es sei not­wen­dig, daß sie das sä­hen, da­mit je­der von ih­nen ver­ste­he, dass Krieg et­was Schreck­li­ches sei. Die Leh­re­rin wein­te am En­de; die Kin­der nicht, au­ßer ei­nem Jun­gen, der nur ein biß­chen wein­te. Ei­ni­ge hat­ten beim Se­hen ...

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Ge­denk­tag

Heu­te sit­ze ich auf drei ho­ri­zon­tal ne­ben­ein­an­der lie­gen­den lan­gen, kräf­ti­gen, grau­en und trocke­nen Bam­bus­stäm­men. Hin­ter der Haupt­hüt­te des Schreins hat man sie auf zwei Gra­nit­stei­ne ge­stützt, die sich in der Nä­he ih­rer glatt ge­schnit­te­nen En­den be­fin­den, so daß ei­ne lan­ge, freie Mit­te ent­steht (die auch bei star­ker Be­la­stung nicht durch­hängt). Die Stäm­me sind ge­nau so ...

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Co­lin Bar­rett: Jun­ge Wöl­fe

Colin Barrett: Junge Wölfe
Co­lin Bar­rett: Jun­ge Wöl­fe

Sie hei­ßen Tug, Mark, Jim­my, Val, Bat, Arm oder Owen. Mut­ter und Va­ter sind Ma und Pa. Man ist in Ir­land, der At­lan­tik ist rau und die Or­te wie zum Bei­spiel Glen­beigh ha­ben ein paar Ein­woh­ner und »ei­ne Hun­dert­schaft Pubs«. Je­der kennt je­den. Gal­way oder gar Dub­lin sind exo­ti­sche Bio­to­pe. Wenn Stu­den­ten im Som­mer zum Geld­ver­die­nen und Fei­ern kom­men ist man froh, dass sie da sind aber auch froh, wenn sie wie­der ab­rei­sen.

Das ist das Set­ting von »Jun­ge Wöl­fe«, dem Er­zähl­band des 1982 ge­bo­re­nen, in Dub­lin le­ben­den Co­lin Bar­rett. Das Co­ver zeigt die Si­tua­ti­on in der er­sten Er­zäh­lung »Der klei­ne Clan­cy«. Ei­ne Dorf­ju­gend am »Tag der Läu­te­rung« nach dem »drei­tä­gi­gen Ab­nut­zungs­fest« des Wochen­endes. Jim­my sieht sei­ne Ex-Freun­din Mar­le­ne mit Mark. Man fei­ert. Jim­mys Freund ist Tug, mit sei­nen Bären­kräften und der Ein­falt des Gut­mü­ti­gen ei­ne Art Dorf-Obe­lix. Als er sieht, dass Jim­my sich über Mar­le­ne är­gert, wirft er kur­zer­hand Marks Au­to um und mit Lip­pen­stift schreibt Jim­my dann noch »Hei­ra­te mich« dar­auf. Statt nun die Aus­wir­kun­gen die­ses Vor­falls wei­ter zu be­ob­ach­ten, bleibt Bar­rett bei Tug und Jim­my. Tug ist an­ge­rührt von der Ge­schich­te ei­nes 10jährigen Jun­gen, der seit drei Mo­na­ten ver­misst wird. Auf ih­rem Weg be­geg­nen die bei­den spie­len­den Kin­dern, die ei­ne Brücke als Stütz­punkt »einge­nommen« ha­ben. Dies regt die Phan­ta­sie ob das Schick­sal des ver­miss­ten Jun­gen noch mehr an. Und dann ist auch schon Schluss: Was als Knei­pen­sto­ry be­gann en­det als schwer­mü­ti­ge Ver­miss­ten­er­zäh­lung.

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Moos auf den Stei­nen

Moos auf den Stei­nen, das Buch die­ses Ti­tels stand vie­le Jah­re in mei­nem Bü­cher­re­gal, aber ge­le­sen ha­be ich es nie. Da­bei stell­te ich mir vor, der Ver­fas­ser ge­hö­re zu mei­nen Ah­nen; fast so, als könn­te ich oh­ne ihn, oh­ne die Lek­tü­re sei­nes Buchs über­haupt nie et­was schrei­ben (und wie lan­ge ha­be ich nichts ge­schrie­ben, nach­dem ...

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Kar­sten Kram­pitz: 1976 – Die DDR in der Kri­se

Karsten Krampitz: 1976
Kar­sten Kram­pitz: 1976

»1976« lau­tet der Ti­tel. Dar­un­ter »Die DDR in der Kri­se«. Da schüt­telt man sich erst ein­mal als in West­deutsch­land so­zia­li­sier­ter Mensch. 1976? Nicht et­was 1989? Gut, die Bier­mann-Aus­bür­ge­rung ist noch prä­sent. Und mit ein we­nig Nach­den­ken auch noch der Ar­rest für Ro­bert Ha­ve­mann. Schon schwie­ri­ger wird es mit der Er­in­ne­rung an die Selbst­ver­bren­nung des Pfar­rers Os­kar Brü­se­witz. Ver­ges­sen (falls je­mals ge­wusst) die Kon­fe­renz der kom­mu­ni­sti­schen Par­tei­en in Ost-Ber­lin. Noch exo­ti­scher: der IX. Par­tei­tag der SED. Und das Hon­ecker von Stoph das Amt des Staats­rats­vor­sit­zen­den über­nahm und da­mit die voll­kom­me­ne Macht­fül­le bei­der Äm­ter (General­sekretär der SED und fak­ti­sches Staats­ober­haupt) auf sich ver­ei­nig­te, hat­te man da­mals nicht mit­be­kom­men – zu deut­lich war die Au­ßen­wahr­neh­mung auf Hon­ecker ge­rich­tet.

All das ge­schah 1976. Und Kar­sten Kram­pitz fin­det noch wei­te­re in­ter­es­san­te Be­ge­ben­hei­ten aus die­sem Jahr wie den Tod von Mi­cha­el Gar­ten­schlä­ger, ei­nem DDR-Flücht­ling, der vom We­sten aus wie­der in das DDR-Grenz­ge­biet ein­drang und Selbst­schuss­an­la­gen de­mon­tier­te und ver­äu­ßer­te. Er wur­de bei ei­ner sol­chen Ak­ti­on er­schos­sen. Da wa­ren die Olym­pi­schen Som­mer­spie­le 1976 in Mont­re­al, bei de­nen der DDR mit Platz 2 im Me­dail­len­spie­gel hin­ter der So­wjet­uni­on end­gül­tig der Durch­bruch als Sport­welt­macht ge­lang; nie mehr – auch bei den Boy­kott-Spie­len 1980 – er­reich­te man so vie­le Gold­me­dail­len. Au­ßen­po­li­tisch pein­lich wur­de der Tod ei­nes ita­lie­ni­schen LKW-Fah­rers an der deutsch-deut­schen Gren­ze, der sich le­dig­lich im Grenz­ge­biet ver­irrt hat­te – und auch noch Kom­mu­nist war. Span­nend Kram­pitz’ Fund­stück ei­nes Gedächtnis­protokolls des da­mals 35jährigen Pfar­rers Lo­thar Vos­berg, der den Be­such zwei­er MfS-Män­ner re­ka­pi­tu­lier­te und an sei­ne Vor­ge­setz­ten mel­de­te.

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Boua­lem San­sal: 2084 – Das En­de der Welt

Boualem Sansal: 2084 - Das Ende der Welt
Boua­lem San­sal:
2084 – Das En­de der Welt

Wenn Ge­sell­schaf­ten – aus wel­chen Grün­den auch im­mer – trotz ei­nes ex­or­bi­tan­ten Wohl­stands mit ei­nem dif­fu­sen Un­be­ha­gen der Zu­kunft ent­ge­gen se­hen, weil sie vor Um­brü­chen mit un­si­che­rem Aus­gang ste­hen, dann ist Zeit für dys­to­pi­sche Ro­ma­ne, die dann die eher harm­los da­her­kom­men­de (lei­der zu oft ba­na­le) Fan­ta­sy oder be­wusst tech­nik­af­fi­ne Sci­ence-Fic­tion-Se­lig­keit über­wuchern. Nicht zu­letzt in der ak­tu­el­len deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur gibt es ei­nen Trend zur Dys­to­pie, viel­leicht auch ein­fach nur, weil es im All­tag so gar kei­ne Aben­teu­er mehr zu er­le­ben gibt.

Bei Boua­lem San­sal sieht dies an­ders aus. Der 1950 in Al­ge­ri­en ge­bo­re­ne Au­tor fand erst spät zum li­te­ra­ri­schen Schrei­ben, avan­cier­te aber schnell zum be­kann­te­sten zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­ler sei­nes Lan­des und be­kam 2011 den Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels. Jetzt hat er mit »2084 – Das En­de der Welt« ei­nen Weltunter­gangsroman ge­schrie­ben. Das Buch war zu­nächst in Al­ge­ri­en nicht zu er­hal­ten und sorg­te für Dis­kus­sio­nen in Frank­reich. Seit Mai liegt es auch in ei­ner deut­schen Über­set­zung von Vin­cent von Wro­blew­sky vor.

Das deut­sche Feuil­le­ton be­fragt San­sal aus­gie­big, aber noch mehr möch­te man über sei­ne Ein­schät­zun­gen zur ak­tu­el­len po­li­ti­sche La­ge wis­sen, den Be­dro­hun­gen durch das, was man ge­mein­hin »Is­la­mis­mus« nennt. San­sal hält mit sei­ner Mei­nung nicht hin­ter dem Berg. Er be­zich­tigt be­son­ders die west­li­che Lin­ke als na­iv im Um­gang mit dem po­li­ti­schen Is­lam, was die­se zum An­lass nimmt, ihn in ei­ne neu­rech­te Ecke zu stel­len; das in­zwi­schen be­kann­te Ge­sell­schafts­spiel. Die Er­fah­run­gen, die San­sal in Al­ge­ri­en macht und ge­macht hat, wer­den hier­bei ger­ne her­un­ter­ge­spielt. Die Po­li­ti­sie­rung ei­nes sol­chen Ro­mans hat al­ler­dings meist zur Fol­ge, dass die Dis­kus­si­on we­ni­ger um das Buch als um die po­li­ti­schen The­sen des Au­tors kreist. Dies er­zeugt Er­war­tungs­hal­tun­gen, die je nach Ori­en­tie­rung ent­täuscht oder be­stä­tigt wer­den. Da­bei tritt dann die li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ei­nes sol­chen Bu­ches all­zu oft in den Hin­ter­grund.

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