2019 gewann die 1982 geborene Kärntnerin Julia Jost im Klagenfurter Bachmannpreis-Wettbewerb für ihre Erzählung Schakaltal den Kelag-Preis (das war damals ähnlich einer Bronzemedaille). Normalerweise werden derart erfolgreiche Texte rasch in fertige Bücher überführt, aber bei Jost mussten potentielle Leser fast fünf Jahre warten, bis heuer der fertige Roman vorliegt. Er trägt den zunächst schrecklichen, nach ...
Schon seit vielen Jahren galt bei den britischen Buchmachern der norwegische Autor Jon Fosse zum erweiterten Kreis der möglichen Literaturnobelpreisträger. Im Herbst 2023 sanken die Quoten immer deutlicher, so dass sich die Überraschung bei der Verkündung dann in Grenzen hielt. Fosse hat rund 40 Theaterstücke verfasst, schreibt Gedichte, Prosa, Kinderbücher und Essays. Er schreibt in Nynorsk, einer im 19. Jahrhindert aus traditionellen Dialekten konzipierten Sprache, die heutzutage nur von einer Minderheit von etwa 10–15% verwendet wird (die »Buchsprache« in Norwegen ist Bokmål). Sein Werk wurde bereits vor dem Nobelpreis in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Fosse selber übersetzte zahlreiche Werke englisch- und deutschsprachiger Autoren, darunter Franz Kafka, Thomas Bernhard und Peter Handke ins Norwegische. Seit 2022 ist er Mitglied der Deutschen Akademie der Künste in Berlin.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten übersetzt Hinrich Schmidt-Henkel Fosses Bücher, die zu großen Teilen im Rowohlt-Verlag erschienen sind. Dort wurde im letzten Jahr der letzte Band seiner Heptalogie aufgelegt, allgemein als das Opus-Magnum Fosses bezeichnet. Das deutsche Feuilleton scheint Fosse allerdings den Nobelpreis nicht zu verzeihen. So konnte man neulich lesen, Fosse sei ein »Nobelpreisträger mit dem Rosenkranz-Tick«. Der Hang des Norwegers, seinen katholischen Glauben in einzelne Figuren und Handlungen einzubauen, wird pauschal als Interpretationsgerüst angeboten. Nun ist es fast unmöglich im sich progressiv gebenden, selbstgefälligen deutschen Literaturbetrieb mit dem Etikett des »christlichen« Autors auch nur annährungsweise zu reüssieren.
Lichtspiel ist von Daniel Kehlmann, hat fast 500 Seiten und ist ein Roman, genauer: eine spezielle Form von Künstlerbiographie. Im Zentrum steht der deutsche Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst (1885–1967), der sich irgendwann G. W. Pabst nannte. Seit den 1920er Jahren galt Pabst zusammen mit Fritz Lang, Ernst Lubitsch und Friedrich Wilhelm Murnau als einer der ...
Vor dreieinhalb Jahren verfasste Uwe Wittstock mit Februar 33 eine akribisch geführte, rasant erzählte Stoffsammlung über die Veränderungen im deutschen Kulturbetrieb nach der Machtübernahme durch die Nazis am 31.1.1933. Schwerpunkte waren Berlin und München. Parallel zu den Sorgen und Nöten der Künstler, die nicht selten schnell lebensbedrohliche Ausmaße annahmen, gab es Erläuterungen, wie die Nazis ihre Macht zu festigen begannen. Dabei verblüffte, wie schnell und zugleich strukturiert die gesellschaftliche und juristische Infrastruktur transformiert wurde. In nur wenigen Wochen besetzte man wichtige Positionen in Verwaltung, Polizei und Justiz mit SA- oder NSDAP-Leuten.
Mit Marseille 1940 legt Wittstock nun abermals ein historisch grundiertes Buch vor. Diesmal werden die Fluchtwege der deutschen Exilanten, die in Frankreich Schutz gesucht hatten, nach dem Angriff der Wehrmacht im Mai 1940 erzählt. Untertitelte man Februar 33 als »Winter der Literatur«, so soll in Marseille 1940 »Die große Flucht der Literatur« gezeigt werden. Vielleicht wäre der im Vorwort entwickelte Begriff des »Dramas der zweiten Flucht« (nach Deutschland nun Frankreich) noch treffender gewesen.
»Nicht ich, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund.« Das ist der erste Satz dieses ungewöhnlichen Buchs mit dem Titel Ich? aus dem Jahr 1926, welches dankenswerter Weise nach fast einhundert Jahren wieder neu aufgelegt wurde. Es beginnt 1918 mit dem Ende des Krieges. Der Feldwebel Wilhelm Bettuch stolperte während des Rückzugs über die Leiche eines Doktor Hans Stern, eines »Gebildeten«. Fast ein bisschen schadenfroh, dass er, der Bäcker, im Gegensatz zum Arzt den Krieg überlebt hatte, nahm er den Pass des Toten reflexhaft an sich und schlüpfte mehr zerstreut als vorsätzlich geplant in die Rolle des Toten. Und so ertappte er sich dabei, nicht nach Frankfurt zurück zu fahren, zur Bäckerei seiner Mutter, sondern nach Berlin, wo Dr. Stern als Chirurg praktizierte und mit Frau Grete, dem kleinen Sohn und Hund Nero lebte.
Wie selbstverständlich wurde Wilhelm von Grete als Hans freudig empfangen und »ein blauer Strahl von unsäglicher Zärtlichkeit glänzte aus ihren Augen, und während Träne auf Träne unaufhaltsam über die Wange tropfte, öffneten sich die Lippen feucht und weich zu unlöslichem Kuss.« Er kann sein Glück nicht fassen, »es war alles Traum, ein Glück wie in der Luft, das gab es, man durfte nicht aufwachen, man musste sehr leise sein«. Er, der in der Schule unter seinem Namen gelitten hatte (»…in der Pause standen sie um mich, zogen mich an der Hose, an der Jacke, am Hemd. Bettuch, Tüchlein!«), gibt sich dieser wunderbaren Frau hin, die ihn liebt, »ich kann doch nichts dafür, dass ich schwach bin, dass ich sie liebe, ja, damals schon, sofort, ich sah ihr Gesicht und liebte sie und hatte keine Kraft, ihr zu sagen, dass ich es ja gar nicht war, dass sie einen anderen meinte mit ihren Küssen, einen andern liebte, einen andern, einen andern!«
Auch der stille Verehrer Gretes, Staatsanwalt Sven Borges, und die Freundin der Familie, Bussy Sandor, bemerkten nicht, dass ihnen ein anderer gegenüber stand. Nur der Hund biss ihn zur Begrüßung ins Bein. Insgesamt fügt sich Wilhelm problemlos ein. Nur manchmal kommt er sich wie Kaspar Hauser vor, »aus einem dunklen Keller, ich sehe Licht zum ersten Mal, zum ersten Mal einen Baum, eine Wolke, einen Stein, einen anderen Menschen, eine Frau, meine Frau, die Erinnerung kommt ganz langsam, man muss mir sehr viel Zeit lassen, ich bin wie krank, ich sehe alles ganz neu, ich erlebe alles zum ersten Mal.« In Bezug auf Grete entwickelt er, wie er erfährt, eine ähnliche Eifersucht wie Hans. Und er entdeckt »hinter der weißen Stirn« seiner Frau ihre »kleine Seele, krank«, sie »blutet aus tausend Wunden.« Groß die Überraschung als Bussy ihn in einem stillen Augenblick heimlich zu sich bestellte: Der Herr Doktor hatte ein Verhältnis mit ihr.
Auch als Arzt kam Wilhelm überraschend gut zurecht. Er nahm nach seiner Rückkehr die Arbeit sofort wieder auf, führte sogar eine Blinddarmoperation durch, freilich nicht ohne darüber nachzudenken, warum es diesen unnützen Appendix überhaupt gibt. Man setzt ihn als Gerichtsgutachter ein, schickt eine Blutprobe. Es soll untersucht werden, ob das Blut von der Angeklagten stammt oder, wie diese behauptet, von einem Hund. Mord oder Unfall? Eine einfache Untersuchung; er weiß sofort, was zu tun ist. Und das Ergebnis ist eindeutig.
Als er den Gerichtssaal betrat, staunte er nicht schlecht: Die Angeklagte war Emma Bettuch, seine Schwester, auch sie erkannte ihn, seinen Bruder, nicht und dieser hörte ihre Geschichte, ihre Reise nach Berlin, um Geld für die kranke Mutter zu verdienen, die Anstellung als Dienstmagd, die Aussicht, noch mehr als den Lohn zu erhalten, wenn sie sich dem Gutsherren hingeben sollte, was sie tat, »sie war beschmutzt, entehrt«, aber »es gab kein Geld«, und dann ihre Geschichte von diesem Hund, der den Mann in die Kehle gebissen hätte. Wilhelm/Hans wusste es besser, er wusste, es war Mord, aber er sagt etwas anderes, der Staatsanwalt, Sven Borges, der sich als Freund eingeschmeichelt hatte, gerät in Rage, aber »es ist alles gut, das Mädchen ist frei, sie geht schwankend hinaus, Emmchen, im Vorbeigleiten sehe ich ihre Züge, sie blickt mich an, sieht sie mich, mich, mich selbst?«
Einige unmassgebliche Bemerkungen zu Thomas Meaneys Thesen über die Bedeutungslosigkeit der zeitgenössischen deutschen Literatur
Man horcht auf. Schließlich ist von einem unausgesprochenen Skandal die Rede. »Das wirtschaftlich bedeutendste Land des Kontinents leidet sowohl an mangelndem literarischem Ehrgeiz als auch an mangelnder Präsenz. Jeder weiß, dass die Erben der Sprache von Kafka, Brecht und Mann heute so wenig gelesen werden wie seit Jahrzehnten nicht mehr.»1
Thomas Meaney liest im Vorwort der aktuellen Ausgabe des britischen »Granta«-Magazins der deutschen Literatur die Leviten. »Der letzte deutsche Schriftsteller, der einen größeren internationalen Durchbruch schaffte, war WG Sebald, der zwanzig Meilen von der österreichischen Grenze entfernt aufwuchs, die meiste Zeit seines Lebens in England lebte und sich selbst als Schüler von Peter Handke betrachtete.« Wie kann es sein, dass aus Österreich, der Schweiz und Rumänien (!)2 bessere deutsche respektive deutschsprachige Literatur geschrieben wurde? Meaney erklärt es dahingehend, dass die »führenden Persönlichkeiten« der österreichischen Nachkriegsliteratur »Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Peter Handke, Marlen Haushofer, Friederike Mayröcker, Elfriede Jelinek« sich nicht von ihren Vorläufern der Moderne (Kafka, Musil, Doderer, Broch) abgeschnitten hätten wie die Deutschen. »Als Böll nach dem Krieg begann, Romane zu veröffentlichen«, war es, so Meaney, »als hätte es die Moderne nie gegeben.«
2012 glänzte Maja Haderlap mit Engel des Vergessens Leser und Kritik. Hier erschrieb eine Autorin mit Leichtigkeit und Strenge ein immergültiges Denkmal über ihren Vater, der Großmutter und zugleich den Kärntner Slowenen, diesen »vielfach Versehrten«. Das Buch beeindruckte in seiner Vielschichtigkeit als Dorf- und Landschaftserzählung, Bildungsroman, Geschichtsbeschreibung und spannte einen epischen Bogen in die Familie der Erzählerin. Und nun also, vielfach erwartet, ja ersehnt, nach mehr als zehn Jahren Nachtfrauen, der neue Roman.
Nachtfrauen ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil, der ziemlich genau zwei Drittel des Buches einnimmt, erzählt aus personaler Sicht von Mira, die in heikler Mission zu ihrer Mutter nach Kärnten fährt. Mira ist Kärntner Slowenin, lebt aber seit ihrem Studium in Wien, wurde widerwillig zu einem »Stadtmenschen«. Sie arbeitet als Fachreferentin im Kulturbetrieb und ist verheiratet mit Martin, einem Lehrer. Das Paar ist kinderlos, die Ehe ist nicht spannungsfrei. Sporadisch besucht sie ihre Mutter. Ihr Vater, ein Waldarbeiter, kam bei der Arbeit ums Leben. Mira wurde hierfür eine Mitschuld gegeben. Der Tod des Vaters bzw. Ehemanns hat das Leben der Familie komplett verändert.
Anni, die Mutter, körperlich leicht gebrechlich, soll aus ihrem Haus in ein Heim umziehen, damit Franz, Miras Cousin, das Gebäude zu einer Tischlerwerkstatt umbauen kann. So wurde es beschlossen. Anni wehrt sich, formuliert Bedingungen, etwa, dass ihre Sammlung von Bauernwerkzeug vorher in ein Museum verbracht werden soll. Stanko, Miras Bruder, ist mit der Situation überfordert. Miras Besuch ist auf zwei Wochen angesetzt; es ist Frühling und bis Ende des Jahres soll der Auszug Annis stattgefunden haben. Es geht um Baugenehmigungen und Fristen.
Austrian Psycho ist ein Versuch, das intellektuelle Österreich von Jack Unterweger zu exorzieren.
»Alles ist Verwandlung.« So beginnt der Journalist und Publizist Malte Herwig seine Biographie Meister der Dämmerung über den Schriftsteller Peter Handke. Und er fügt hinzu: »Wer die Biographie eines Künstlers schreibt […], sollte sich eine Neugier auf die Metamorphosen bewahren, die zwischen Kunst und Welt hin- und herführen.« Herwigs Neugier beschränkt sich nicht nur auf Künstler wie Handke. Das Thema der »Verwandlung« ist der rote Faden in all den bisherigen größeren Recherchearbeiten Herwigs. Da sind die Flakhelfer, 17, 18jährige, die 1944/45 Mitglied in der NSDAP geworden waren, und dies, so das Ergebnis der Nachforschungen, mit ihrem ausdrücklichem Wunsch, da es keine »automatischen« Parteimitgliedschaften gab. Aber diese Menschen wurden nach 1945 zu Säulen der neuen, demokratischen und pluralistischen Bundesrepublik. Herwig wollte nicht die Lebensleistung dieser Leute diffamieren. Es ging um die Suche nach der Erklärung der Verwandlung von verblendeten Nazi-Anhängern zu Demokraten. Eine andere Metamorphose erlebte er bei der Picasso-Geliebten Françoise Gilot, die sich irgendwann dem vermeintlichen Genie als bloße Gespielin verweigert hatte, ihren eigenen Weg ging und eine angesehene Malerin wurde – trotz aller Anfechtungen und Ranküne aus dem Betrieb. Einige Jahre später konzipierte Herwig einen wunderbaren Podcast über die sogenannten Hitler-Tagebücher. Der Verwandlungskünstler hieß diesmal Konrad Kujau, der sich als imaginärer Adolf Hitler in eine Art Rausch geschrieben hatte. Aufklärerisch wollte dieser Betrüger nicht wirken, sondern nur sein Vermögen aufbessern. 2021 entdeckte Herwig die Verzauberungen des »Großen Kalanag« alias Helmut Schreiber, eines Magiers, der nicht nur die Varietés in Europa und Amerika, sondern auch seine Nazi-Sympathie als Alleinunterhalter bei der Familie Göring Weihnachten 1938 »verwandelte«.
Nun also der Frauenserienmörder Jack Unterweger. 2022 recherchierte Herwig für den insgesamt sechsstündigen Podcast »Jack. Gier frisst Schönheiten«. Auch hier beließ er es nicht bei den üblichen Erklärungen, die man in jeder True-Crime-Doku zu hören bekommt. Herwig besuchte die Heimatkeusche Unterwegers in Kärnten, fand Zeuginnen, die ihn kannten, mit ihm als Kind zusammenlebten. Er zitiert aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Unterwegers »Gedichten« (die zumeist Plagiate sind), seinem gefeierten Roman Fegefeuer und den anderen, weniger brillanten Büchern, die danach entstanden. Es gibt Originalmitschnitte aus Interviews mit Unterweger, den Reportagen und seinen Telefongesprächen mit der Ex-Verlobten. Er befragte ehemalige Geliebte, Ermittler, den stellvertretenden Gefängnisdirektor, der Unterweger immer durchschaute, dessen Urteil jedoch niemand hören wollte. Bei aller Faszination über die Verwandlungsfähigkeit Unterwegers, werden die Taten und deren Opfer nie vergessen. Vieles war neu, wie auch Elfriede Jelineks Sprachnachricht, in der sie fast fehlt, herauszubekommen, wer Fegefeuer wirklich geschrieben hat.