»Scherben« ist ein sehr gut konstruiertes Buch mit einfach nachvollziehbaren Vor- und Rückblenden. Zum einen wird die Eingewöhnung des bosnischen Flüchtlings Ismet Prcić in den USA erzählt. Es wird zitiert aus dem Tagebuch und Briefen an seine Mutter (wobei offen bleibt, ob diese Briefe jemals verschickt werden). Und schließlich gibt es irgendwann immer häufigere, realistische, landserartige Berichte vom Frontsoldaten Mustafa Nalić, einem Jungen, dem der Ich-Erzähler bei der Musterung begegnet und im Laufe des Buches zu Ismets Schatten, seiner zweiten Existenz wird. Er fabuliert die Lebensgeschichte von Mustafa und als er dessen Grab entdeckt, erspürt er, dass Mustafa tatsächlich noch lebt. Alles dies erlebt der Leser als therapeutische Maßnahme, die Ismet von seinem amerikanischen Arzt »verordnet« wurde um seine posttraumatische Belastungsstörung irgendwie in den Griff zu bekommen. »Jeder ist der Held seiner eigenen Märchen«, so paraphrasiert Ismet seinen Arzt – und handelt danach: »Mach dir keine Gedanken, was wahr ist und was nicht, damit machst du dich nur verrückt. Schreibt einfach nur. Schreib alles auf.«
Also wird die Geschichte Ismets und seiner Familie erzählt; der zupackenden Mutter (sie war »streng aus Liebe«) und dem eher zaudernden, schwachen Vater. Und die schleichenden Veränderungen im Jugoslawien Ende der 80er Jahre, die immer mehr die Volkszugehörigkeit thematisierten. Der Erzähler, damals noch ein Kind, verachtet sowohl diese Re-Nationalisierung als auch die Phrasen des sogenannten »Kommunismus«. Später besteht das Weltbild Ismets dann – grob gesprochen – aus Schweinefleischessern und Nicht-Schweinefleischessern. In Jugoslawien sind dann alle Schweinefleischesser irgendwie Tschetniks; Grautöne sind des Erzählers Stärke nicht, was womöglich gewollt ist. Durch seine Zugehörigkeit zu einer Schauspieltruppe kann Ismet seine Einberufung ins Militär verzögern. Schließlich wird man wird sogar zu einem Festival nach Schottland eingeladen; die Fahrt mit dem Bus vom kriegumtosten Land bis zur Atlantikküste ist, insbesondere was die Tour durch den Balkan angeht, eine burleske Odyssee. Immer häufiger dabei: Das »schlechte Gewissen« in Form von Mustafa Nalić und dessen Erlebnisse voller »Dreck, Blut und Krieg« samt aufgespießten Kinderköpfen (und dabei unweigerlich die Assoziation an abgeschlagene Hühnerköpfe durch die Großmutter).
Die in die Gegenwart führenden Tagebuchaufzeichnungen zeigen deutlich, dass Ismet in den USA nicht zurechtkommt. Wenn er nicht gerade liest (u. a. Hermann Hesse), feiert er exzessive Parties und nimmt Drogen, insbesondere als seine Freundin ihn verlässt. Effektvoll wählt der Autor die traumatischen Erlebnisse Mustafas, die Ismet sozusagen adaptiert hat, durch am Ende typografisch immer größer werdende Lautmalereien; von WUMM über WUMM bis WUMM.
Manchmal gelingen in diesem »Gedankengewimmel« (Selbstcharakterisierung des Erzählers) dichte Szenen. So ist zum Beispiel eine Episode, die sich in einem Villenviertel in den USA ereignete, gekonnt balancierend zwischen Bedrohung und Situationskomik. Der Erzähler hört dort einige Menschen »bosnisch« reden und bringt sich in das Gespräch ein. Man fragt ihn, ob er in der Armee gedient habe – das ist ja exakt Ismets innerer Konflikt. Er bejaht, worauf er mit unglaublicher Höflichkeit zu einem großen Fest eingeladen wird. Man hält sogar eine kleine Rede auf den »Kriegshelden«. Irgendwann merkt er dann, dass das etwas nicht stimmt. Als in einem Raum ein Schwein gegrillt wird, ist klar: Er hat es mit feiernden bosnischen Serben zu tun (für Ismet »Möchtegern-Serben«); trinkfeste und waffenliebende Gesellen, die ihn für einen der ihren halten. Als man ihm ein Stück Fleisch serviert, übergibt er sich auf den Teller, was die Gastgeber als Reaktion auf den reichlich genossenen Alkohol interpretieren. Im letzten Moment gelingt es mit Hilfe seines herbeigerufenen Freundes die Veranstaltung zu verlassen. Was wohl passiert wäre, hätte man ihn »enttarnt«? Die Botschaft dieser eigentlich umwerfenden Szene ist dann wieder charakteristisch: Selbst in den USA sind alle Serben Tschetniks. So einfach kann die Welt sein.
Ist nun Ismet Prcić gleichzusetzen mit dem Autor Ismet Prcic? Ist das »ć« ein Unterscheidungsmerkmal oder einfach nur ein Fehler des Lektorats? (Es findet sich auch im englischen Original.) Die Nähe der Erzählfigur zum Autor ist sicherlich intendiert, da Authentizität und Identifikation erzeugt werden sollen; die beiden dominierenden Götter des literarischen Feuilletons. Gleichzeitig wird jedoch vom Erzähler einer allzu biografischen Lesart mehrfach ausdrücklich vorgebeugt: »Ich versuchte, mich an die Fakten zu halten. Aber während ich schrieb, schlichen sich andere Sachen ein – kleine erfundene Geschichten.« Prcic spielt mit seinen Lesern und Interpreten, in dem er das Autobiographische einerseits einschränkt, andererseits offen lässt.
Das Verfahren ist natürlich legitim, zumal es der Autor hin und wieder benötigt, um sein gespaltenes Ich zu dokumentieren. Aber man darf sich damit nicht die Frage nach der Literarizität des Romans ersparen. In den USA gab es viel Lob. Auch in Deutschland finden sich Fürsprecher, wie etwa Saša Stanišić, was erstaunt, denn Stanišićs Roman »Wie der Soldat das Grammophon repariert« fand ich nicht nur literarisch auf weit höherem Niveau, sondern auch deutlich vielschichtiger (und, en passant, unterhaltsamer). »Scherben« bedient allzu offensichtlich das politisch-emotionale Kalkül, in dem es die Protagonisten der Jugoslawien-Kriege in den gängigen Mustern nicht nur zeigt, sondern festschreibt. Trotz immensem Aufgebot bleiben die Figuren zumeist seltsam steril, sehr leicht ausrechenbar und wirken dabei wie Stereotypen. Sprachlich tendiert Prcic allzu oft zum Straßenjargon und vermischt dies mit pseudocool inszenierter Melodramatik. Die diversen Erzählstränge erzeugen zunächst eine durchaus interessante Polyphonie der einzelnen Lebensabschnitte des Erzählers. Am Ende werden dann aber all die vagen, anregenden Andeutungen allzu schreibschulhaft-beflissen aufgeklärt; es bleibt kein Geheimnis mehr. Der assoziative Schluss, in dem sich alles verdichtet (Kerker, USA, Geschützlärm, Luftangriffe) und dann das »Scherben«-Motiv entsteht, versöhnt nur bedingt. Ich klappe das Buch ohne Bedauern zu.
Tuzla gehörte schon immer zu Bosnien, nicht nur im heutigen.