Geht wäh­len

Ich se­he und hö­re sie über­all: Die Ap­pel­le, wäh­len zu ge­hen. Zur Eu­ro­pa­wahl. Eu­ro­pa ist doch so toll. Ge­meint ist nicht der Kon­ti­nent, son­dern die Eu­ro­päi­sche Uni­on. Im Über­schwang setzt man das schon mal gleich. Denn die­se Eu­ro­päi­sche Uni­on ist wirk­lich toll. Sie ist auch – das weiß man seit der Grie­chen­land­kri­se – ei­ne »Schick­sals­ge­mein­schaft« (Mer­kel). Wie die­se Wahl ei­ne »Schick­sals­wahl« ist, wie ich le­se. Wer so alt wie ich, kennt das. Schick­sals­wah­len wa­ren die Bun­des­tags­wah­len 1972, 1976, 1980 (Strauß!), spä­ter dann ro­te Socken, usw. Al­le vier Jah­re Ab­grund. Aber wer glaubt dem Spaß­vo­gel noch, der im­mer »Feu­er« ruft?

Ich weiß aus ei­ge­ner An­schau­ung wie toll die EU ist. Sie hat mein Le­ben ver­än­dert. Und das toll­ste: Sie wird es wei­ter tun.

Ich ar­bei­te­te im Che­mie­han­del – Im­port und Ex­port. Nicht ganz ein­fach, vor al­lem wenn sich gro­ße Wett­be­wer­ber nicht an die (ge­setz­li­chen) Re­geln hal­ten. Nun, wir ar­bei­te­ten im­mer in klei­nen Fir­men, die sich Ver­stö­sse nicht lei­sten konn­ten. Vor rund zwan­zig Jah­ren er­zähl­te mir ein Kol­le­ge, die EG (der Vor­läu­fer der EU – nicht so toll wie die EU heu­te) pla­ne ein Weiß­buch für al­le Alt­stoff­che­mi­ka­li­en. Die wa­ren in den 1980er Jah­ren auf ih­re Ge­fähr­lich­keit und To­xi­zi­tät ge­te­stet und da­hin­ge­hend ent­spre­chend für Trans­port, La­ge­rung und An­wen­dung ein­ge­stuft wor­den. Das wol­le man än­dern: Dem­nächst müs­se je­der, der die­se Stof­fe han­delt – al­so nicht nur die Her­stel­ler – die Ge­fähr­lich­keit bzw. Un­ge­fähr­lich­keit noch ein­mal neu nach­wei­sen. An­dern­falls dür­fe man sie ir­gend­wann nicht mehr han­deln.

Ich lach­te ihn aus. Ein paar Jah­re spä­ter lach­te er – über mich. Da be­gann REACh (Re­gi­stra­ti­on, Eva­lua­ti­on, Aut­ho­ri­sa­ti­on and Re­st­ric­tion of Che­micals), die neue Che­mi­ka­li­en­ver­ord­nung der EU, Ge­stalt an­zu­neh­men. Na­tür­lich trat die an­ge­streb­te »Ver­ein­fa­chung« und Bün­de­lung al­ler bis­he­ri­gen Che­mi­ka­li­en­richt­li­ni­en auch ein – al­ler­dings nur für die Groß­che­mie und das pro­du­zie­ren­de Ge­wer­be.

Un­se­re Chefs sind mit un­se­ren Pro­duk­ten nicht in den Pro­zess ein­ge­stie­gen. Man müss­te zwi­schen T€ 200 und T€ 500 pro Stoff be­zah­len, um in ei­nem so­ge­nann­ten Kon­sor­ti­um zu­sam­men mit den Her­stel­lern die neu­en Un­ter­su­chun­gen der Stof­fe je nach An­wen­dungs­be­reich an­zu­ge­hen. Die Groß­che­mie hat am En­de die per­fek­te Kon­trol­le über Wa­ren­strö­me. De­vi­sen- und Preis­ge­fäl­le kann man nicht mehr als Händ­ler aus­nut­zen. Hier­für sind die Mar­gen zu ge­ring. Es be­traf na­he­zu al­le Stof­fe, die wir han­del­ten. Au­ßer Che­mi­ka­li­en, die in Le­bens­mit­teln An­wen­dung fin­den. Die han­del­te ich nicht. Aber wir wa­ren be­ru­higt, dass die Le­bens­mit­tel­zu­satz­stof­fe nicht neu ana­ly­siert wur­den.

In­zwi­schen bin ich ar­beits­los, aber das hat nur zum Teil mit die­ser Che­mi­ka­li­en­ver­ord­nung zu tun. Im­mer­hin wird das Queck­sil­ber wie­der ver­stärkt in den Stoff­kreis­lauf ein­ge­führt – so­zu­sa­gen raus aus den Fie­ber­ther­mo­me­tern und di­rekt in die neu­en En­er­gie­spar­lam­pen. Und die nach­weis­lich krebs­er­zeu­gen­den Tex­til­farb­stof­fe wer­den di­rekt auf die Tex­ti­li­en in Fern­ost auf­ge­bracht und dann erst mit den fer­ti­gen Pro­duk­ten nach Eu­ro­pa ex­por­tiert. (Geht mal im Som­mer nach La­den­schluss an den Schau­fen­stern von Bil­lig­lä­den vor­bei – und dann am näch­sten Mor­gen wie­der: al­le In­sek­ten, die sich ver­irrt ha­ben, dürf­ten tot sein.) Läuft al­so.

Auch an­de­re Ver­ord­nun­gen der Eu­ro­päi­schen Uni­on sind pri­ma. Die Da­ten­schutz­grund­ver­ord­nung et­wa. Goog­le und Face­book be­die­nen sich zwar wei­ter (wenn ich sie denn las­se), aber we­nig­stens darf der Hun­dert­jäh­ri­ge in der Zei­tung nicht mehr oh­ne sei­ne Zu­stim­mung ge­nannt wer­den. Oder die neue Ur­he­ber­rechts­re­form. Das ist wirk­lich toll, wie man die Pro­ble­me un­se­rer Zeit dort löst. Da­bei kann sich das Par­la­ment nicht ein­mal auf ei­nen Ort ei­ni­gen, an dem es tagt. Es zieht mehr­mals im Jahr um. Ko­stet aber nur 200 Mil­lio­nen Eu­ro. Ver­mut­lich ist das nur we­gen der Ar­beits­plät­ze. Ja, so toll ist die Eu­ro­päi­sche Uni­on.

Die Eu­ro­päi­sche Zen­tral­bank ist auch toll. Sie kauf­te jah­re­lang Staats­an­lei­hen, druck­te al­so un­ge­niert Geld. Rech­nung folgt. Gleich­zei­tig möch­te man die In­fla­ti­on auf 2% hal­ten. Die paar Gro­schen, die man sich so er­spart hat, lö­sen sich al­so suk­zes­si­ve auf. Gut so, denn was sol­len sie auf dem Kon­to? Sie müs­sen kon­su­miert wer­den.

Die Eu­ro­päi­sche Uni­on ist ein Frie­dens­pro­jekt und »al­ter­na­tiv­los«. Oh­ne die Eu­ro­päi­sche Uni­on hät­ten wir schon längst Krie­ge bei­spiels­wei­se mit der Schweiz und Nor­we­gen an­ge­fan­gen. Al­le gu­ten Men­schen mö­gen die Eu­ro­päi­sche Uni­on. Al­so diese Eu­ro­päi­sche Uni­on. Wer sie nicht mag, ist ge­gen den Frie­den oder gleich ein Het­zer.

Nur: Man wählt ja nicht die Eu­ro­päi­sche Uni­on. Man wählt ein Par­la­ment, dass – freund­lich ge­sagt – viel be­schlie­ßen aber we­nig be­stim­men kann. Das sagt ei­nem in die­sem tol­len Wahl­kampf erst ein­mal nie­mand. Herr We­ber möch­te zum Bei­spiel im Eu­ro­päi­schen Par­la­ment ei­nen Ma­ster­plan ge­gen Krebs durch­set­zen. Löb­lich, aber wie geht das? Will er ei­ne EU-Richt­li­nie ge­gen Krebs durch­set­zen? Und er will Bü­ro­kra­tie ab­bau­en, d. h. die Bü­ro­kra­tie, die er sel­ber seit 15 Jah­ren mit er­zeugt hat. Die Grü­nen und die FDP dro­hen gleich da­mit, ein »neu­es Eu­ro­pa« zu schaf­fen. Die SPD schickt Frau Bar­ley ins Ren­nen. Sie möch­te ein Eu­ro­pa der »Bür­ge­rin­nen und Bür­ger«. Hat­ten wir bis­her ein »Eu­ro­pa« der Stei­ne, Hun­de oder Bäu­me? Man weiß es nicht so ge­nau. Frau Bar­ley hat bis­her ja kaum durch Sach­kennt­nis ge­glänzt. Jetzt geht sie dort­hin, wo man wirk­lich kei­ne braucht.

Kei­ne Sor­ge: All die­se Ver­spre­chen wer­den nicht er­füllt wer­den. Da­für an­de­re Sa­chen, wo­von vor­her nie die Re­de war. Al­so: Geht wäh­len. Und wer­det über­rascht!

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3 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich weiss gar nicht, ob bei so ei­ner of­fen­sicht­li­chen Ver­ar­schung Iro­nie noch ein ge­eig­ne­tes Mit­tel ist, die Lä­cher­lich­keit die­ses „Wahl­kampfs“ dar­zu­stel­len. Ich emp­fin­de nur noch Wut, weil das ein­zi­ge Ar­gu­ment, „Wir, die EU, wer­den an ei­nem Krieg ge­gen den Iran nicht teil­neh­men!“, weil nur so ei­ne kla­re Aus­sa­ge mich und si­cher auch an­de­re zu ei­ner Stimm­ab­ga­be be­we­gen könn­te. Weil aber ge­nau das nicht ge­sagt wird, kön­nen sich die­se gan­zen Ver­sor­gungs­pöst­chen an­stre­ben­den „Par­tei­en“ ih­re Wahl­far­ce in die Haa­re schmie­ren.