Christian Wulff spricht frei, ohne Unterlagen. Vielleicht ist es deshalb ein bisschen unfair, seine Worte derart zu gewichten, wie man dies bei anderen Texten machen soll. Aber das gestrige Interview des Bundespräsidenten zeigt auch unter Berücksichtigung dieser besonderen Situation das Verständnis Wulffs zum Amt und zur Politik an.
Zunächst beginnt Wulff in der »Ich«-Form. Bezeichnend ist dabei, dass er auf die Frage nach einem Rücktritt über seine »grosse Unterstützung« redet (»ich hatte…grosse Unterstützung«). Es ist dann fast schon frech, wie er das Amt im Opfergestus als Pflicht instrumentalisiert: »ich nehme meine Verantwortung gerne wahr«. Dabei wird durch den Einschub »gerne« die Pflicht relativiert, um dem drohenden Einwand, dass er sich freiwillig in das Amt habe wählen lassen, vorauseilend zu begegnen. Jeder Kellner wird auf ein solches »gerne« geschult, wenn ein Gast einen Wunsch äußert.
Auch in der Entschuldigung für seinen Anruf bei Diekmann und Döpfner verbleibt Wulff noch beim »ich«. Kurz darauf driftet er jedoch in das distanzierende »man«. Es sei »menschlich«, wenn »man« so reagiere und »man sich auch vor seine Familie stellen« wolle. »Man fühlt sich hilflos«, sagt Wulff. Und »man muss…als Bundespräsident die Dinge so im Griff haben«, dass man sich nicht hinreißen lasse. »Man« mache eben Fehler.
Aber die Trennung zwischen »ich« und »man« ist mehr als nur Distanzierung. Wulff spaltet sich auf – hier gibt es den Bundespräsidenten, der nach bestimmten Regeln zu agieren habe und dort den Menschen Christian Wulff. Fast verzweifelt reklamiert er dann irgendwann sogar »Menschenrechte für den Bundespräsidenten«, als seien diese durch die bisherige Berichterstattung tangiert. Ich dachte kurz an Fausts Osterspaziergang – »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein«.
Im Laufe des Interviews fügt er noch einen dritten Wulff hinzu: den ehemaligen Ministerpräsidenten: »…ob man als Ministerpräsident Akteur ist oder ob man als Staatsoberhaupt den präsidialen Anforderungen genügt…« heisst es einmal, um auf die Unterschiede der beiden politischen Ämter hinzuweisen. Und auf seine Urlaubsreisen bei »Freunden« angesprochen wird er (für seine Verhältnisse) fast polemisch: »Wenn man als Ministerpräsident keine Freunde mehr haben darf...«
Einige Male appelliert Wullf auch an das Verständnis und spricht die Fragenden (stellvertretend für das Publikum) direkt an: »Wenn Sie die Erfahrung machen«, »…das würden Sie doch genau so sehen…«. Seine Dünnhäutigkeit versucht er mit einer persönlichen Ansprache zu rechtfertigen: »…wenn Sie 400 Fragen bekommen« (die er durch seine Anwälte beantwortet habe, wie er betont). Einmal gelingt es ihm dann mit dieser Methode Bettina Schausten zu verunsichern. Als sie fragt, was dagegen gesprochen habe, pro Nacht vielleicht 150 Euro zu bezahlen, fragte Wulff zurück: »Machen Sie das bei Ihren Freunden so?« Schausten konnte nun nicht mehr anders als »Ja« zu sagen – was natürlich ziemlich unwahrscheinlich klang. Statt diese Situation mit Schweigen für sich zu wenden, legte Wulff dann nach: »Dann unterscheidet Sie das von mir in dem Umgang mit den Freunden« und verfiel sofort wieder in die Spaltung zwischen Person und Ämtern (»..jetzt als Bundespräsident habe ich gesagt…«).
Wie konsequent Wulff die Aufspaltungen exerziert war bei der Beantwortung der Fragen über Details seines Kredits zu sehen. Hier blieb er in der »Ich«-Form, auch als er über seine spitzfindige Auskunft vor dem niedersächsischen Landtag angesprochen wurde (»hätte ich sagen sollen«).
Ohne das Interview hinsichtlich der Äußerungen Wulffs bewerten zu wollen – aber es zeigt ein interessantes Verständnis von einer Trennung zwischen Funktionsträger und Person. Natürlich ist es eine Banalität zu betonen, dass man »auch« Mensch sei. Niemand würde dies bestreiten wollen. Wulffs Vorstellungen basieren jedoch auf einer seltsamen Separierung zwischen privat und öffentlich. Dabei bestimmt ausschließlich er, was öffentlich und was privat ist. Mit einer Selbstverständlichkeit sondergleichen betont er, dass seine Freunde in Berlin auch umsonst übernachten dürften. Damit zeigt er, dass er die Brisanz einer solchen Verquickung (beispielsweise bei Maschmeyer) nicht verstanden hat.
Auf die Frage ob er Deutschland liebe antwortete Gustav Heinemann (Bundespräsident von 1969–1974): »Ich liebe nicht den Staat, ich liebe meine Frau«. Heinemanns Distanzierung war glaubhaft, da es von ihm weder Glamourbilder noch Homestories gab. Bei Wulff wirkt eine solche Separierung wie eine Ausrede.
Mir hängt das Thema schon zum Hals raus. Gerade WIE darüber berichtet wird macht mich würgen. Wenn in WDR5 Hörerdiskussionen gestartet werden und das Ganze so emotionalisiert wird. Da kommen mir manche Journalisten oder Studiogäste schon vor wie Berufsempörer oder/und ‑erreger. Wulff ist ein Thema, weil es ein Thema ist und man erregt die Massen, um diese Erregung wieder einzufangen, positive Rückkoppelung.
Wirklich eklig finde ich dann solche Kurzanrisse wie diesen zu einem Artikel auf Zeit.de:
»Vordergründig bereut Christian Wulff, doch in Wirklichkeit inszeniert er sich als Opfer der Medien. Gut möglich, dass die Show gelingt.«
Als hätte der Schreiberling persönlich in Wulffs Synapsen herumgeprokelt und gesehen dass dieser nicht »wirklich« bereut. Und mit wem könnte er sich denn schon als Opfer inszenieren, doch auch nur medial. Ich traue mich ja schon gar nicht mehr genau hinzuschauen oder zu lesen. Irgendwer müsste aber dringend einmal eine Pathologie unsrer Medien»wirklichkeit« umreißen.
PS. Ich merke, dass ich mich gerade vielleicht zu sehr über diese Sätze von Zeit.de aufgeregt habe. Nüchterner betrachtet, könnte man sie auch sachlicher lesen – aber es ist vielleicht gerade dieser (boulevardeske?) Unterton, diese Unterstellung, diese schnöde Tendenz, die macht, dass ich schreiend davon laufen möchte..
Vielleicht ist das ja der Kollateralschaden der medialen Republik: Ein Thema wird so lange verwurstet, dass es den meisten ganz schnell gleichgültig wird. Mich stören auch einige sehr mokante Einlassungen von Journalisten und da stimme ich jemanden wie Küppersbusch zu: »Es regen sich jetzt Journalisten auf, die alle beim Autokauf ihren Journalistenrabatt wollen, die alle beim Gratisflug mit der Kanzlerin vorne sitzen wollen, die also alle schon mal auch gerne einen Vorteil mitnehmen.« Aber es gilt auch Broders Diktum: »Dann soll er entscheiden, was ihm wichtiger ist: Präsident sein oder sich Geld zu extrem günstigen Bedingungen von Freunden leihen, die ihrerseits ihr Geld unter teilweise dubiosen Bedingungen gemacht haben. Niemand wird gezwungen, in die Politik zu gehen, es gibt genug anständige Berufe, in denen man keine Rechenschaft darüber geben muss, ob man im »Ritz« oder auf dem Klappsofa von Freunden genächtigt hat.«
Wenn »Bild« jetzt die Original-Nachricht von Diekmanns Band abdrucken will, ist dies genau so schäbig wie Wulffs dreiste Verharmlosungen. Bisher war der Bundespräsident mindestens eine Autorität (auch wenn ich eigentlich alles nach Weizsäcker nicht besonders prickelnd fand). Wulff zeigt aber exemplarisch den Abstieg einer sich selbst gefallenden politischen Klasse. Überhebliche Journalisten hin oder her. Und ob einem das Thema zum Hals raushängt ist dann auch nicht mehr so wichtig – finde ich. Da muss man als Staatsbürger einfach durch.
Den ZEIT-Artikel »Neue Details im Fall Wulff« kommentierte der Leser »Zeitenhieb« dort bereits am 20.12.2011 wie folgt:
Besser die Warheit – Menschen bei Maschmeyer
Wulffs Anwälte dementieren.
Wulff wusste nicht, dass er das nicht wusste.
Denn eigentlich war es eine entfernte Verwandte der Frau eines Freundes des Schwagers, die nicht wusste, dass der Kredit für die Anzeigenkampagne des Buches – das in Warheit nicht Wulff, sondern sein Pferd geschrieben hat (das Pferd war nur umsonst geliehen, aber nie gekauft, von wem auch immer) und mit dessen Einnahmen das Haus finanziert wurde, von dem Wulff nicht wusste, dass er darin lebt – dass also dieser Kredit nichts, aber auch gar nichts mit kostengünstigen Urlaubsaufenthalten in Unterkünften von Geschäftsleuten, die sonst nichts mit Wulff zu tun hatten und sich nicht mehr daran erinnen können, warum sie ihn eigentlich eingeladen hatten und wer er überhaupt ist, zu tun hat.
Hätte Wulff selbst gewusst, dass er nicht wusste, dass ein Freund, der ihn eigentlich gar nicht kannte, für das Buch seines geliehenen Pferdes (dessen Namen er vergessen hat) eine für ihn kostenfreie nie von ihm wahrgenommene Anzeigenkampagne in ihm unbekannten Medien wie sogenannten ‘Zeitungen’ gesponsort hattte, hätte er keinen Grund gehabt zu dementieren, dass es gar nichts zu dementieren gibt.
Abgesehen davon, kam dieses Dementi nicht von ihm, sondern von irgendwelchen Anwälten, die er nicht näher kannte. Er, Christian Wulff, hat im Grunde weder mit dieser Sache, noch mit irgendeiner anderen, noch mit sich selbst, irgendetwas zu tun.
Besser kann man die »Kommunikationsstrategie« unseres Staatsoberhauptes schwerlich auf den Punkt bringen. Daß Christian Wulff sich weiterhin verbal windet, ist längst nicht mehr lustig, sondern nur noch lächerlich (und entwürdigend).
@Ralph Stenzel
Dein Zitat hat mich daran erinnert, dass im gestrigen Interview die Buchsponsor-geschichte nicht thematisiert wurde. Wie auch immer.
Sicherlich ist aus meinen Ausführungen deutlich geworden, dass ich von Wulff als Bundespräsident wenig bis nichts halte. Aber wenn ich jetzt mitbekomme, wie die »Bild«-Zeitung offensichtlich zum finalen Todesstoss ausholt, wird mir ein bisschen mulmig zumute. In einem »offenen Brief« bittet Diekmann darum, eine Abschrift des Bandes zu veröffentlichen. Er halte dies für »notwendig« schreibt er – als käme es darauf an. Er schreibt übrigens nicht, was er macht, wenn Wulff keine Zustimmung gibt. Woher kennt man so etwas eigentlich?
Erhellender noch als Diekmanns vor Scheinheiligkeit triefender Brief sind die beigefügten Anlagen. Daraus geht hervor, dass man an das Bundespräsidialamt an einem Sonntag um 06:49 Uhr eine Mail schickt und
ultimativ»freundlich« um Beantwortung bis 16 Uhr ersucht. Wenige Stunden später stimmt man gnädig zu, die Frist 24 Stunden zu verlängern und bittet scheinheilig um »Verständnis, dass ein weiterer Aufschub der geplanten Berichterstattung danach nicht möglich ist.« Springt man so eigentlich mit einem Bundespräsidenten um? Wo ist denn da die so oft beschworene »Würde des Amtes«?Gewinn durch Verrat
Offen gestanden kann ich dem ganzen Aufklärungs-Theater kaum noch was abgewinnen: Auch ich merke, wie ich eher übersättigt, teils angeekelt bin, von der heuchlerischen Unschuld Wulffs ebenso wie von der andauernd ihr wissendes Beteiligtsein verlangenden Öffentlichkeit.
Aber dass jetzt ausgerechnet das kampagnen-steuernde BILD als aufrechtes Unabhängigkeitsorgan einer (dann doch so oft PR-kontaminierten wie Partikularinteressen-geleiteten) Pressefreiheit da stehen will, ist eine mehr als verräterische Volte. Auf „Wahrheit“ kommt es bei all dem schon lange nicht mehr an: die brechen wir schon längst vereinfachender Weise herunter auf die ersatzweisen Fakten). Das mit den Grenzen (denen wohl vor allem des Scheins), die einzuhalten sind, das ist „bei uns“ eben so. Und eben damit scheint es dann auf eine verdrehte Weise trotzdem irgendwie falsch.
Ich glaube, was bei vielen mitspielt (und ich vermute, ein bisschen auch bei mir), ist die seinerzeit verpasste Chance, statt einen Proporz-Typen, einen in allem blassen Provinz-Polit-Profi einen wie Gauck zu gewinnen. Ich denke auch, das wäre seit Weizsäcker endlich mal wieder jemand gewesen.
Was ich außerdem nicht ganz verdrängt kriege: Ich habe einmal mit Wulff telefonieren müssen (in einer ganz unbedeutenden Angelegenheit). Aber ich habe noch den freundlichen, auch in einer minderen Sache dem minderen Begehren gegenüber aufgeräumt-souveränen Mann im Ohr, einen, der sein Maß kennt und es habituell auch ausdrückt. Ja, und das so bekrittelte Häuschen hätte wohl auch schon seinerzeit zu ihm gepasst.
Ich erinnere mich aber auch, damals kurz an den widerwärtigen Albrecht gedacht zu haben, also an einen, der seine Eiseskälte so perfekt hinter seinem einnehmenden Landesvaterlächeln verbergen konnte… und dann eben doch eher dieser harmlos erscheinenden Freundlichkeit Wulffs vertraut zu haben. Und jetzt denke ich die ganze Zeit daran, dass ich diesen Eindruck ebenso von dem (aus einer anderen Richtung ebenso professionellen) Maschmeyer (oder sonst jemandem aus diesen Kreisen) hätte gewinnen können.
(Und womöglich steckt ja in all dem wiederum eine irgendwie selbstverräterisches Moment – als Schlaglicht diesmal auf mich selbst?)
Vielleicht bringt Poschardt die Sache ganz gut auf den Punkt, auch (oder gerade weil) er in seiner Analyse seinerseits selbstverräterisch argumentiert. Und so haben wir dann alle etwas davon: An einer solchen „Causa“ zeigen sich die Mentalitäten als die eigentliche Verfasstheit des Gemeinwesens, in dem wir leben. Und so einer wie ich weiß wieder, wieso er seit langem erhebliche Distanz empfindet und diese auch pflegt. Ich könnte auch dankbar sein.
@ en-passant
Auf diese merkwürdige Rolle der »Bild«-Zeitung hatte ich ja schon früh hingewiesen. Wenngleich es zur gut gepflegten Legendenbildung gehört, »Bild« bzw. deren Redakteure würden so etwas wie politische Dauerfreundschaften pflegen. Das Aufzug-Zitat von Döpfner dient dafür als Beleg – in Wirklichkeit ist es jedoch nur eine Koketterie und soll – gewissermassen über Ecken – eine journalistische Unabhängigkeit suggerieren. In Wahrheit verkauft man dort für eine gute Schlagzeile seine Großmutter – nur, dass an sich den Termin dafür ausbedingt. Es ist ja nicht wahr, dass das Haus Springer Wulff immer unterstützt hat, bei »Bild am Sonntag« proklamierte man ganz offen Gauck (»Yes, we Gauck«). Wobei man dies ganz gut machen konnte, da dessen Chancen minimal waren.
Es gab eine Zeit, als ich Mitleid mit Wulff hatte. Das war, als er dauerhaft die Wahlen in Niedersachsen verlor – gegen das Kraftpaket Schröder, den ich heute ohne zu zögern als Blender bezeichne. Wulff konnte dann endlich Ministerpräsident werden, als die SPD auf dem Tiefpunkt ihres Ansehens geriet. Er ist mir dann nie mehr aufgefallen – als Konkurrenz für Merkel empfand ich ihn immer für zu farblos. Die Nominierung zum Bundespräsidentenkandidat kam für mich überraschend war aber vielleicht auch der dünnen Personaldecke der CDU geschuldet.
Wulff hatte als Ministerpräsident wohl mitbekommen, was »Freundschaften« wert sind. Maschmeyer hatte, solange Schröder ein Alphatier war, diesen hoffiert. (Gabriel liess sich nicht vereinnahmen – und musste dann gehen; Maschmeyer unterstütze Wulff frühzeitig.) Jetzt genoss Wulff die Zuwendung – späte Genugtuung für denjenigen, der durch Schröder mehr als nur einmal politisch gedemütigt worden war. Dabei scheint Wulff nicht zu erkennen, dass viele solcher »Freundschaften« nur auf die Position, die er hat(te), zu beruhen scheinen.
Dass Wulff den Hass auf den Parvenue abbekommt wie Poschardt dies suggeriert, mag sein. Mitleid hielte ich dennoch für unangebracht; Wulff hatte immer die freie Wahl. Ich glaube, Wulff hat seine Rolle (sic!) als Bundespräsident nicht gefunden. Er spricht wie ein Pfarrer, der besonders fromm wirken will, damit er selber an seine Sprüche glaubt. Wenn er bleiben sollte, ist er eine »lahme Ente«; ein bedeutungsloser Präsident.
Eines hatte Wulff gestern durchaus richtig wahrgenommen: Die Kriterien für einen Bundespräsidenten haben sich mit den Jahrzehnten verschoben. Dies hat auch mit der aufgeschreckten und konfusen Bundesregierung zu tun, die wenig Halt bietet. Der Bundespräsident soll eine Art Lichtgestalt sein – was er kaum zu leisten vermag. Leute wie Lübcke oder auch Carstens wären heutzutage indiskutabel (nicht wegen ihrer Vergangenheit)
Ich neige nicht zu Verschwörungstheorien, aber ich traue der Bildzeitung einiges an fieser Berechnung zu.
Ich halte es für wahrscheinlich, daß auf der Mailbox-Aufnahme noch andere Sachen zur Sprache gekommen sind. Alle Welt munkelt ja über eine irgendwie geheimnisvolle Vergangenheit von Wulffs Ehefrau und daß die Bildzeitung diese Geschichte/dieses Gerücht in petto habe – für alle Fälle. Die Aufnahme soll ja ca. sechs Minuten lang sein. Es kann also sein, daß Wulff sich darauf AUCH zu diesem Thema geäußert hat.
Nun ist die Bildzeitung in einer Win-Win-Situation:
Lehnt Wulff die Veröffentlichung ab, ist er der Depp der Geschichte, wirkt unglaubwürdig (Stichwort: mangelnde Transparenz) und die Bildzeitung kann sich als Held der Pressefreiheit feiern, die nun leider, leider die Mailboxaffaire nicht aufklären darf. Die Affaire wird dadurch am köcheln gehalten -> Auflage.
Stimmt Wulff der Veröffentlichung zu, ist damit auch gleichzeitig die Schmutzgeschichte um Bettina Wulff im Umlauf und die Bild kann das Thema aufziehen – ohne sich vorwerfen zu lassen, sie habe den Dreck selbst in die Welt gesetzt: Es war ja dann Herr Wulff selbst. Ich sehe schon die scheinheilige Bild-Schlagzeile: »Bettina Wulff – Sind die Gerüchte wahr?«. Die Affaire bekommt eine neue Facette -> Auflage.
Die Bild konnte also bloß gewinnen und hat vermutlich eh mit der Ablehnung Wulffs gerechnet.
Und zur Frage, wem soll ich nun glauben? Wulff oder Bild? Wulff hat noch nie (nachweislich) gelogen. Bei der Bild sieht das anders aus...
#7 Es ist schon seltsam, wie viele sich über »Bild« ebenso echauffieren wie über den BP Wulff. Hätte nicht »Bild«, sondern die »FAZ« oder »Financial Times« recherchiert und den Drohanruf erhalten, wäre etwas an dem gravierenden Fehlverhalten des BP Wulff anders?
Zu seinem Interview wurde ja von G.K. alles gesagt, obwohl ich seiner Einschätzung in #2 nicht zustimme, dass die Veröffentlichung des Mailtextes »schäbig« sei.
Wulff habe nicht gelogen? Wenn er behauptet, dass er nur die Bitte um eine Verschiebung geäußert habe und keinesfalls den Bericht verhindern wollte, warum genehmigt er nicht die Veröffentlichung. Warum überhaupt eine Entschuldigung, wenn es nur um eine Verschiebung, aber nicht um die Drohung mit strafrechtlichen Konsequenzen ging?
Auch in der Sache des Kredits hat Wulff gelogen. Der Kredit mit der Bank kam auf Vermittlung Geerkens zustande, wie die Bank mitteilte. Jedenfalls berief sich Wulff auf Herrn Geerkens, vorher wurde das alles bestritten.
Nur mit Entschuldigungen für die gravierenden Fehler und Handlungen kann Wulff seine Reputation nicht mehr zurückgewinnen. Es ist ein Trauerspiel, dass die »politische Klasse« nur deshalb keinen Rücktritt fordert, weil man keine sichere Mehrheit in der Bundesversammlung hat und weil nach dem Rücktritt von Köhler ein weiterer Rücktritt nicht gut beim Wähler ankäme. Es geht nicht mehr um das vielbeschworene Amt, sondern nur noch um die Parteien und ihre Spitzenleute.
@ Norbert
Ist es aber nicht seltsam, daß nicht die Bild, sondern die FAS und die Süddeutsche die Info über und Auszüge aus der Mailboxnachricht veröffentlicht? Diekmann hat das also weitergegeben – anders kann es doch gar nicht sein.
Und warum wird das alles fast vier Wochen nach dem Anruf zum Thema? Die Bild will halt einfach den Skandal möglichst lange am laufen halten. Ist das nicht auch so etwas wie Salami-Taktik?
Zu Ihrer Wortwahl »Drohanruf«, die ja auch viele Journalisten übernommen haben: Klar, wir kennen Wulffs Nachricht nicht – aber WOMIT um Himmels Willen soll er denn »gedroht« haben?
chateeaudur
Nun, ob er wirklich »Bild« drohen konnte, das vermag ich nicht zu beurteilen. Aber das er mit einer Kappung der guten Verbindungen zwischen »Bild« und Bundespräsidenten drohte, scheint real zu sein. Irgendwo las ich, dass anlässlich des Festes seiner Vereidigung eine ganze Manschaft des Springerkonzerns um ihn herum war. Und vorher gab es doch die Geschichten in »Bild« über seine Scheidung, neue Ehe etc. Auch »Bild« hatte etwas zu verlieren, nur wog eben diesmal der Bericht mehr als die gute Verbindung. Ich bin bestimmt ein »Bildhasser«, wenn es denn so etwas gibt, aber ich habe auch lernen müssen, dass der Bote die Botschaft nicht besser oder schlechter macht. Machnmal ist das gut, manchmal ärgert man sich.
Gute, psychologische Text- und Sprachanalyse. Gefällt mir.
Ehrlich gesagt, das ganze ödet mich langsam an. Wir wissen doch nun:
1. Unser derzeitiger Bundespräsident ist moralisch und intellektuell ziemlich mittelmäßig. Aber das hatten wir schon öfter, wobei andere mehr Dreck am Stecken hatten (Nazivergangenheit).
2. Wulff hat klipp und klar erklärt, dass er nicht zurücktreten wird, und absetzbar wäre er nur, wenn er das Grundgesetz verletzt hätte. Er wird also bleiben.
Also: was solls noch?
An Komik grenzt für mich, dass die gesamte Presse jetzt »Verletzung der Pressefreiheit« schreit, weil er mit der Bildzeitung mal genauso unfein umgegangen ist, wie dieses Blatt es mit allen möglichen Personen ständig tut, die es schamlos in den Dreck zieht.
Interessant zu wissen wäre höchstens, warum die Bildzeitung und ihr nahestehende Kreise Wulff jetzt unbedingt als Präsidenten loswerden wollen. Aber das werden wir wohl nie erfahren.
Darum: Schluss jetzt damit! Ich würde mich gern wieder über wichtigere politische Fragen unterhalten.
Danke für die Kommentare.
@chateaudur: Dass es im Privatleben von Frau Wulff berichtenswertes gibt hatte Nikolaus Blome (stv. CR »Bild«) bei Jauch schon im Dezember widersprochen. Selbst wenn sich ein »Vorleben« herausstellen sollte – wen würde das aufregen? Ist es nicht eine Errungenschaft, dass solche »Enthüllungen« keinerlei Skandal mehr auslösen können? Sondern eher Mitleid.
@Norbert: Die Crux ist, dass Wulff schon lange nicht mehr im Amt wäre, wenn diese Drohungen (oder Andeutungen) nicht gegenüber »Bild« ausgesprochen worden wären, sondern bspw. zur FAZ oder SZ.
Und natürlich betreibt Diekmann hier ein Machtspielchen, was vermutlich mit einer gehörigen Portion Narzissmus zu erklären ist. Dass FAS und SZ sich instrumentalisieren lassen, ist normal: Für eine gute Schlagzeile macht man fast alles. Im übrigen glaube ich ja – wie schon mehrfach gesagt – dass der Zusammenhalt unter Journalisten stärker ist als die zuweilen ideologische Aufladung unter den Lesern bzw. »Hassern«.
@eule70: Die Pressefreiheit gilt für »Bild« wie die Menschenwürde für einen Mörder gilt. Die Tatsache, dass »Bild« ein Lügenblatt ist, darf gerade nicht dazu dienen, dass man deren Rechte geringer gewichtet.
Interessanter Artikel zur Rolle von »Bild« in der taz. Nur ein Fehler ist dort: Die Salami-Taktik der »Bild« wurde durchaus schon kommentiert – und zwar hier.
@Gregor
Es ist wohl ähnlich wie zwischen (manchen) Parteien, die, wenn man sie in der Öffentlichkeit fragte, niemals mit der oder dem anderen zusammenarbeiten würden, es hinter den Kulissen aber freilich tun.
Eine Frage: Kennt jemand von Euch Wulffs Rede vor den Wirtschaftsnobelpreisträgern vom 24. August 2011? Wenn nicht, siehe http://alteeule.blogage.de/entries/2012/1/8/Warum-man-Wulff-wegshaben-will-Lest-diese-Rede. Das lässt die Sache für mich in einem anderen Licht erscheinen.
Der Mann, der die ganze Kraft seines Amtes als MP von Niedersachsen eingesetzt hat, um die Besteuerung der Lebensversicherungen zu verhindern (und damit sowohl Herrn Maschmeyer als auch Herrn Baumgartl (Talanx), der Mann, der mit Vorteilen für Talanx gewedelt hat, damit Hannover Firmensitz bleibt, der Mann, der sich regelmäßig Urlaube (und wohl auch Häuser und andere Annehmlichkeiten des Lebens) von seinen reichen »Freunden« aus der Finanz- und Immobilienwirtschaft (mit-)finanzieren lässt, – diesen Mann soll ich aufgrund zweier Reden, in denen er auch nur die seit ein, zwei Jahren zum Standard-Sonntagsreden-Repertoire von CDU-Granden rezykliert, als ernstzunehmenden Kritiker des finanzwirtschaftlich-politischen Komplexes sehen? Wie putzig.
@eule70 / Doktor D
Ich gebe zu, dass ich anfangs auch dachte, dass Wulff aufgrund seiner liberalen Ansichten in der Sarrazin-Diskussion einigen Leuten im Wege stand. Das mag eine Rolle spielen – wie auch diese Lindauer Rede. Letztere ist ja tatsächlich kaum bekannt (ich kannte sie auch nicht). Da frage ich mich: Warum ist sie nicht bekannt? Meine These: Weil sie nicht – ich verwende jetzt dieses Modewort bewusst und zähneknirschend – authentisch wirkt. Sie wirkte schon vor diesem Skandal nicht glaubhaft; Wulff redet wie der Wolf mit Kreide – aber niemand fällt darauf hinein. Man glaubt ihm diese Kapitalismus- und Finanzkritik nicht (wie ich auch Köhler dies nicht glaubte, aber das ist ein anderes Thema). Hier liegt die Crux von Wulff als Präsident jenseits jedes Skandals: Er wirkt nur wie ein bestellter Sonntagsredner; sein Rückgrat ist nicht zu erkennen. Er könnte zum Beispiel sowohl eine Rede für als auch gegen Atomenergie halten – er ist austauschbar. Ein Redenapparat. Weil ihm Gewicht fehlt. Weil ihm – um es pathetisch zu formulieren – ein Leben fehlt. Bzw.: Es fehlt ihm ein Leben, dass ihn mit denen erdet, die er zu repräsentieren hat. Wulff wirkt wie ein Monarch, der Volksnähe erlernen muss (das gab er ja sogar indirekt zu).
So gibt es vielleicht keine richtigen Beweggründe für einen »Sturz« Wulffs. »Bild«/Diekmann sehen das als eine Art »Sport« – Wulff befördert selber durch seine Aussage, er habe die Veröffentlichung nicht verhindern wollen, die Konfusion und den Erregungsapparat weiter. »Bild« geht es um Macht; ein Spiel, wie weit die Kraft einer Boulevard-Zeitung geht, die sich zur Speerspitze des investigativen Journalismus kanonisiert. Hätte Wulff nicht Diekmann sondern einem FAZ-Herausgeber auf die Mailbox gesprochen, wäre er längst zurückgetreten. »Bild«, diese double-bind-Beziehung zu Diekmann, ist auch seine letzte Chance: Soll ausgerechnet dieses Erzeugnis den Bundespräsidenten absägen können?
@GK: Ich stand Wulff eigentlich ganz positiv gegenüber. Sein Engagement für die Integration des Islams in die Selbstwahrnehmung unserer Gesellschaft habe ich ihm abgenommen – auch wenn er da auch seh rmit Worthülsen und Plastikwörtern gearbeitet hat. Mit der eigenen doch relativ bunten und gebrochen Biographie könnte er in diesem Bereich eigentlich »authentisch kommunizieren«. Aber die Chance ist jetzt wohl wirklich vorbei: Sein Einsatz für Deutschland als Melange-Kultur erscheint mir jetzt auch nur wie vom Sprechzettel der Bertelsmann-Stiftung abgelesen (of »Du bist Deutschland-Fame«) und ein Nachspielen der Haltungen, die man im Kreis um Maschmeyer wohl pflegt: Man kann sich auch durch »progressive« Haltungen gut nach unten und seitlich abgrenzen. Madonna und Brangelina lassen grüßen.
Zum BILD-WUlff-Komplex: Wulff hat BILD die Macht zurückgegeben, die sie eigentlich nicht mehr hatte. Siehe http://www.coffeeandtv.de/2012/01/05/der-groste-fehler-des-christian-wulff/
Und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Strategen bei der BILD das auch immer auf dem Schirm hatten, dass Wulff dazu bedürftig genug ist.
...und auch hier geht es um den »Bild«-tropf, an den jetzt der Bundespräsident hängt.
Im Gespräch mit Freunden und Bekannten gehe ich die mögliche Reihe von Alternativen durch. Es fällt schwer. Selbst bei Joachim Gauck protestieren viele – halten ihn für »neoliberal« (was Blödsinn ist, aber es wird eben geglaubt) oder ihnen geht diese evangelische Pfarrhausattitüde auf die Nerven. bei anderen weiss man nicht so genau, ob die nicht auch noch »Dreck am Stecken« haben. Ohne Wulff in irgendeiner Hinsicht verteidigen zu wollen: Es wird schwieriger Amtsträger zu finden, wenn die Anforderungen derart hochgesteckt sind, dass sie einem Scherbengericht aus »Bild«, »FAZ« und »SZ« zu gehorchen haben. Und wieder einmal stellt sich die Frage, wer die (angeblichen) Kontrolleure kontrolliert.
Das sehe ich etwas anders: Wenn Herr Wulff nicht schon vom Gout des Halbseidenen (Monika Maron in FAZ) umweht gewesen wäre – und sei es durch die Willigkeit, mit der er seinen Wechsel zum neuen, schickeren Modell mit Sportkarosserie von BILD hat inszenieren lassen, um daraus Vorteile für die eigenen Sympathie-Werte beim geneigten Publikum zu ziehen –, hätte es die Causa Wulff garnicht, aber zumindest nicht in dieser Peinlichkeit und Länge gegeben.
In der Wulff-Diskussion wird über unsere politische Kultur verhandelt, aber der gerade aus den Umfragen lässt sich m. E. auch schließen, dass nicht der völlig transparente, quasi Heilige für das Amt gesucht wird – eine gewisse persönliche Substanz und Urteilsvermögen reicht den meisten schon, zumindest in meinem Umfeld.
Kurz zurück zu Wulff als Kapitalismuskritiker (und als jemand, der gerne mal eine völlig unangemessenes Bild benutzt): »Ich finde, wenn jemand zehntausend Jobs sichert und Millionen an Steuern zahlt, gegen den darf man keine Pogromstimmung verbreiten« (WELT)
Aber »halbseiden« war doch Schröder auch. Beide (Schröder und Wulff) verwechseln Maschmeyers Engagement scheinbar mit Freundschaft. Durch ihn (und andere) kommen sie jedoch in den »Jet-Set« und geniessen Statusprivilegien. Komisch nur, dass Glogowski damals gehen musste. Gabriel gehörte dem Hannover-Klüngel wohl nicht an – und hatte auch komischerweise keinen Erfolg.
Ich glaube ja auch, dass man nicht den Heiligen sucht. Aber es gibt viele divergierende Kriterien, die je nach Lage und politischer Richtung sakrosankt zu sein scheinen. Die viel beschworenen Politiker mit Ecken und Kanten mag man in Wirklichkeit auch nicht. Das sind zumeist Sonntagsreden von Journalisten.
Halbseiden – das finde ich für Schröder noch fast zu harmlos. Im Gegensatz zu Wulff scheint Schröder aber schon verstanden zu haben, dass Maschmeyer und Co. und die BILD-Redaktion natürlich nicht seine Freunde sind. Ich meine mich zu erinnern, dass er bei Bedarf keineswegs davor zurückgeschreckt ist, mit einstweiligen Verfügungen und härteren Rechtsmitteln gegen BILD und andere vorzugehen. Das scheint mir der fundamentale Unterschied: Schröder scheint immer souverän gehandelt haben zu können, vielleicht weil er von den ganzen glamour-kleinbürgerlichen Prätensionen frei war und einfach ganz brutal und direkt an Macht und Geld kommen wollte.
Das scheint Wulff ja irgendwie garnicht möglich: sich nicht an die BILD ranzuwanzen. Mal sehen, was der neueste Spielzug seines Anwaltes bringt, der Diekmann ja förmlich aufgefordert hat, den Mailbox-Text zu veröffentlichen.
Meine Vorschläge für BuPrä-Kandidaten: Klaus Töpfer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger oder Norbert Lammert
Bei Töpfer wäre ich sofort dabei.
@Gregor Keuschnik: »Warum ist sie (die Lindauer Rede) nicht bekannt? Meine These: Weil sie nicht... authentisch wirkt. Sie wirkte schon vor diesem Skandal nicht glaubhaft... Man glaubt ihm diese Kapitalismus- und Finanzkritik nicht«. – Das gilt sicher für unsereins und alle, die konservative Politiker grundsätzlich kritisch hinterfragen. Aber selbst wenn alle Journalisten und auch sein eigenes rechtes Lager ihm seine Kapitalismuskritik nicht glauben.: wenn ein Bundespräsident eine große Rede hält, die das Volk wahrnimmt, dann hat das Autorität, und ihm wird von einem Großteil des Volkes geglaubt – und das musste offenbar um jeden Preis vermieden werden.
Damit klar ist: Wenn ich Wulffs Rede vor den Banken im März 2011 mit der von Dr.D verlinkten Rede vom November 2008 (»Progromstimmung gegen Manager«) vergleiche, bin ich schon erschüttert. Aber in letzter Zeit ist es ja sehr üblich geworden, dass einige PolitikerInnen – allen voran Merkel – es mit Adenauers Devise halten »was kümmert mich mein Geschwätz von gestern«. Atomausstieg, seit gestern Finanztransaktionssteuer. Ob die Leute an den Machthebeln das, was ich für gut halte, aus wahltaktischen Überlegungen tun oder weil sie einfach die Zeichen der Zeit erkannt haben – es soll mir egal sein! Ich bin froh, wenn Atomausstieg und Finanztraktionssteuer kommen und wenn der Kapitalismus lautstark kritisiert wird.
P.S.: @Gregor Keuschnik und Doktor.D: Für Klaus Töpfer gilt das übrigens auch. Der ist gründlich vom Saulus zum Paulus geworden....
@eule70
Das Adenauer-Zitat ist natürlich ein veritabler »Totschläger«. Ich habe nichts gegen Politiker, die ihre Urteile revidieren. Ideologen haben die Menschheit fast immer ins Verderben gestürzt.
Dabei ist es nämlich nicht gleichgültig, ob eine veränderte Politik aus wahltaktischen Gründen oder aufgrund sich veränderter Rahmenbedingungen angepasst wurden. Manchmal ist das schwer zu trennen. So sagen viele Kommentatoren heute noch, dass Gerhard Schröder dem Irakkrieg nur aus wahltaktischen gründen entsagt habe. Das glaube ich nicht. Umgekehrt glaube ich, dass Merkel aus wahltaktischen Gründen (Baden-Württemberg!) die AKWs abschalten liess. Auch die sogenannte Finanztransaktionssteuer (die die wirklichen Probleme überhaupt nicht löst, sondern nur abkassiert) ist m. E. hier zu verorten. Manchmal hat Opportunismus ähnliche Konsequenzen wie ein resistentes Verharren in überholten Positionen. Wenn sich jemand derart nach Umfrageergebnissen orientiert ist ja die nächste Kehrtwendung – die einem dann vielleicht nicht mehr passt – schon vorprogrammiert.
Ihr PS-Kommentar bringt m. E. das Dilemma sehr schön zum Vorschein: Wenn einem das politische Lager eines Politikers nicht zusagt, erkennt man bei jedem unendlich viele Haare in der Suppe. So sagen Sie ohne Beleg Klaus Töpfer habe sich vom Saulus zum Paulus gewandelt. Ich frage mich: Was ist daran schlimm, wenn es so wäre? Disqualifiziert ihn das per se für irgend etwas? Gleiches kann man anhand von Zitaten aus seiner Generalsekretär-Zeit von Heiner Geißler sagen. Nach dem für viele nicht zufriedenstellenden Schlichterspruch zu Stuttgart21 galten für einige all die Lobeshymnen im Vorfeld plötzlich nicht mehr. Sympathie wird nur nach der Möglichkeit bemessen, die Positionen eines Politikers in das eigene politische Weltbild zu integrieren. Daran krankt eine solche Stossrichtungs-Wahrnehmung immer.
Mir ist aber ein Politiker wie Norbert Lammert, mit dem ich in vielen Dingen nicht übereinstimme, lieber als ein aalglatter Steinmeier. Mir ist ein egomanischer Peer Steinbrück lieber als ein »sozialistischer« Klaus Ernst, der in Wirklichkeit mit seinem Porsche durch die Gegend braust und Fraktionsgelder einstreicht.
(PS: Ich »hinterfrage« nicht nur »konservative« Politiker – was ist das eigentlich und wer bestimmt das? – sondern grundsätzlich jedes politische Handeln.)
@GK und eule70:
Nachdem Herr Wulff nun auch das Versprechen, alle Unterlagen zugänglich zu machen, nicht einzuhalten gedenkt, gehe ich davon aus, dass er einfach immer die Sätze dahinschwätzt, die ihm persönlich in der konkreten Situation am meisten nutzen. Manchmal kommt dann eben ein schöner Gratis-Urlaub heraus, eine Wahlkampfspende, die man nirgends offenlegt (weil man sie ja garnicht kennt), ein bisschen Applaus, ein hübsches Häuschen plus Zweitwohnsitz in Berlin, bessere Umfragewerte....
Für Menschen, die ihre Haltung aufgrund neuer Erkenntnisse ändern – vor allem in der Politk, habe ich großen Respekt. Dafür müsste man aber eine haben.
Eine Separierung von »privat« und »öffentlich« ist beim Wulff leider nur Lippenbekenntnis. Er nutzt ja eindeutig seine öffentliche Position, um privat Vorteile zu erlangen. Aus meiner Sicht, ist es fraglich, ob seine vermeintlichen Freunde, auch zu Freunden (was das auf dieser Ebene auch immer heissen mag) geworden wären, wenn Wulff nicht Ministerpräsident, oder wichtiger Politentscheider gewesen wäre.
Die Tatsache, dass man ihm in Niedersachsen nur spärlich nachweint, zeigt doch, dass es sich nicht um Freundschaften handelt, sondern um Apparatschnik-Netzwerke.
Mal abgesehen von Wulff: Wieviele Politiker (mit Entscheidungsgewalt) haben »echte Freunde« – Menschen, die sich durch ihre Bekanntschaft, keine Vorteile erhoffen oder ergaunern wollen?
@eule 70 @ Gregor Keuschnig
Legen wir nicht manchmal die Latte der Moral sehr hoch, vielleicht zu hoch? Die Politik lebt von Kompromissen und Mehrheitsentscheidungen, sprich Wahlen. Es gibt schon einige Politiker, die nicht so handeln wie Wulff oder andere. Dazu zähle ich ausdrücklich N. Lammert, hier stimme ich G.K. zu. Die damalige Entscheidung von Schröder wird ein Bündel von Motiven und Interessen gehabt haben, die Entscheidung ist auch im nachhinein vertretbar und richtig. Dies kann man von der Libyen-Enthaltung m.E. nicht sagen.
Alle Politiker haben eine eigene Biografie, sprich Herkommen, Zugehörigkeit zu Gruppen etc. , da wird es immer unterschiedliche Auffassungen geben. Entscheidend sollte doch sein, ob letztlich die Motive der Entscheidung sich am Gemeinwohl und/oder an rationalen Argumenten und nicht an Partei- oder reinen Machtinteressen orientieren. Zugegeben, das ist nicht immer sofort erkennbar und zu trennen. Als Beispiel will ich die Wahl Wulffs anführen. Es ging Merkel nicht darum, einen kompetenten, selbständigen und unabhängigen Bundespräsidenten zu bekommen. Es ging darum, der CDU den Posten zu sichern und einen Rivalen weniger zu haben, der zudem kaum Widerstand leisten würde. Das ist schlimm, weil die Parteien meinen, ihnen gehöre der Staat und sie allein bestimmen über die Posten. Ähnlich sehe ich den Fall des neuen Verfassungsrichter Müller.
Was bisher selten diskutiert wurde, dass die Parteien auch die Rundfunkräte dominieren. Was mit unliebsamen Journalisten passiert, hat doch Roland Koch mit dem Chefredakteur Nikolaus Brender vom ZDF demonstriert. Das ist alles viel eleganter als ein Anruf auf einer Mailbox. Allein die Tatsache, dass Wulff die Handynummer hatte, sagt doch einiges aus.
@Norbert
Ob wir die Latte zu hoch legen, ist schwer zu sagen. Mir fällt immer das »Wehret den Anfängen« ein, wenn ich solche Diskussionen höre. Tatsächlich hat sich die Sache nicht zuletzt wegen des ungenügenden Krisenmanagements verschärft. Wenn er beispielsweise im Fernsehinterview am 4.1. den Anruf bedauert und sich entschuldigt hätte, wäre es in Ordnung gewesen. Die Aussage, er habe nicht die Veröffentlichung verhindern sondern nur verzögern wollen, gebierte wieder neuen Diskussions- und Verzettelungsstoff. Weniger ist manchmal mehr.
Die Wahl Wulffs als besonders parteipolitisches Kalkül der Bundeskanzlerin darzustellen, ist ja allgemein beliebt, aber zeugt in höchstem Maße von Geschichtsvergessenheit. Die Bundespräsidentenwahl war immer auch Ausweis machtpolitischer Demonstrationen. 1969 leitete die Wahl Gustav Heinemanns die spätere sozial-liberale Koalition ein – die FDP schwenkte im 3. Wahlgang um auf den SPD-Mann. Der Verfassungsrichter Roman Herzog war Kohls Kompromisskandidat, damit die FDP bei der Stange blieb; ursprünglich wollte er Steffen Heitmann inthronisieren. Johannes Rau wurde seinerzeit auch praktisch das Amt versprochen; die Partei hatte ihn in den 80er Jahren als Bundeskanzlerkandidat »verhungern« lassen. Auch Köhler war ein Kompromisskandidat: Westerwelle hatte sich höchstpersönlich gegen Schäuble ausgesprochen.
Noch etwas: Es ist im übrigen überhaupt nicht ehrenrührig, dass Wulff die Handynummer »hatte«. Die hatte vermutlich sein Pressemann, Herr Glaeseker. Im übrigen hat diese Nummer mit 100%iger Sicherheit jeder, der sie haben muss. Das ist alles Schattenboxen.
@GK: Töpfer ist für mich durchaus nicht disqualifiziert (ich hänge ja gerade, @Norbert, die Latte nicht so hoch). Aber besonders gut könnte ich mit Heiner Geißler vorstellen, schon nach Köhlers Rücktritt; aber er stand wohl nicht zur Verfügung. Als Kandidaten für die SPD hätte ich mir sehr Eppler gewünscht, aber der stand wohl auch nicht zur Verfügung.
@eule 70
Dann ist es ja gut, wenn Töpfer doch akzeptabel ist. Genau das meinte ich, nicht Wulff, sondern viele Politiker der zweiten Reihe, die sich tatsächlich engagieren und nicht unbedingt auf Karriere und Vorteile schauen, da sollte man etwas weniger rigoros sein. Es braucht vor allem Politiker mit Rückgrad wie Lammert, aber auch ein Bosbach oder ein Frank Schäffler, die sich nicht um jeden Preis der Parteidisziplin unterwerfen. Es gibt auch genügend Politiker der SPD oder der Grünen, die nicht nur auf den eigenen Vorteil aus sind. Das alle Politiker hat einen Hang zur Macht und Drang in die Öffentlichkeit haben, liegt in der Natur der Sache. Es gibt doch kaum einen Berufsstand, der neben den Journalisten solch ein negatives Image hat, das hält doch viele ab, in die Politik zu gehen. Das war in den 70er und 80er Jahren doch wesentlich anders.
Bin ich der Einzige, der Töpfers Schaulaufen als widerlich empfindet? Ich habe schon immer das Gefühl, dass der Mann seit der UNO nur eine Rolle spielt. Als Minister ist er ganz anders und zwar unangenehm aufgetreten. Momentan ist das Salbungsvolle unerträglich (Höre ich falsch oder lallt der Mann zunehmend?).
Gegenvorschlag: Petra Roth. Die Oberbürgermeisterin von Frankfurt ist bald verfügbar und sicherlich eine perfekte Kompromisskandidatin. Noch wichtiger ist ihre jahrzehntelang erworbene Reputation über alle Lagergrenzen hinaus.
@Peter
Ich gestehe, nichts von Töpfer gehört zu haben – vermag die frage nicht zu beantworten.
Petra Roth ist ein sehr guter Vorschlag.