Der Wald und die Bäu­me (II)

Strö­me von Schei­ße

Ein Bei­spiel für die um sich grei­fen­de Ver­blö­dung durch Such­ma­schi­nen sind die Pä­do­­phi­lie-Vor­wür­fe, die ge­gen Da­ni­el Cohn-Ben­dit um 2012/13 mas­siv er­ho­ben wur­den. Mas­siv, das heißt im di­gi­ta­len Zeit­al­ter: durch das In­ter­net in Win­des­ei­le un­kon­trol­lier­bar ver­viel­facht, ver­mil­lio­nen­facht. Man mag zu der hi­sto­ri­schen Fi­gur Cohn-Ben­dit ste­hen, wie man will; be­strei­ten wird man nicht kön­nen, daß er ein klu­ger Kopf mit ei­ner hoch­interessanten Le­bens­ge­schich­te ist, der durch sei­ne öf­fent­li­chen, oft un­kon­ven­tio­nel­len Stel­lung­nah­men zum Den­ken an­regt. Das Den­ken ist als ge­sell­schaft­li­ches Phä­no­men frei­lich ins Hin­ter­tref­fen ge­ra­ten, wäh­rend der heu­te ver­brei­te­te Po­li­ti­ker­ty­pus rhe­to­ri­sche Flos­keln ab­son­dert, die nichts zu den­ken ge­ben, son­dern Rei­ze be­die­nen. Noch im Jahr 2014, als Cohn-Ben­dit ei­ner öster­rei­chi­schen Ta­ges­zei­tung in­ter­viewt wur­de, äu­ßert sich die »Com­mu­ni­ty« der »Po­ster« zum al­ler­größ­ten Teil nach dem Reiz-Re­ak­ti­ons­sche­ma, das durch Goog­le vor­ge­ge­ben ist: Cohn-Ben­dit ist am mei­sten – am mas­siv­sten – mit dem Be­griff Kin­der­schän­der (vul­go »Pä­do­phi­ler«) ver­knüpft, und nach sol­chen Ver­knüp­fun­gen funk­tio­nie­ren mitt­ler­wei­le die Ge­hir­ne. Im er­wähn­ten In­ter­view blickt der sieb­zig­jäh­ri­ge Cohn-Ben­dit auf sein Le­ben, das Le­ben sei­ner Fa­mi­lie und die Ent­wick­lun­gen der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te zu­rück. Die Kom­men­ta­re der mei­sten »Nut­zer« (vul­go »User«) zei­gen ein völ­li­ges Des­in­ter­es­se an die­sen In­hal­ten; ver­mut­lich wer­den län­ge­re Ar­ti­kel der In­ter­net­aus­ga­be der Zei­tung nur über­flo­gen oder auf Reiz­wörter ab­ge­ta­stet, viel­leicht mit­hil­fe ei­ner Such­ma­schi­ne. Die Wir­kung der allgegen­wärtigen Such­ma­schi­nen geht da­hin, daß de­ren Nut­zer sich kei­ner­lei Sor­gen um den Wahr­heits­ge­halt von Da­ten, die Be­rech­ti­gung von Vor­wür­fen, die Trif­tig­keit von Ur­tei­len mehr ma­chen. Was auf die­se Wei­se ver­lo­ren­geht, ist der Sinn für die An­nä­he­rung an Wahr­heit, für die Kom­ple­xi­tät von Er­kennt­nis­pro­zes­sen, ist die ge­bo­te­ne Vor­sicht beim Ur­tei­len. Un­ter sol­chen Vor­aus­set­zun­gen ist es kein Wun­der, daß im In­ter­net, und das heißt: in den Köp­fen der Men­schen, Pa­ra­noia und Verschwörungs­theorien so stark wu­chern wie noch nie. Die­sen ex­trem ver­kür­zen­den Er­klä­rungs­mo­del­len (die den Na­men »Er­klä­rung« nicht mehr ver­die­nen) ent­spricht als Em­pö­rungs­re­ak­ti­on das, was seit ei­ni­gen Jah­ren als shits­torm be­zeich­net wird. Dort, wo man frü­her »Kri­tik« ge­übt hät­te, gießt man Jau­che über die Ge­gen­stän­de der Ab­nei­gung. Es liegt auf der Hand, daß sol­che Ver­hältnisse das Hoch­kom­men von au­to­ri­tä­ren Po­li­ti­kern so­wie von Po­pu­li­sten jeg­li­cher Cou­leur be­gün­stigt; Per­so­nen, die ab­wä­gen, Ge­dan­ken­gän­ge er­läu­tern, Auf­fas­sun­gen von Geg­nern mit­be­den­ken und ei­ge­ne Irr­tü­mer ein­ge­ste­hen, ha­ben da­ge­gen we­nig Chan­cen. Auf deutsch klingt der Be­fund im­mer noch deut­li­cher als im Glo­ba­li­sie­rungs­eng­lisch: an der Stel­le von Dis­kur­sen und Dia­lo­gen fließt ver­ba­le Schei­ße. Es wä­re ge­nau­er, von »Strö­men« zu re­den, nicht von luf­ti­gen Stür­men. Scheiß­flüs­se ha­ben die Ten­denz, sich in Main­streams zu ver­wan­deln. Auch dies ein Me­cha­nis­mus des In­ter­nets, sei­ner Such‑, Ver­knüp­fungs- und As­so­zi­ie­rungs­ma­schi­nen.

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Der Wald und die Bäu­me (I)

Se­cond li­ves

Im Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten pri­vi­le­giert Mu­sil das, was er »Mög­lich­keits­sinn« nennt, ge­gen­über dem Wirk­lich­keits­sinn. Er tut es häu­fi­ger am Be­ginn des Ro­mans als in spä­te­ren Pas­sa­gen; die Pro­ble­ma­tik tritt mit dem sta­gnie­ren­den Fort­schritt der Be­ge­ben­hei­ten in den Hin­ter­grund. Mu­sil schrieb in ei­ner Zeit, da die Aus­rich­tung auf die Wirk­lich­keit und die Be­dacht­nah­me auf die Wir­kung des ei­ge­nen Han­delns noch selbst­ver­ständ­lich, viel­leicht all­zu selbst­ver­ständ­lich wa­ren. Im drit­ten Ka­pi­tel de­fi­niert die Er­zähl­in­stanz des Ro­mans die mit Mög­lich­kei­ten spie­len­den (oder ar­bei­ten­den) Ideen als »noch nicht ge­bo­re­ne Wirk­lich­kei­ten«, er geht al­so da­von aus, daß das Mög­li­che frü­her oder spä­ter ver­wirk­licht wer­de. Ul­rich, die Zen­tral­fi­gur des Ro­mans, bleibt zwar lang­fri­stig bei sei­ner Nei­gung, Hy­po­the­sen auf­zu­stel­len und de­ren Im­pli­ka­tio­nen zu durch­den­ken, ver­liert aber mehr und mehr das von An­fang an kärg­li­che In­ter­es­se, aus dem, was er denkt, auch »et­was zu ma­chen«. Er ver­läuft sich ge­wis­ser­ma­ßen in sei­ner plu­ra­len Welt der Möglich­keiten und ver­liert die Lust, sich um Ver­wirk­li­chun­gen zu be­mü­hen (was als Se­kre­tär der Par­al­lel­ak­ti­on ei­gent­lich sei­ne Auf­ga­be wä­re).

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Drei lee­re Sprech­bla­sen oder Die Es­senz von Mu­sils Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten

Nicolas Mahler nach Robert Musil: Mann ohne Eigenschaften
Mahler nach Ro­bert Mu­sil: Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten

Kann man den Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten, Ro­bert Mu­sils un­voll­ende­ten Tau­send-Sei­ten-Ro­man, dem un­ge­fähr eben­so vie­le Sei­ten un­ver­öf­fent­lich­ter Ab­schnit­te und di­ver­ser Bruch­stücke zur Sei­te ste­hen, auf ei­ni­ge we­ni­ge Sät­ze re­du­zie­ren? Mit rhe­to­ri­scher Be­sorgt­heit stel­len die Re­zen­sen­ten von Ni­co­las Mahlers Co­mic-Ad­ap­tie­rung des Werks die­se Fra­ge. Sie ist falsch ge­stellt, denn na­tür­lich kann man. Die da­hin­ter ste­hen­de Fra­ge ist, ob man darf. Und weil nun schon seit Jahr­zehn­ten so­wie­so al­les geht, darf man (eben­so na­tür­lich). Bleibt al­so nur die Rhe­to­rik, um die auch wir nicht her­um­kom­men.

Mahlers gra­phic no­vel, sein Co­mic (auch im wört­li­chen Sinn), bringt nur we­ni­ge Sät­ze aus dem Ro­man, die Ge­ste des Au­tors ist da­bei schnip­pisch oder pat­zig, et­wa in die­ser Be­deu­tung: »Da habt ihr halt wie­der so ein Sätz­chen von un­se­rem be­rühm­ten Mann.« Die Es­senz die­ser Sät­ze drückt der Gra­phiker auf Sei­te 61 des Co­mics aus, in­dem er die drei Sprech­bla­sen der drei Fi­gu­ren im Sa­lon Diot­imas, wo die be­rühm­te Par­al­lel­ak­ti­on aus­ge­heckt wird, leer läßt. Al­les nur Bla­bla, es wird nichts ge­sche­hen, so lau­tet of­fen­bar die In­ter­pre­ta­ti­on Ni­co­las Mahlers; die Paral­lelaktion ist ein fake. Fragt sich, ob sei­ne In­ter­pre­ta­ti­on trif­tig ist. Mu­sils Ab­sich­ten ent­spricht sie nicht, der plan­te näm­lich, den Ro­man mit dem Aus­bruch des er­sten Welt­kriegs en­den zu las­sen, was die zeit­li­che Be­we­gung der er­sten bei­den der Bü­cher, in die der Ro­man un­ter­teilt ist, dem Au­tor ja fast auf­zwingt: die Hand­lung voll­zieht sich unmißver­ständlich im Jahr 1913 und bricht dann Mo­na­te vor dem Som­mer des Fol­ge­jah­res ab. Die schein­bar so zö­ger­li­che, der Pro­pa­gan­da nach fried­fer­ti­ge Par­al­lel­ak­ti­on – Franz Jo­seph II. soll als »Frie­dens­kai­ser« ge­fei­ert wer­den – trägt ihr Scherf­lein zur eu­ro­päi­schen Kata­strophe bei. Des­halb nun die Fra­ge: Läßt sich der hier nur kurz an­ge­deu­te­te Ge­halt des Ro­mans durch lee­re Sprech­bla­sen, die wit­zig wir­ken mö­gen in den ho­hen Räu­men des Sa­lons, auf den Punkt brin­gen?

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Die Rei­se zu Ozus Grab

Ein Ge­spräch mit Emi­ne Sev­gi Öz­da­mar
ge­führt von Leo­pold Fe­der­mair und Na­o­ko Yu­da

Das Ge­spräch fin­det im März 2013 in ei­nem Ca­fé im Ber­li­ner Stadt­teil Kreuz­berg statt.1

Im Jahr 2009 ha­ben Sie trotz Ih­rer Flug­angst die Ein­la­dung ja­pa­ni­scher Uni­ver­si­tä­ten an­ge­nom­men, dort meh­re­re Le­sun­gen zu hal­ten. Wir wis­sen von Ih­rer Ver­eh­rung für den Film­re­gis­seur Ya­su­ji­rō Ozu. War das ein Grund, nach Ja­pan zu fah­ren?

Als ich das Grab von Ya­su­ji­rō Ozu be­such­te, ha­be ich ge­weint. Es war der Tag, an dem Ba­rack Oba­ma nach Ja­pan kam.2 Ich muss­te mei­nen Kof­fer am Bahn­hof de­po­nie­ren, da­mit es am näch­sten Tag kein Pro­blem gab bei dem Ver­kehr, um zum Flug­ha­fen zu fah­ren, Rück­flug nach Deutsch­land. Aber die Schließ­fä­cher wa­ren al­le ver­schlos­sen, man durf­te nichts de­po­nie­ren, da­mit kei­ne Bom­ben hoch­ge­hen kön­nen. Ei­ne Si­cher­heits­vor­keh­rung... Und dann sind wir mit mei­nem Kof­fer, es reg­ne­te auch, in die Stadt, wo Ozu be­gra­ben liegt, ge­fah­ren. Ich frag­te mei­ne Be­glei­te­rin, ob sie nicht die Be­sit­ze­rin des Re­stau­rants, wo wir ge­ges­sen hat­ten, ob sie die nicht bit­ten kann, den Kof­fer auf­zu­be­wah­ren. Und die Frau sag­te ja. Wir sind zum Grab ge­gan­gen, es war ei­nes der Grä­ber mit die­sen un­glaub­lich schö­nen ja­pa­ni­schen In­schrif­ten. Da ha­be ich ge­se­hen, dass die Leu­te zu Ozus Grab hin­pilgern wie zum Grab von Ber­tolt Brecht in Ber­lin. Auch Al­ko­hol­fla­schen und Zi­ga­ret­ten hat­ten sie hin­ge­tan, wie bei Brecht.

Emine Sevgi Özdamar - ©: Helga Kneidl
Emi­ne Sev­gi Öz­da­mar – ©: Hel­ga Kneidl

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  1. Einige wenige Ergänzungen und Änderungen wurden in einem weiteren Gespräch zwischen Emine Sevgi Özdamar und Naoko Yuda im Oktober 2013 in Berlin besprochen. 

  2. Im September 2009 - G.K. 

Ei­ni­ge An­mer­kun­gen zur trans­ver­sa­len Äs­the­tik

Vor­trag vom 2. No­vem­ber 2013 beim Sym­po­si­um »In­ter­kul­tu­ra­li­tät in der Li­te­ra­tur – re­gio­na­le, na­tio­na­le und kon­ti­nen­ta­le Iden­ti­tä­ten«, Städ­ti­sche Uni­ver­si­tät (Shirit­su Dai­ga­ku) Nagoya/Japan

Ich bin ein Mi­grant. Seit elf Jah­ren le­be ich in ei­nem Land fern von mei­nem Ge­burts­ort, da­vor ha­be ich in vier an­de­ren Län­dern dau­er­haft ge­wohnt, und auch die Jah­re in Wien wa­ren für mich als über­zeug­ten West­öster­rei­cher ein Aus­lands­auf­ent­halt, üb­ri­gens der un­an­ge­nehm­ste von al­len. Wo ich den Le­bens­abend ver­brin­gen wer­de, wo ich be­gra­ben sein möch­te? Kei­ne Ah­nung. Viel­leicht »zu Hau­se«, viel­leicht nicht. Mei­ne Wan­de­run­gen sind noch nicht be­en­det.

Mi­grant zu sein ist nichts Be­son­de­res, heut­zu­ta­ge eher die Re­gel als die Aus­nah­me. Ei­ne Le­bens­form, mit der vie­le Men­schen auf die ei­ne oder an­de­re Wei­se Be­kannt­schaft ge­schlossen ha­ben. In­so­fern ist auch »Mi­gran­ten­li­te­ra­tur« nichts Be­son­de­res. Man wird so­gar sa­gen kön­nen, daß die Li­te­ra­tur mit ih­rer al­ten und no­to­ri­schen Neu­gier für al­les Frem­de das, was heu­te der ge­sell­schaft­li­che Re­gel­fall ist, vor­weg­ge­nom­men hat. Im Grun­de be­ruht die Re­de von den Mi­gran­ten mit ih­rem Hin­ter­grund und ih­rer Kul­tur nur auf ei­ner be­stimm­ten Sicht­wei­se. Die Wur­zeln der Mi­gra­ti­on ge­hen weit, sehr weit zu­rück. Eben­so das Phä­no­men der Glo­ba­li­sie­rung. Wann hat sie be­gon­nen? Mit Ko­lum­bus? Mit der Han­se? Mit Odys­seus? Mit den Ar­go­nau­ten? Als ich in den sieb­zi­ger Jah­ren Ger­ma­ni­stik stu­dier­te, war Exil­li­te­ra­tur ein Mo­de­the­ma. Das Exil aber ist nur ei­ne be­son­de­re Art der Mi­gra­ti­on, wie Sev­gi Öz­da­mars Ro­man Die Brücke vom Gol­de­nen Horn sinn­fäl­lig macht.

Vor ei­ni­gen Jah­ren wur­de ich von ei­ner Li­te­ra­tur­zeit­schrift um ei­nen Bei­trag für ein Heft zum The­ma Rei­se­li­te­ra­tur ge­be­ten. Ich sag­te zu und hat­te ein un­gu­tes Ge­fühl, weil ich mich nicht als Rei­se­schrift­stel­ler be­trach­te. Mei­stens bin ich nicht auf Rei­sen, son­dern le­be wo­an­ders (als in mei­nem Her­kunfts­land) und be­we­ge mich zwi­schen ver­schie­de­nen Or­ten, weil ich dort et­was zu tun ha­be, et­was su­che, Freun­de tref­fen will, mich in ei­ne Frau ver­liebt ha­be, an ei­nem Kon­greß teil­neh­me, mit ei­nem Au­tor über ein zu über­set­zen­des Buch spre­chen will. Der Rei­sen­de im her­kömm­li­chen Sinn hat sei­ne Rück­kehr ein­ge­plant. Das ist bei mei­nem Mi­gran­ten­tum – mei­ner viel­fäl­ti­gen Wan­der­schaft – oft nicht der Fall. Manch­mal sa­ge ich, um ei­nen Ge­sprächs­part­ner zu ver­blüf­fen: Ich rei­se nicht gern. Und fü­ge, wenn die Ver­blüf­fung auf­ge­braucht ist, hin­zu: Ich hal­te mich gern an ver­schie­de­nen Or­ten auf, aber ich bin nicht so gern un­ter­wegs. Mein Ide­al wä­re die Ubi­qui­tät. Sem­per et ubi­que. Den Kör­per bea­men, nicht nur den Geist und die Bil­der (was durch die kommu­nikations­technische Ent­wick­lung sehr er­leich­tert wor­den ist). Rei­sen ist mir auf die Dau­er zu an­stren­gend.

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LOOK! (III)

[hier Teil II]

3

In Deutsch­land gibt es ei­ne Par­tei, die ih­ren An­fangs­schwung aus der de­mo­kra­ti­schen Er­wei­te­rung nahm, die das In­ter­net zu er­mög­li­chen schien. Die Pi­ra­ten ha­ben ih­ren Ur­sprung im Geist des WWW. Von Mai 2011 bis Ja­nu­ar 2012 stand die aus der Ukrai­ne stam­men­de, noch in der So­wjet­uni­on ge­bo­re­ne Ma­ri­na Weis­band an der Spit­ze die­ser Par­tei, die kei­ne Be­rufs­po­li­ti­ker ha­ben will. Ei­ni­ge Be­weg­grün­de für Weis­bands Rück­zug er­fährt man in ih­rem Buch »Wir nen­nen es Po­li­tik«. Ei­ner­seits hält sie an neu­en techno­logischen Werk­zeu­gen wie Li­quid­Feed­back zur Um­ge­stal­tung der De­mo­kra­tie fest, ande­rerseits ha­ben ih­re Er­fah­run­gen sie zur Ein­sicht be­wo­gen, Po­li­tik sei nun mal Kampf unterschied­licher In­ter­es­sen, der im­mer wie­der per­sön­lich und oft ge­nug lä­cher­lich wird. »Wer auch im­mer sei­ne Na­se in ‚die Öf­fent­lich­keit’ steckt, be­gibt sich in ei­nen Sturm aus Feind­se­lig­kei­ten.« Man hört hier das In­ter­net­wort Shits­torm durch, und tat­säch­lich nennt Weis­band di­ver­se Rea­li­täts- und Ir­rea­li­täts­ebe­nen in ei­nem Atem­zug: Ob im In­ter­net, im Zug oder am In­fo­stand, »in letz­ter Zeit schei­nen die Men­schen to­tal am Rad zu dre­hen.« Am Rad zu dre­hen? Wahr­schein­lich meint sie »durch­zu­dre­hen«. Oder wört­lich, so, wie es da steht: am Rad dre­hen wie Mäu­se im Ver­suchs­la­bor. Die Leu­te... »Wißt ihr was«, ruft Weis­band ih­nen – uns – zu, »der of­fe­ne Po­li­ti­ker hat kei­ne Chan­ce, er wird fer­tig­ge­macht. Wenn es ihm nicht scheiß­egal ist, was ihr von ihm hal­tet, wird er fer­tig­ge­macht. Von euch. Ei­ne bes­se­re De­mo­kra­tie ist nicht mög­lich. We­gen euch.«

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LOOK! (II)

[hier Teil I]

2

LOOK! Das sagt, ganz tra­di­tio­nell, seit Jahr­hun­der­ten, das Dirndl­kleid, das sich seit ei­ni­gen Jah­ren wie­der gro­ßer Be­liebt­heit er­freut, nach­dem es lan­ge Zeit (und zu un­recht) als Sym­bol erz­kon­ser­va­ti­ver Sit­ten ver­pönt war.

»Schau mich nicht an!« sagt die deut­sche Jour­na­li­stin Lau­ra Him­mel­reich in ih­rem Ar­ti­kel über ei­nen, nun ja, kon­ser­va­ti­ven oder li­be­ra­len oder egal­was Po­li­ti­ker; wahr­schein­lich ist er nur Mit­tel­maß, Pro­dukt ei­ner öden po­li­tisch-mo­ra­li­schen Kul­tur. Der Po­li­ti­ker hat sie an­ge­schaut; mit den Wor­ten der Jour­na­li­stin: »Brü­der­les Blick wan­dert auf mei­nen Bu­sen.« Der Kom­men­tar des ge­sprä­chi­gen Man­nes, der wohl schon ein paar Glä­ser ge­trunken hat: »Sie könn­ten ein Dirndl aus­fül­len.« Die Be­mer­kung, durch­aus ein we­nig geist­reich, ist ihm ver­mut­lich des­halb ein­ge­fal­len, weil die Jour­na­li­stin kurz zu­vor ge­meint hat­te, auf dem Ok­to­ber­fest wür­de sie schon mal Al­ko­hol trin­ken; in der Ho­tel­bar, wo die Sze­ne spielt, trinkt sie – fi­gur­be­wußt? – Co­la Light. Der Flirt, den der Mann in der Fol­ge ver­sucht, ist ziem­lich müh­sam, für die Frau wohl un­an­ge­nehm, das kann ich gut nachvoll­ziehen, zu­mal der Al­ters­un­ter­schied zwi­schen den bei­den fast vier Jahr­zehn­te be­trägt. Him­mel­reich könn­te gut und gern Brü­der­les En­ke­lin sein.

Die Sze­ne in der Ho­tel­bar und der Be­richt dar­über, der Pri­va­tes öf­fent­lich macht und die po­li­ti­schen Qua­li­tä­ten oder Män­gel des Po­li­ti­kers auf sich be­ru­hen läßt, wur­de in den Me­di­en und in der deut­schen Be­völ­ke­rung end­los kom­men­tiert, und auch Über­druß an­ge­sichts des me­dia­len Bla­blas wur­de un­er­müd­lich ge­äu­ßert. Im In­ter­net be­rich­ten Frau­en seit­dem ton­nen­wei­se – ach ja, das In­ter­net hat gar kein Ge­wicht – von Erfah­rungen, die sie dem gras­sie­ren­den Se­xis­mus zu­ord­nen. Mei­stens zu recht, aber in man­chen Wort­mel­dun­gen kommt ein mehr oder min­der star­kes Maß an Pa­ra­noia zum Aus­druck. Wo Men­schen ver­bal, mit­un­ter auch tät­lich ver­folgt wer­den, lau­ert un­wei­ger­lich die Ver­fol­gungs­angst. Die männ­li­chen Sät­ze und Ge­sten, von de­nen die­se Frau­en er­zäh­len, sind un­glaub­lich dumm, be­schä­mend, mei­stens wohl auch kon­tra­pro­duk­tiv. In ei­nem Buch der ame­ri­ka­ni­schen Jour­na­li­stin Han­na Ro­sin, über das ich spä­ter noch ei­ni­ges sa­gen wer­de, tre­ten Kar­rie­re­frau­en auf, die, nach Se­xis­mus am Ar­beits­platz be­fragt, mei­nen, die­se Din­ge sol­le man ein­fach igno­rie­ren, das Ver­hal­ten sol­cher Män­ner sei ein­fach nur lä­cher­lich. Nicht je­de ist frei­lich so ei­ne star­ke, selbst­be­wuß­te Frau, und auf der Stra­ße, in Um­ge­bun­gen, die man nicht so ge­nau ein­schät­zen kann, ist es viel schwie­ri­ger, die Sät­ze und Ge­sten ein­fach an sich ab­pral­len zu las­sen.

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LOOK! (I)

1

Un­längst fuhr ich in Wien in ei­nem U‑Bahnwaggon der Li­nie 1. Ich setz­te mich zu zwei Per­so­nen, die ein­an­der ge­gen­über sa­ßen, ein jun­ger Mann und ei­ne jun­ge Frau, von de­nen ich im er­sten Mo­ment an­nahm, daß sie zu­sam­men­ge­hör­ten. Der jun­ge Mann, um die Drei­ßig, sprach ru­hig, aber die Frau wirk­te starr, sie sag­te kein Wort und ver­zog kei­ne Mie­ne. Nein, die bei­den wa­ren kei­ne Be­kann­ten, son­dern Frem­de. Es dau­er­te nicht lan­ge, bis der Mann sich mir zu­wand­te. Ich ent­schul­dig­te mich, ich sei ge­ra­de erst dazuge­kommen und wis­se nicht, wo­von die Re­de sei. Er blieb bei sei­nem The­ma, als ge­be es oh­ne­hin nur das ei­ne, je­der kön­ne sich je­der­zeit ein­klin­ken. Es sei doch selt­sam, mein­te er, daß sich al­le Leu­te dun­kel klei­den wür­den, die mei­sten schwarz, da kom­me nicht die ge­ring­ste Le­bens­freu­de zum Aus­druck.

Ich wag­te ei­nen Sei­ten­blick auf die ne­ben mir sit­zen­de Frau: Rich­tig, die Klei­dung schwarz. Es war An­fang März, vor kur­zem hat­te es noch ge­schneit. Mir war selbst schon oft auf­ge­fal­len, daß sich die Leu­te im Win­ter vor­wie­gend dun­kel klei­de­ten. Be­son­ders in Ita­li­en, als ich ei­nen Win­ter­mo­nat in ei­nem Dorf in La­ti­um ver­brach­te, hat­te ich die Uni­for­mi­tät, die aus­nahms­lo­se Uni­ko­lo­ri­tät un­ter den Jun­gen, ge­ra­de­zu ab­surd ge­fun­den. Ich sag­te zu dem jun­gen Mann, so sei das nun mal im Win­ter, ei­ne Mo­de­er­schei­nung, ei­ne ich weiß nicht was... Viel­leicht füh­le man in dunk­ler Klei­dung die Käl­te nicht so stark. Ich dach­te an die wei­ßen Ho­sen und Män­tel, die man­che Frau­en in Ja­pan im Win­ter tra­gen, ei­ner al­ten sym­bo­li­sti­schen Äs­the­tik fol­gend, in wel­cher Stof­fe und Or­na­men­te häu­fig den Wan­del der Jah­res­zei­ten nach­zu­ah­men trach­ten. Aber das sag­te ich nicht.

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