Ma­ja Ha­der­lap: Nacht­frau­en

Maja Haderlap: Nachtfrauen
Ma­ja Ha­der­lap:
Nacht­frau­en

2012 glänz­te Ma­ja Ha­der­lap mit En­gel des Ver­ges­sens Le­ser und Kri­tik. Hier er­schrieb ei­ne Au­torin mit Leich­tig­keit und Stren­ge ein im­mer­gül­ti­ges Denk­mal über ih­ren Va­ter, der Groß­mutter und zu­gleich den Kärnt­ner Slo­we­nen, die­sen »viel­fach Ver­sehr­ten«. Das Buch be­ein­druck­te in sei­ner Viel­schich­tig­keit als Dorf- und Land­schafts­er­zäh­lung, Bil­dungs­ro­man, Ge­schichts­be­schrei­bung und spann­te ei­nen epi­schen Bo­gen in die Fa­mi­lie der Er­zäh­le­rin. Und nun al­so, viel­fach er­war­tet, ja er­sehnt, nach mehr als zehn Jah­ren Nacht­frau­en, der neue Ro­man.

Nacht­frau­en ist in zwei Tei­le ge­glie­dert. Der er­ste Teil, der ziem­lich ge­nau zwei Drit­tel des Bu­ches ein­nimmt, er­zählt aus per­so­na­ler Sicht von Mi­ra, die in heik­ler Mis­si­on zu ih­rer Mut­ter nach Kärn­ten fährt. Mi­ra ist Kärnt­ner Slo­we­nin, lebt aber seit ih­rem Stu­di­um in Wien, wur­de wi­der­wil­lig zu ei­nem »Stadt­men­schen«. Sie ar­bei­tet als Fach­re­fe­ren­tin im Kul­tur­be­trieb und ist ver­hei­ra­tet mit Mar­tin, ei­nem Leh­rer. Das Paar ist kin­der­los, die Ehe ist nicht span­nungs­frei. Spo­ra­disch be­sucht sie ih­re Mut­ter. Ihr Va­ter, ein Wald­ar­bei­ter, kam bei der Ar­beit ums Le­ben. Mi­ra wur­de hier­für ei­ne Mit­schuld ge­ge­ben. Der Tod des Va­ters bzw. Ehe­manns hat das Le­ben der Fa­mi­lie kom­plett ver­än­dert.

An­ni, die Mut­ter, kör­per­lich leicht ge­brech­lich, soll aus ih­rem Haus in ein Heim um­zie­hen, da­mit Franz, Mi­ras Cou­sin, das Ge­bäu­de zu ei­ner Tisch­ler­werk­statt um­bau­en kann. So wur­de es be­schlos­sen. An­ni wehrt sich, for­mu­liert Be­din­gun­gen, et­wa, dass ih­re Samm­lung von Bau­ern­werk­zeug vor­her in ein Mu­se­um ver­bracht wer­den soll. Stan­ko, Mi­ras Bru­der, ist mit der Si­tua­ti­on über­for­dert. Mi­ras Be­such ist auf zwei Wo­chen an­ge­setzt; es ist Früh­ling und bis En­de des Jah­res soll der Aus­zug An­nis statt­ge­fun­den ha­ben. Es geht um Bau­ge­neh­mi­gun­gen und Fri­sten.

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Flo­ri­an Il­lies: Zau­ber der Stil­le

Florian Illies: Zauber der Stille
Flo­ri­an Il­lies:
Zau­ber der Stil­le

Der 250. Ge­burts­tag von Cas­par Da­vid Fried­rich, dem Ma­ler der Ro­man­tik schlecht­hin, wirft sei­ne Schat­ten vor­aus. Für 2024 sind gro­ße Aus­stel­lun­gen in Ber­lin, Dres­den, Ham­burg und Fried­richs Ge­burts­stadt Greifs­wald ge­plant. Man ahnt schon die Ber­ge von Po­stern, Kaf­fee­tas­sen, Kühl­schran­kauf­kle­bern und Post­kar­ten in den Mu­se­ums­shops. Da will auch Flo­ri­an Il­lies nicht feh­len, der mit Zau­ber der Stil­le ei­nen im ty­pi­schen Il­lies-Duk­tus ver­fass­ten Band vor­legt, an­ge­kün­digt als »Rei­se durch die Zei­ten«. Um es nicht zu ein­fach zu ma­chen, hat Il­lies kei­ne Chro­no­lo­gie ver­fasst, son­dern sor­tiert sei­ne Hi­stör­chen nach den vier Ele­men­ten Feu­er, Was­ser, Er­de und Luft. Je­dem Ele­ment wird ein (je­weils satt­sam be­kann­tes) Ge­mäl­de vor­an­ge­stellt; mehr als die­se vier Bil­der wer­den nicht ge­zeigt, was zu ei­nem ver­mehr­ten Such­ma­schi­nen­kon­sum beim Le­ser führt.

In Feu­er, dem um­fang­reich­sten Ka­pi­tel, er­fährt man, wie Fried­richs Ge­burts­haus ab­brann­te und lernt ei­ni­ges dar­über, wie häu­fig sei­ne Bil­der Op­fer von Flam­men oder Zer­stö­rung wur­den. Es gibt viel Ku­rio­ses (et­wa als je­mand 1943 sei­ne Fried­rich-Bil­der aus Schutz vor Bom­bar­die­rung in ei­nen Mu­se­ums­kel­ler ver­bringt – und die­se dort we­ni­ge Stun­den spä­ter ver­nich­tet wur­den) und der Au­tor kann es auch in die­sem Buch nicht las­sen, die ge­schil­der­ten Er­eig­nis­se mit an­de­ren, in­kom­pa­ti­blen Vor­fäl­len zu kom­bi­nie­ren. Als et­wa 1931 der Münch­ner Glas­pa­last ab­brennt – dar­un­ter auch Fried­rich-Bil­der – rat­tert die Mög­lich­keits­ma­schi­ne auf Hoch­tou­ren. Denn schließ­lich wohn­te da­mals nicht weit ent­fernt Ge­li Rau­bal, Adolf Hit­lers Nich­te, die, wie der Au­tor flei­ßig nach­ge­schla­gen hat, »drei Mo­na­te nach dem schockie­ren­den Brand….im Al­ter von 23 Jah­ren ein töd­li­ches Feu­er auf sich selbst er­öff­nen« wird. Und wie Tho­mas Mann, der auch zu die­ser Zeit in Mün­chen leb­te, die­ses In­fer­no mit­be­kom­men hat – auch das wis­sen wir nicht. Aber schön, dass wir mal über die­ses Nicht­wis­sen ein biss­chen ge­schrie­ben ha­ben.

Es sind die­se Pas­sa­gen ver­bla­se­ner Pseu­do-Ge­lehr­sam­keit, die ei­nem die­ses Buch ver­lei­den. Si­cher, Fried­rich und Ri­chard Wag­ner hät­ten sich tref­fen kön­nen, weil sie ein­mal im glei­chen Gast­hof lo­gier­ten. Ha­ben sie aber nicht – und selbst wenn: was könn­te man dar­aus ab­lei­ten? Als Fried­rich 1813 vor den fran­zö­si­schen Trup­pen von Dres­den in das klei­ne Städt­chen Krip­pen (heu­te Bad Schand­au) flieht, geht aus­ge­rech­net dort der ver­hass­te Na­po­le­on an Land. Il­lies ist be­gei­stert: Er »muss ihn ge­se­hen ha­ben, aus dem Fen­ster sei­ner Woh­nung oder aus den wal­di­gen Hü­geln.« Ein an­der­mal muss der klei­ne Ort Wiek auf der Halb­in­sel Rü­gen für ei­ne irr­wit­zi­ge Ana­lo­gie her­hal­ten. In Wiek ent­stand, so weiß der Au­tor, in Fried­richs Kopf das Bild Auf dem Seg­ler. Ein Mann und ei­ne Frau – wie ge­wohnt in Rücken­an­sicht – se­geln händ­chen­hal­tend auf ei­nem Schiff. Und knapp 200 Jah­re spä­ter star­tet in Wiek die An­dro­me­da, »ei­ne klei­ne Se­gel­yacht«, aufs »of­fe­ne Meer« und »in der Nä­he von Born­holm« zie­hen dann die Be­sat­zungs­mit­glie­der ih­re Tau­cher­an­zü­ge an und kurz dar­auf sind gro­ße Tei­le der Nord Stream-Pipe­lines zer­stört.

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Ei­ne Sa­che des Da­für­hal­tens

Am 22. Ok­to­ber 2023 ver­fass­te ich ei­nen klei­nen Text über den Streit um das Buch Ei­ne Ne­ben­sa­che von Ada­nia Shi­b­li und das Schwei­gen der Au­torin zu den Ein­wän­den. So ganz hat sie dann doch nicht ge­schwie­gen, son­dern ei­nen Ver­bots­an­trag beim Land­ge­richt Ham­burg ge­gen die ta­ges­zei­tung (taz) ge­stellt, die am 10. Ok­to­ber 2023 ei­ne eher ab­leh­nen­de ...

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Jo­seph Roth: Ra­detz­ky­marsch

Ich weiß nicht, wann ich Ra­detz­ky­marsch von Jo­seph Roth das er­ste Mal ge­le­sen ha­be. Es war si­cher­lich ein Bi­blio­theks­exem­plar. Nun al­so, nach vie­len Jah­ren, wie­der (nach die­ser Ver­si­on). Wie so oft er­kann­te man Pas­sa­gen, an­de­re wie­der­um wa­ren ei­nem gänz­lich ent­fal­len. Wie wür­de man die Ge­ne­ra­tio­nen­ge­schich­te der Trot­tas heu­te le­sen und be­ur­tei­len, wenn nicht Jo­seph Roth der Au­tor wä­re? Hat die­ses Buch, um ei­ne (lei­der schein­bar) un­um­gäng­li­che Vo­ka­bel zu ver­wen­den, heu­te noch »Be­stand«? Im­mer wie­der wird es re­fe­ren­ziert. In­zwi­schen gilt fast als ein Do­ku­ment für die Un­aus­weich­lich­keit des Un­ter­gangs der Habs­bur­ger Mon­ar­chie.

Ra­detz­ky­marsch um­fasst drei Ge­ne­ra­tio­nen. Es be­ginnt 1849, als Leut­nant Jo­seph Trot­ta in ei­ner gei­stes­ge­gen­wär­ti­gen Ak­ti­on dem Kai­ser Franz Jo­seph I nach der Schlacht von Sol­fe­ri­no das Le­ben ret­tet, in­dem er im letz­ten Mo­ment den Mon­ar­chen aus der Schuss­bahn ei­nes Sni­pers wirft und da­bei sel­ber an der Schul­ter ver­wun­det wird. Der Kai­ser lässt sich nicht lum­pen, er­hebt sei­nen Le­bens­ret­ter in den Adels­stand (»Frei­herr von Si­pol­je«), be­för­dert ihn zum Haupt­mann und wird spä­ter mit ei­nem üp­pi­gen Bei­trag die Aus­bil­dung von Jo­sephs Sohn fi­nan­zie­ren (was der Ret­ter, wie es heißt, »miß­mu­tig ent­ge­gen« nahm).

Der Grund für den Miss­mut: Er fin­det ei­nes Ta­ges im Schul­buch sei­nes fünf­jäh­ri­gen Soh­nes Franz ei­ne Dar­stel­lung des Ge­sche­hens der Ret­tungs­ak­ti­on, die nicht den Tat­sa­chen ent­spricht. Zwar wird er dort na­ment­lich als Ret­ter er­wähnt, aber den Kai­ser stellt man als he­roi­schen Teil­neh­mer ei­nes Ge­fechts dar. Jo­seph von Trot­ta ist ent­setzt, be­schwert sich bei sei­nem Vor­ge­setz­ten, schreibt ei­nen Brief an das Un­ter­richts­mi­ni­ste­ri­um und als bei­des ver­pufft so­gar an den Kai­ser. Die Ant­wort ist im­mer die glei­che: Man soll doch bit­te die Sa­che nicht so ernst neh­men. In Kin­der­bü­chern wür­de nun mal ver­ein­facht; spä­ter er­folg­ten schon noch Kor­rek­tu­ren. Was na­tür­lich – das wuss­te Jo­seph – nie pas­siert.

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Na­tal­ja Kljut­schar­jo­wa: Ta­ge­buch vom En­de der Welt

Natalja Kljutscharjowa: Tagebuch vom Ende der Welt
Na­tal­ja Kljut­schar­jo­wa:
Ta­ge­buch vom En­de der Welt

Na­tal­ja Kljut­schar­jo­wa ist 41 Jah­re alt, schreibt Ge­dich­te, Thea­ter­stücke, or­ga­ni­siert Per­for­man­ces und gibt Li­te­ra­tur­work­shops. Sie hat zwei Kin­der und lebt in Ja­ros­lawl, ei­ner mehr als tau­send Jah­re al­ten Stadt, 300 km von Mos­kau ent­fernt. Auf dem Bild im so­eben von ihr er­schie­ne­nen Ta­ge­buch vom En­de der Welt sieht man ei­ne nach­denk­lich schau­en­de Frau mit Hoo­die und Le­der­jacke. Nach der Lek­tü­re die­ses von Gan­na-Ma­ria Braun­gardt über­setz­ten Bu­ches von noch nicht ein­mal zwei­hun­dert Sei­ten schwankt man zwi­schen Be­wun­de­rung vor und Angst um die­se Au­torin.

Denn die­se nimmt in ih­rem im Fe­bru­ar 2022 be­gon­ne­nen und ein Jahr spä­ter ab­ge­schlos­se­nen ta­ge­buch­ähn­li­chen No­ti­zen, Be­ob­ach­tun­gen, Er­zäh­lun­gen und selbst­ver­fass­ten Ge­dich­ten kei­ne Rück­sich­ten, am we­nig­sten, wie es scheint, auf sich sel­ber. Die er­ste, die ihr vom Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne Mit­tei­lung macht ist Li­sa, die Deutsch­leh­re­rin. Kljut­schar­jo­wa kann das zu­nächst nicht glau­ben, ist schockiert. Und so­fort sieht sie sich in ei­ne Recht­fer­ti­gungs­si­tua­ti­on ge­drängt: »Ich bin nicht schuld an dem, was ge­schieht. Ich ha­be die­sen Prä­si­den­ten nicht ge­wählt. […] Ich bin nicht schuld dar­an, dass ich nicht im Ge­fäng­nis sit­ze. Ich bin nicht schuld dar­an, dass ich nicht ins Ge­fäng­nis will. Ich bin nicht schuld dran, dass ich zwei Kin­der ha­be, die al­lein wä­ren, soll­te ich bei ei­ner nicht ge­neh­mig­ten Kund­ge­bung ver­haf­tet wer­den…«

Die­ses von Scham und Dul­dungs­schuld ge­tra­ge­ne Be­kennt­nis wird sie über den ge­sam­ten Zeit­raum im­mer wie­der neu de­fi­nie­ren. Aber sie will auch nicht schwei­gen, will vor sich sel­ber be­stehen, nicht Teil die­ser rus­si­schen Po­li­tik und die­ser le­thar­gi­schen Ge­sell­schaft sein. Mo­na­te spä­ter – man hat sich not­dürf­tig ein­ge­rich­tet mit der Si­tua­ti­on – fragt sie, ob man mit spo­ra­disch or­ga­ni­sier­ten Auf­trit­ten oder Le­sun­gen nicht in Wirk­lich­keit das Sy­stem, »das Bö­se«, stüt­ze, die Il­lu­si­on der Nor­ma­li­tät auf­recht er­hal­te. »Oder wi­der­set­zen wir uns im Ge­gen­teil dem Bö­sen. Zum Bei­spiel, in­dem wir Men­schen ei­ne Atem­pau­se ge­wäh­ren, sie für an­dert­halb Stun­den aus der De­pres­si­on ho­len […], sie dar­an er­in­nern, dass es im Le­ben noch et­was an­de­res gibt als die­se schreck­li­chen Nach­rich­ten, dass es grö­ßer und wei­ter ist als die­ser end­lo­se Alb­traum, und dass es dar­um Hoff­nung gibt, dass er doch nicht end­los wä­ren wird?«

Die Über­le­gung ist nicht neu; sie er­gab sich bei­spiels­wei­se auch in Deutsch­land nach dem Krieg, als Schau­spie­ler und Fil­me­ma­cher der UFA-Zeit (zu­meist vor­sich­tig) be­fragt wur­den, wie sie gu­ten Ge­wis­sens im »Drit­ten Reich« all die­se Fil­me, dar­un­ter wenn nicht Pro­pa­gan­da- so doch Durch­hal­te­fil­me dre­hen konn­ten. Auch sie spra­chen vom Ab­len­ken, von Atem­pau­sen, von »Un­ter­hal­tung«. Aber der Ver­gleich hinkt, hier ist es an­ders, denn Kljut­schar­jo­wa und ih­re Freun­de wol­len nicht ei­ne Mas­se nar­ko­ti­sie­ren – die er­rei­chen sie gar nicht und wenn dies so wä­re, dann wür­den sie vor­her ver­haf­tet -, sie wol­len der Bar­ba­rei die Kunst ge­gen­über­stel­len.

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Shib­lis Schwei­gen

Ich ge­ste­he, dass ich Ada­nia Shib­lis prä­mier­tes Buch Ei­ne Ne­ben­sa­che nicht ge­le­sen ha­be. Die Kon­fron­ta­ti­on war mir auch lan­ge Zeit ent­gan­gen, bis ich über Face­book von Car­sten Ot­te dar­auf auf­merk­sam ge­wor­den wur­de. Grob ge­sagt wirft man der Au­torin vor, an­hand ei­ner wah­ren Be­ge­ben­heit aus dem Jahr 1949 über ein ver­ge­wal­tig­tes Be­dui­nen­mäd­chen durch ei­ne is­rae­li­sche Ar­­mee- ...

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Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne: Krieg

Louis-Ferdinand Céline: Krieg
Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne: Krieg

Im Au­gust 2021 er­fuhr die Öf­fent­lich­keit von bis­her ver­bor­ge­nen, rund 6000 Ma­nu­skript­sei­ten des 1961 ver­stor­be­nen fran­zö­si­schen Schrift­stel­lers Lou­is-Fer­di­nand Cé­li­ne. Hat­te der Au­tor nicht im­mer be­haup­tet, die Ma­nu­skrip­te sei­en zer­stört oder ge­stoh­len wor­den? Nach Prü­fung auf Echt­heit steht nun fest, dass es sich streng ge­nom­men nicht um ei­ne Ent­deckung, son­dern ei­ne Ent­hül­lung han­del­te. Den Weg die­ses Kon­vo­luts zeich­net Ni­klas Ben­der in sei­nem in­struk­ti­ven Vor­wort zu Krieg nach, dem er­sten, ins Deut­sche über­setz­ten Text die­ses Ma­nu­skript­bün­dels.

Der Ro­man wird in ei­ner po­pu­lä­ren und da­mit les­ba­ren Ver­si­on prä­sen­tiert. Die zahl­rei­chen Kor­rek­tu­ren des Au­tors, von de­nen ei­ni­ge im Buch ab­ge­druck­ten fak­si­mi­lier­ten Sei­ten ei­nen Ein­druck ge­ben, sind nicht auf­ge­führt wor­den. Für das un­mit­tel­ba­re Ver­ständ­nis wich­ti­ge Er­gän­zun­gen (bei­spiels­wei­se Cé­li­nes Wort­spie­le bei Stadt- und Per­so­nen­na­men) fin­det man in prä­zi­se ge­setz­ten Fuß­no­ten. Die Über­set­zung ist glück­li­cher­wei­se von Hin­rich Schmidt-Hen­kel, der schon meh­re­re Bü­cher von Cé­li­ne, dar­un­ter auch die Rei­se ans der En­de der Nacht ins Deut­sche über­tra­gen hat­te (und, »ne­ben­bei«, auch der Über­set­zer des ak­tu­el­len No­bel­preis­trä­gers Jon Fos­se ist).

Wer ein biss­chen über Cé­li­ne weiß, soll­te mit dem ei­gent­li­chen Text be­gin­nen und das Vor­wort da­nach le­sen. Die er­sten zehn Sei­ten des Ma­nu­skripts schei­nen tat­säch­lich ver­lo­ren zu sein. Die Über­tra­gung be­ginnt mit Sei­te 10. Fer­di­nand, ein schwer ver­wun­de­ter, um­her­ir­ren­der Ich-Er­zäh­ler, ori­en­tiert sich im Ja­nu­ar 1915 von der Front zu­rück ins Hin­ter­land. Er sieht auf­ge­platz­te Men­schen und auf­ge­schlitz­te Pfer­de und hat »grau­en­haf­te Schmer­zen«. Zum ei­nen ist ein Arm schwer ver­letzt (er hängt, wie es ein­mal heißt, »in Fet­zen«). Und zum an­de­ren steckt ei­ne Ku­gel in sei­nem Kopf, in der Nä­he des Ohrs. »Der Krieg hat mich im Kopf er­wischt. Er ist in mei­nem Kopf ein­ge­sperrt.« Er hört per­ma­nent ei­ne »Ge­räusch­sup­pe«, »Ge­tö­se«, »Ohr­ge­don­ner«; dies wird ihn bis zum En­de nicht ver­las­sen. Nach vie­len Ir­run­gen lan­det er in ei­nem La­za­rett im fik­ti­ven Ort »Peur­du-sur-la-Lys« (Wort­spiel aus »peur« für Angst und »per­du« für ver­lo­ren). Hal­lu­zi­na­ti­on und Rea­li­tät sind nur schwer zu un­ter­schei­den; Fer­di­nand ver­mischt al­les. Der Text kon­zen­triert sich zu­nächst auf ei­ne Kran­ken­schwe­ster, die ihn mal ma­stur­biert, dann ka­the­te­ri­siert, dann bei­des. Sie wird, so die Er­zäh­lung, zu ei­ner Für­spre­che­rin, gar Ge­lieb­ten. Zwar wird der Arm ope­riert, aber das der schein­bar we­nig rou­ti­nier­te Arzt die Ku­gel aus dem Kopf ent­fernt, ver­hin­dert sie. Die Be­kannt­schaf­ten un­ter den ein­ge­lie­fer­ten Pa­ti­en­ten wech­seln – die mei­sten ster­ben weg. Län­ger hält ei­ne Art Freund­schaft zu ei­nem ge­wis­sen Bé­bert, der mit ei­ner Schuß­wun­de im Fuß ein­ge­lie­fert wur­de und merk­wür­di­ger­wei­se auf ei­ne Am­pu­ta­ti­on drängt. (Die Vor­läu­fig­keit des Ma­nu­skripts be­dingt, dass Bé­bert im Lau­fe des Ro­mans Cas­ca­de heißt und auch sonst die Fi­gu­ren manch­mal un­ter­schied­li­che Na­men tra­gen; es stört we­nig.)

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»Schreckens Män­ner« – Re­vi­si­on ei­ner Lek­tü­re

Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer - Versuch über den radikalen Verlierer
Hans Ma­gnus En­zens­ber­ger: Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer

2006 er­schien in ei­nem »Son­der­druck« der edi­ti­on suhr­kamp Hans Ma­gnus En­zens­ber­gers kur­zer Es­say Schreckens Män­ner – Ver­such über den ra­di­ka­len Ver­lie­rer. Mei­ne Be­spre­chung da­mals war eher ab­leh­nend. Zu holz­schnitt­ar­tig schien HME zu ar­gu­men­tie­ren, zu kon­stru­iert die Par­al­lel­füh­rung zwi­schen den »Ver­lie­rern« der ara­bi­schen Welt mit der Macht­über­nah­me durch Hit­ler. Die is­la­mi­sche Welt und das Phä­no­men des Is­la­mis­mus wur­de et­was sim­pel auf »Ara­ber« re­du­ziert, so als ha­be es die »Is­la­mi­sche Re­vo­lu­ti­on« im Iran mit all ih­ren Schreckens­aus­wüch­sen nicht ge­ge­ben.

Die­se Kri­tik­punk­te blei­ben. Aber den­noch muss ich heu­te Ab­bit­te lei­sten. Liest man das Buch noch ein­mal – mit dem Wis­sen um all die aus­ge­las­se­nen Chan­cen, den geo­po­li­ti­schen Kon­flikt um Pa­lä­sti­na im Na­hen Osten zu lö­sen und un­ter der Be­rück­sich­ti­gung der ul­ti­ma­ti­ven »Schreckens Män­ner« des so­ge­nann­ten »Is­la­mi­schen Staats« – so er­kennt man, dass En­zens­ber­ger ei­ne Ent­wick­lung vor­weg nahm. (Her­vor­he­bun­gen in den fol­gen­den Zi­ta­ten sind von mir.)

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