Chri­stoph Pe­ters: Dorf­ro­man

Chri­stoph Pe­ters:
Dorf­ro­man

Ei­nen »Dorf­ro­man« über den Nie­der­rhein, be­han­delnd die Jah­re un­ge­fähr zwi­schen 1975 und 1982, teil­wei­se ge­spie­gelt aus der Er­in­ne­rung durch ei­nen Sohn, der in­zwi­schen in Ber­lin wohnt und die be­tag­ten El­tern (um die 83 Jah­re) in ih­rem Haus im Dorf zu Pfing­sten be­sucht. Das al­les auf 400 Sei­ten. Wer Ac­tion oder Skan­dal oder bei­des will, soll­te das Buch zur Sei­te le­gen. Aber wer sich bei­spiels­wei­se für Zeit- und Kul­tur­ge­schich­te der al­ten Bun­des­re­pu­blik in­ter­es­siert, ist hier rich­tig.

Das Dorf ist Hül­ken­donck. Goog­le Maps kennt es nicht, aber man kennt dort auch nicht »Cal­car« und »Cle­ve«, wie die näch­sten Städ­te in al­ter Recht­schrei­bung (war­um auch im­mer) im Ro­man ge­nannt wer­den. Bei Kal­kar horcht man viel­leicht auf – und liegt rich­tig: Es geht um den so­ge­nann­ten »Schnel­len Brü­ter«, ein sei­ner­zeit neu­ar­ti­ger Kern­kraft­werk-Typ, ge­plant, be­wil­ligt und ge­baut in den 1970er Jah­ren und von da an fast im­mer um­strit­ten und um­kämpft. Als er fer­tig war, vie­le Jah­re spä­ter, (na­tür­lich wa­ren die Bau­ko­sten ex­plo­diert) woll­te ihn nie­mand mehr. Er ging nie ans Netz. Mil­li­ar­den für Nichts. Na­ja, heu­te ist dort »Kern­was­ser­wun­der­land«, ein Frei­zeit­park mit Kir­mes und Dis­co.

Chri­stoph Pe­ters, 1966 in Kal­kar ge­bo­ren, ist der Au­tor die­ses Dorf­ro­mans. In­wie­fern jetzt der Ich-Er­zäh­ler tat­säch­lich Chri­stoph Pe­ters ist, wird nicht auf­ge­löst. Er bleibt im üb­ri­gen na­men­los. Wie merk­wür­di­ger­wei­se auch al­le an­de­ren Prot­ago­ni­sten der en­ge­ren Fa­mi­lie – der Va­ter, die Mut­ter, die Ge­schwi­ster – wäh­rend es an­son­sten vor Na­men oder Spitz­na­men der Nenn- und rich­ti­gen Tan­ten und ‑On­kel, Groß­el­tern, Cou­si­nen und Cou­sins nur so wim­melt (ein Ver­zeich­nis braucht man sich nicht an­zu­le­gen; die mei­sten blei­ben Epi­so­de). Am En­de wird pflicht­schul­dig auf die Fik­ti­on ver­wie­sen; Ähn­lich­kei­ten mit le­ben­den oder ver­stor­be­nen Per­so­nen sei­en nicht be­ab­sich­tigt.

Das Er­zähl­prin­zip ist zu­nächst ge­wöh­nungs­be­dürf­tig. In den un­ge­ra­de num­me­rier­ten Ka­pi­teln, die mit rö­mi­schen Zif­fern ver­se­hen wer­den, er­zählt ein et­wa elf­jäh­ri­ger Jun­ge (man kann an­hand ei­ni­ger Da­ten die­sen Be­reich er­mit­teln) in durch­aus kind­li­chem Ta­ge­buch­duk­tus sei­ne Er­leb­nis­se in Schu­le, El­tern­haus und Dorf. In den Ka­pi­teln mit ge­ra­den, ara­bi­schen Zif­fern, be­rich­tet ein Ich-Er­zäh­ler von sei­nem ak­tu­el­len Be­such bei den El­tern und ge­rät auf­grund von zwei schein­bar be­lang­lo­sen Be­ge­ben­hei­ten in ei­nen Er­in­ne­rungs­strom. Zum ei­nen er­kun­digt sich der Va­ter nach Ju­lia­ne, die, wie sich spä­ter her­aus­stellt, er­ste Freun­din des Ich-Er­zäh­lers (die al­ler­dings, was die El­tern wis­sen müss­ten, schon län­ger ver­stor­ben ist). Zum an­de­ren ent­deckt der Sohn in sei­nem Kin­der­zim­mer un­ter all den al­ten Ge­gen­stän­den ein Schmet­ter­lings­netz, wel­ches ihn nun voll­ends in die Zeit zu­rück­schickt, in der er mit fünf­zehn­ein­halb Jah­ren durch die hei­mi­sche Flur spa­zier­te und – mit Un­ter­stüt­zung sei­nes Bio­lo­gie­leh­rers – Schmet­ter­lin­ge be­stimm­te, fing und pro­fes­sio­nell prä­pa­rier­te um hier­aus un­ter an­de­rem Schlüs­se über die ab­neh­men­de Ar­ten­viel­falt zu zie­hen. Sein Be­rufs­wusch war da­mals Tier­for­scher; Bern­hard Grzimek und Heinz Siel­mann die Vor­bil­der.

Schnell wird deut­lich, dass es sich um ein und die­sel­be Per­son han­delt, die er­zählt. Die Mut­ter, ei­ne Zu­ge­rei­ste, die ei­gent­lich nie ganz hei­misch wur­de, ist Leh­re­rin, der Va­ter »Trak­tor­schlos­ser«. Sein Chef ver­kauft Land­ma­schi­nen, die er war­tet und bei Be­darf re­pa­riert. Kun­den­dienst hat ober­ste Prio­ri­tät, auch wenn er nur An­ge­stell­ter ist. Bei­de El­tern­tei­le sind um 1933 ge­bo­ren. Der Bru­der und die Schwe­ster sind ei­ni­ge Jah­re jün­ger als der Er­zäh­ler; sie kom­men im Buch kaum vor. Man lebt im ei­ge­nen Haus, ist flei­ßig. Al­so das, was man spä­ter dann ein­mal »Spie­ßer« nennt.

Im Dorf woh­nen rund 400 Ein­woh­ner. Al­les ist land­wirt­schaft­lich ge­prägt; Bau­ern sind die heim­li­chen »Her­ren«, so­fern sie Grund­be­sitz ha­ben. Am wohl­ha­bend­sten sind die­je­ni­gen, die Tei­le ih­res Lan­des ver­pach­ten kön­nen. Sie fah­ren Mer­ce­des (wie auch der Va­ter). Nach au­ßen scheint die Dorf­ge­mein­schaft Mit­te der 1970er Jah­re noch in Ord­nung. Man wählt zu 70% CDU, die we­ni­gen SPD-Wäh­ler wer­den aber to­le­riert (so­fern man sie kennt – ein Abon­ne­ment der NRZ gilt als In­diz). Sonn­tags geht man zur Mes­se, wo­bei es schon fast ei­ner Re­vo­lu­ti­on gleich­kommt, wenn Fa­mi­li­en in der Kir­che zu­sam­men­sit­zen und nicht der Tren­nung nach Ge­schlech­tern fol­gen. Um­welt­schutz ist noch weit­ge­hend ein Fremd­wort. Die Fi­sche im Rhein sind längst un­ge­nieß­bar ge­wor­den; die Ver­schmut­zung der Ge­wäs­ser ist ex­or­bi­tant.

Und dann gibt es die­sen »Schnel­len Brü­ter«, das ge­plan­te Atom­kraft­werk, das Wan­del und Wohl­stand und Si­cher­heit der Strom­ver­sor­gung in der Re­gi­on ver­spricht. Neue Stra­ßen statt Mo­rast­we­ge. Ar­beits­plät­ze. Ob­wohl ihr Haus nur knapp 500 m vom zu­künf­ti­gen Kern­kraft­werk ent­fernt wä­re, ist des Er­zäh­lers Va­ter für den Brü­ter (die Mut­ter schließt sich ihm an, denn schließ­lich ha­ben sich Wis­sen­schaft­ler und Po­li­ti­ker da­mit be­schäf­tigt). Er sitzt im Kir­chen­vor­stand, ei­nem wich­ti­gen Gre­mi­um im Dorf. Hier wird Po­li­tik ge­macht. Die Bau­ern sind ge­gen den »Brü­ter«. Sie do­mi­nie­ren den Kir­chen­vor­stand. Das Land, dass der Kir­che ge­hört, ist bil­lig und das soll so blei­ben. Die Kir­che hin­ge­gen will das Land an den Brü­ter-Bau­herrn ver­kau­fen. Man kann sich nicht ei­ni­gen. Der Bi­schof löst den Kir­chen­vor­stand ein­fach auf. Ei­ne Un­ge­heu­er­lich­keit. Die La­ge spitzt sich zu; es dro­hen an­geb­lich so­gar Ent­eig­nun­gen von Staats we­gen. Der Kir­chen­vor­stand wird neu ge­wählt; des Er­zäh­lers Va­ter ist in­vol­viert. Das Dorf ist ge­spal­ten. Es ist al­les un­gleich ern­ster als die Dif­fe­ren­zen zwi­schen CDU- und SPD-An­hän­gern, die in den Knei­pen nach ei­ni­gen Bie­ren un­wich­tig wer­den. Den An­ders­den­ken­den grüßt man nicht mehr, wech­selt so­gar die Stra­ßen­sei­te. Freund­schaf­ten, Stamm­ti­sche, so­gar Ge­schäfts­be­zie­hun­gen zer­bre­chen. Wir­te müs­sen sich zu­rück­hal­ten, um nicht Gä­ste zu ver­lie­ren. Die Dorf­ge­mein­schaft ist ir­gend­wann zer­rüt­tet. Dass je­mand vom an­de­ren »La­ger« trotz­dem ein an­stän­di­ger Mensch sein kann – es ist na­he­zu un­denk­bar ge­wor­den.

Schließ­lich wä­ren da noch die frem­den AKW-Geg­ner. Ein Bau­er stellt ih­nen Land zur Ver­fü­gung. Sie er­rich­ten dort ein Camp, wün­schen sich ei­ne »Re­pu­blik frei­er Nie­der­rhein«. Der Er­zäh­ler er­in­nert sich, wie er mit fünf­zehn­ein­halb und ei­nem Schmet­ter­lings­netz (es galt ei­nen Schwal­ben­schwanz zu fan­gen) plötz­lich vor dem Camp der Kern­kraft­geg­ner steht und die läs­sig ge­klei­de­te 22jährige Ju­lia­ne sieht. Er ist fas­zi­niert von der Frau, von de­ren Le­bens­stil und ih­rer Rhe­to­rik, die ei­ne un­mit­tel­ba­re Welt­ret­tung ver­langt – und zwar zu al­ler­erst, in dem man die­ses Bau­vor­ha­ben mit all sei­nen Ge­fah­ren stoppt. Bis­her hat­te er nur die Vor­ur­tei­le sei­ner El­tern über die Lang­haa­ri­gen ge­hört. Die Leu­te im Camp sind halb­wegs nor­mal. Statt sei­nem Va­ter im Gar­ten zu hel­fen, fasst er dort an. Es ist Ju­lia­ne, die ihn nicht nur in Ge­wis­sens­kon­flik­te stürzt, son­dern auch – das muss­te ja kom­men – in die Won­nen der Lie­be.

Sie, die Toch­ter ei­nes Rich­ters, den sie als üb­rig­ge­blie­be­nen Na­zi be­schreibt, hat mit ih­ren El­tern end­gül­tig ge­bro­chen. Er be­wun­dert die­se Kon­se­quenz, ist aber an­de­rer­seits auch ge­spal­ten. Er er­kennt durch­aus sei­ne El­tern an und möch­te es sich auch nicht voll­stän­dig mit den Dorf­be­woh­nern ver­der­ben, an­de­rer­seits sieht er ein, dass man et­was für »die Welt« zu tun hat. Die bis­wei­len of­fe­nen Sym­pa­thien der Camp­be­woh­ner für die RAF teilt er al­ler­dings nicht. Die Mas­se der Pro­test­ler will ge­walt­los blei­ben. Aber der Zwei­fel ob der Wirk­sam­keit nagt an ih­nen. Er lässt sich die Haa­re wach­sen, re­bel­liert ge­gen Ver­bo­te sei­ner El­tern; er bricht je­doch nicht mit ih­nen. Schmet­ter­lin­ge fängt er nicht mehr.

Nun ist es er­zäh­le­risch pro­ble­ma­tisch, wenn Er­wach­se­ne – selbst wenn es au­to­bio­gra­phisch grun­diert ist – ih­re Kin­der­stim­me si­mu­liert wie­der auf­le­ben las­sen. Auch im »Dorf­ro­man« wirkt die kind­li­che Nai­vi­tät des 11jährigen bis­wei­len auf­ge­setzt; man sieht förm­lich ei­nen be­brill­ten Stre­ber sei­ne Ur­tei­le über To­des­stra­fe bei Ter­ro­ri­sten (die er ab­lehnt) oder die Not­wen­dig­keit ei­ner si­che­ren Strom­ver­sor­gung auf­sa­gen. Pe­ters braucht das, um den Le­ser in die Ent­wick­lun­gen der Dorf­ge­mein­schaft blicken zu las­sen. Das Kind, dass nicht dumm ist, aber die je­wei­li­gen öko­no­mi­schen oder so­zia­len Hin­ter­grün­de nicht re­flek­tiert, wird zum Laut­spre­cher des Sicht­ba­ren – na­tür­lich (noch) mit der ent­spre­chen­den Prä­gung durch die El­tern. Sen­ti­men­ta­le Re­mi­nis­zen­zen über die »gu­te al­te Zeit« fin­den so al­ler­dings – glück­li­cher­wei­se – kaum statt (na­ja, ne­ben Grzimek und Siel­mann noch ein biss­chen Bo­rus­sia Mön­chen­glad­bach, Las­sie, Skip­py und – wer kennt ihn noch? – Re­my Ceu­le­manns). Im Kon­trast mit den Ka­pi­teln, die aus der Er­in­ne­rung des er­wach­se­nen Er­zäh­lers ge­speist sind, kann man die Wand­lun­gen ei­nes Men­schen wäh­rend der Pu­ber­tät er­ken­nen.

Wer will, kann die rea­len Ab­läu­fe mit den Er­zäh­lun­gen rund um den Pro­test ge­gen den »Schnel­len Brü­ter« ab­glei­chen; be­son­ders ge­nau sind die An­ga­ben im Ro­man je­doch nicht. Das Kind spie­gelt ver­mut­lich die Er­eig­nis­se um die De­mon­stra­ti­on von 1977. Der Jun­ge dann die Aus­schrei­tun­gen von 1982, bei de­nen et­li­che De­mon­stran­ten zum Teil er­heb­lich ver­letzt wur­den. Die Schil­de­rung der Po­li­zei­ge­walt ge­rät dra­ma­tisch (vie­le aus dem Dorf be­grü­ßen das »Durch­grei­fen«). Er möch­te sei­ner Ju­lia­ne und de­ren Freun­den fol­gen, macht sich mit dem Fahr­rad auf dem Weg, aber da sind die Prü­ge­lei­en mit der Po­li­zei be­reits im Gang. Ju­lia­ne wird ver­letzt, kommt ins Kran­ken­haus. Die in­zwi­schen be­reits et­was ab­ge­kühl­te Be­zie­hung mit Ju­lia­ne wird im­mer kom­pli­zier­ter. Zu­dem ver­stär­ken sich die de­pres­si­ven Schü­be Ju­lia­nes. Er er­lebt dann auch die selbst­er­nann­ten Welt­ret­ter eben­falls als nicht kon­se­quent. Sie ver­schmut­zen bei­spiels­wei­se mit ih­ren Ab­fäl­len ein Land­schafts­schutz­ge­biet. Sie kif­fen. Agie­ren plan­los. Plötz­lich ist dann die Frau ver­schwun­den. In ei­nem ganz klei­nen Ab­satz wird der Le­ser auf­ge­klärt, dass Ju­lia­ne we­ni­ge Mo­na­te da­nach tot in Hol­land auf­ge­fun­den wur­de.

Nach der durch­erin­ner­ten Nacht kom­men ihm am Mor­gen Über­le­gun­gen in den Sinn, wie die bei­den El­tern bei zu­neh­men­der Ge­brech­lich­keit in dem Haus wei­ter­le­ben kön­nen. Ei­ne Ver­brin­gung in ein Heim schei­det aus. Nimmt man ei­ne frem­de Per­son zur Dau­er­pfle­ge (die be­rühm­te »Po­lin«?) ins Haus? Platz ge­nug wä­re vor­han­den. Sie wol­len es eher nicht. Die Ko­or­di­na­ten der Auf­sicht ver­schie­ben sich. Die Kin­der über­neh­men zu­se­hends die Rol­le der El­tern. Aber wann? Schließ­lich fährt er frü­her als ge­plant zu­rück nach Ber­lin.

Am in­ter­es­san­te­sten wird der Ro­man, wenn er die Ver­än­de­run­gen des ge­sell­schaft­li­chen Kli­mas in­ner­halb des Dor­fes wie un­ter ei­nem Brenn­glas kon­zen­triert er­zählt wer­den. Die Par­al­le­len zur Ge­gen­wart sind da­bei ver­blüf­fend. Das be­trifft nicht nur den für ir­re ge­hal­te­nen US-Prä­si­den­ten (da­mals Ro­nald Rea­gan – heu­te Trump). Da­mals wie heu­te geht es im­mer um nichts we­ni­ger als die Ret­tung der Welt. (Und sei es auch nur, wenn ein paar Bret­ter im Camp zu­sam­men­ge­na­gelt wer­den müs­sen.) Alar­mis­mus nebst den all­ge­gen­wär­ti­gen Welt­un­ter­gangs­pro­phe­zei­un­gen der da­ma­li­gen Kern­kraft­geg­ner fin­den sich bei­spiels­wei­se in der heu­ti­gen »FFF«-Bewegung. Und be­reits da­mals wur­de die »Sy­stem­fra­ge« ge­stellt und ei­ne »Über­win­dung« vor al­lem des Ka­pi­ta­lis­mus als er­stre­bens­wert an­ge­se­hen.

Ein »Dis­kurs« war in­ner­halb des Dor­fes ir­gend­wann nicht mehr mög­lich – ei­ne ähn­li­che Dia­gno­se wird auch heu­te häu­fi­ger ge­trof­fen. Aus­ein­an­der­set­zun­gen wer­den nicht mehr nur in der Sa­che ge­führt, son­dern per­so­nen­be­zo­gen. Es gibt nur da­für oder da­ge­gen. Kom­pro­mis­se sind un­er­wünscht, Prag­ma­tis­mus gilt als Schwä­che.

Und es ist schon er­staun­lich, wie der Elf­jäh­ri­ge die Be­richt­erstat­tung in den Fern­seh­me­di­en als ein­sei­tig zu Gun­sten der »Brüter«-Gegner wahr­nimmt (vor al­lem, wenn die Aus­sa­gen des Va­ters nach­her sinn­ent­stellt im Be­richt zu­sam­men­ge­schnit­ten wer­den). Auch hier kann man deut­li­che Ana­lo­gien zum me­dia­len Main­stream der Ge­gen­wart er­ken­nen.

Da­mals hieß es Fort­schritt con­tra Sta­tus quo. Die Technik‑, ver­bun­den mit ei­ner fast rück­halt­lo­sen Wis­sen­schafts­gläu­big­keit ver­hieß Fort­schritt. Da­mals wur­de »die Wis­sen­schaft« als Au­to­ri­tät hin­sicht­lich der Not­wen­dig­keit der Kern­ener­gie zi­tiert. Dass es »die Wis­sen­schaft« nicht gibt, das sie aus di­ver­gie­ren­den Theo­rie­ge­bäu­den be­steht, die sich im­mer wie­der neu der Em­pi­rie stel­len müs­sen, wur­de aus­ge­blen­det. Und auch heu­te wird ger­ne pau­schal mit »der Wis­sen­schaft« ar­gu­men­tiert, wenn es dar­um geht, Ma­xi­mal­for­de­run­gen zu recht­fer­ti­gen.

Der Ge­gen­warts­er­zäh­ler re­flek­tiert am En­de durch­aus selbst­kri­tisch: »Wie lan­ge kann man sei­ne Il­lu­sio­nen auf­recht­erhal­ten, oh­ne im fal­schen Le­ben zu lan­den?« Er re­ka­pi­tu­liert die Träu­me sei­nes Va­ters, sein Ar­beits­ethos, sei­ne Hoff­nun­gen, sei­ne Sor­ge um die Kin­der. Wie be­trach­tet er rück­wir­kend sein Le­ben? Wie mag er sich füh­len? Der Sohn fragt es nicht. Aber die Fra­ge stellt sich auch all­ge­mein nach den Il­lu­sio­nen ak­ti­vi­sti­scher Po­li­tik­ent­wür­fe.

Schon an der Wid­mung an die El­tern wird deut­lich, dass es Pe­ters nicht um ei­nen Ab­rech­nungs­ro­man geht. Die Rech­nun­gen sei­en, so schreibt er, »längst be­zahlt«. Der Er­zäh­ler muss sich und an­de­ren nichts be­wei­sen. Nie­mand wird in die­sem Buch dif­fa­miert. Nüch­tern und un­ver­krampft kann man ei­ne stil­le Hom­mage an »Hei­mat« er­ken­nen. Si­cher, es wird ein Huhn ge­köpft und die Bau­ern sind ein biss­chen grob­schläch­tig, aber all­zu ab­ge­grif­fe­ne Dorf­kli­schees wer­den ver­mie­den. Auch wenn die Fi­gur der Ju­lia­ne ein biss­chen zu stark ste­reo­ty­pisch an­ge­legt ist (die Lie­bes­be­schwö­run­gen des Jun­gen sind ziem­lich par­fü­miert, aber zum Glück sel­ten). Man soll­te Pe­ters’ Er­zähl­stil nicht mit Harm­lo­sig­keit gleich­set­zen. Ihm ge­lingt durch­aus ei­ne Ver­dich­tung, ja er ver­mag so­gar Span­nung zu er­zeu­gen (et­wa wenn es um die neue Kir­chen­vor­stands­wahl geht; et­was, was man »Rich­tungs­ent­schei­dung« nen­nen könn­te). Und es ist viel ge­won­nen, dass sich der Au­tor fal­scher Sen­ti­men­ta­li­tät ent­hal­ten hat. Der un­ge­plan­te frü­he Auf­bruch, mit dem der Er­zäh­ler vor der Ver­ant­wor­tung für sei­ne El­tern flüch­tet, lässt Raum für ei­nen wei­te­ren Ro­man. Ich wür­de auch die­sen sehr ger­ne le­sen.

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  1. Mir hat der Ro­man und die­ser Kom­men­tar sehr gut ge­fal­len. Der Kom­men­tar hebt mei­nes Er­ach­tens die Stär­ken des Bu­ches pas­send her­vor. Mög­li­cher­wei­se kommt Ju­lia­ne ein we­nig zu kurz in dem Kom­men­tar. Sie ist ei­ne tra­gi­sche jun­ge Frau, die viel­leicht den Teen­ager als Freund er­wählt, weil er für sie kei­ne Be­dro­hung dar­stellt. Sie ist von ih­rem Va­ter, dem ehr­wür­di­gen Rich­ter, miss­han­delt wor­den und in ei­ne ge­walt­freie Traum­welt ei­ner Kom­mu­ne ge­flüch­tet, die aber an der prak­ti­schen Rea­li­tät und an der Ag­gres­si­vi­tät der Po­li­zei schei­tert. Der 16 Jah­re al­te Freund schei­tert, ihr Halt und Un­ter­stüt­zung zu ge­ben und sie be­geht Selbst­mord, weil sie – trotz ih­res In­tel­lekts und ih­res Cha­ris­ma- kei­ne Per­spek­ti­ve mehr se­hen kann. Das ist sehr trau­rig und der nüch­ter­ne Er­zähl­stil, der nur in ganz kur­zen Ab­sät­zen von dem En­de Ju­lia­nes be­rich­tet- passt und lässt dem Un­sag­ba­ren und Un­fass­ba­ren Raum für die Ge­füh­le des Ich-Er­zäh­lers und des Le­sers.