Inge Lohmark ist Lehrerin am »Charles-Darwin-Gymnasium« in einem nicht näher genannten Ort in Vorpommern – scheinbar eine Region zwischen Wildostphantasien und deutschem Mezzogiorno. Lohmark gibt als Klassenlehrerin Biologie und Sport in der neunten Klasse – für nur noch zwölf Schüler – fünf Jungen, sieben Mädchen. Es gibt keine Kinder mehr; erst recht keine Gymnasium-Tauglichen. Es ist die letzte neunte Klasse dieser Schule, die in einigen Jahren geschlossen werden soll. Nachmittags beherbergt das Gebäude heute schon die Volkshochschule (was von teilen des Kollegiums nicht gern gesehen ist).
Inge Lohmark ist seit dreißigeinhalb Jahren Lehrerin und vom alten Schlag. Wenn sie »Setzen« sagt, setzen sich die Schüler; die Sportstunde beginnt sie mit einem zünftigen »Stillgestanden«. Ihr Unterricht ist kreidelastig und frontal. Sie kennt keine zärtliche Nachgiebigkeit, denn es lohnt sich nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper. Nach wenigen Seiten erkennt man, wie der Name der Schule etwas mit dem Weltbild von Inge Lohmark zu tun haben soll (erste Skepsis).
Auf den Seiten 20/21 findet sich der Sitzplan ihrer Klasse. Jeder Schüler bekommt dort die entsprechenden Lohmark-Attribute; der Leser braucht sie sich nicht mühselig aus dem Text heraussuchen (zweite Skepsis). Judith mit ihrer skrupellosen Oberweite, Saskias zwanghafte Fellpflege. Laura ist unauffällig wie Unkraut (später im Buch gibt es eine düster-zustimmende Vision auf die Flora auf der Lauer, die sich schon bald wieder alles zurückholen wird; eine originelle Interpretation der »blühenden Landschaften«). Tabea hat einen krummen Rücken vom linkshändigen Schreiben und Ellen ist ein dumpfes Duldungstier. Der Nervbolzen heißt natürlich Kevin. Dessen stiernackiger Widersacher ist Paul, immerhin widerstandsfähig. Annika hat ein langweiliges Gesicht und Tom ist noch ganz benommen von der nächtlichen Pollution. Schließlich erfährt man noch, dass ein Grottenolm schöner sei. Spätere Ergänzungen folgen. Schließlich musste noch gesagt werden, dass Tom dumm wie ein Konsumbrot ist.
Ein Gewinner der Bezirksspartakiade
Inge Lohmark erscheint als eine verknöcherte, verbitterte Frau. Sie mag weder die notorischen Versager noch die die Emsigkeit von Pferdeschwanzpferdchen, ihrer Musterschülerin. Sie stellt Fragen im Unterricht und wenn sich viele melden, schränkt sie nachträglich die Antwortmöglichkeiten ein und beobachtet mit diebischem Vergnügen, wie dann die Meldefinger heruntergehen. Sie genießt die fragenden Blicke aus dem Fenster, wenn ein unangekündigter Test den Schülern schweißnasse Hände verursacht. Sie denkt mit Wehmut und Melancholie an ihre schönen Momente in der DDR zurück (Jugendweihe!) und rekapituliert ihre Erfolge im damaligen Sportunterricht (sogar einen Gewinner der Bezirksspartakiade). Natürlich war sie auch bei der Stasi (andere hatten auch unterschrieben; dritte Skepsis). Ihr Mann Wolfgang, der mit großer Akribie Strauße züchtet und mit seinen Kenntnissen hierüber regelmäßig zum Held der Regionalbeilage avanciert, bleibt im gesamten Roman ein Phantom. Naja, sie war nicht seine ganz große Liebe gewesen. Liebe, ein scheinbar wasserdichtes Alibi für kranke Symbiosen. Und Wolfgang mochte, wie er ihr noch vor der Hochzeit sagte, Frauen aus der zweiten Reihe. Jetzt sprach man nur noch selten miteinander und das fiel gar nicht auf, wenn man sich tagelang nicht sah. Irgendwann erfährt man einmal, dass sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann nebst Abtreibung hatte. Den Alltagstratsch gestaltet sie mit ihrem Nachbarn; hier kann sie ganz nach Belieben das Gespräch beenden. Die Tochter Claudia ist schon vor Jahren in den USA geblieben und hat plötzlich – mit 35 – geheiratet. Sie hatte eine Mail geschickt; Inge Lohmark sieht keine Veranlassung zu antworten.
Im Lehrerkollegium begegnet sie dem ostalgischen Thiele und dessen krude Sozialismus-Verklärung mit der gleichen Verachtung wie die affektierte Gutmenschen-Kumpelhaftigkeit ihrer Antipodin, Frau Schwenneke, die ihren Schülern ab der 11. Klasse gestattet, sie zu duzen. Beim Mittagessen gelingt es Lohmark mit nur einer privaten Frage Schwenneke zu erschüttern. Meinhard, der Referendar, ist ein tapsender Sanguiniker mit einem Mutterkörper. Er fällt krankheitsbedingt häufiger aus. Geleitet wird das siechende Gymnasium von Kattner, dessen Idealismus natürlich sofort als primitive Realitätsflucht gedeutet wird und der mit monatlichen Ansprachen, die Durchhalteparolen ähneln, Schüler und Lehrer fast physisch quält.
Lohmark seziert vor ihrem inneren Auge all diese Phrasen und vorgestanzten Weltbilder. Und mit ihr die Autorin, die einen personalen Erzähler »vorgeschaltet« hat, damit dann noch die Distanzierung offiziell gelingen kann. Natürlich lässt auch sie kein Klischee aus und bedient sich üppig am Phrasentrog. Die Mendel-Karte ist ein Kessel Buntes, Kattners Streitschlichtungen werden mit Friede, Freude, Mutterkuchenkommentiert und – ganz klar – der Letzte macht das Licht aus. Die kurzfristige ungeteilte Aufmerksamkeit der Schüler erringt Lohmark durch das Diktum, dass Männer eigentlich nur Nicht-Frauen seien und mit der ausführlichen Schilderung wie Bullen ihren Samen für Zuchtzwecke hergeben müssen. (Aus der Skepsis wird Ärger.)
Zwischen Sarrazin und Mr. Spock
»Der Hals der Giraffe« ist ein ermüdendes, ein fades Buch. Wenn der Leser nicht die Lektüre nicht irgendwann abbricht, entwickelt er vielleicht mit der Zeit eine gewisse Hornhaut und erträgt damit halbwegs unversehrt den Rest des Buches. Das wird mit etwas schlechtem Willen als Intention des Romans ausgelegt werden können. Die andere Möglichkeit besteht darin, sich an den zuweilen windschiefen Metaphern weit unter seinem Niveau zu ergötzen und durch die grotesken Überzeichnungen dieses Misanthropismus am Ende sogar eine Katharsis zu erlangen. Nicht auszudenken, wenn diese Lehrerin an einer großstädtischen Schule mit hohem Migrantenanteil unterrichten würde: Ihr archaischer Vulgär-Darwinismus hätte womöglich sarrazineske Ausmaße erreicht.
Schon hört man die Entgegnungen: Ja, die Figur sei furchtbar und die Verhältnisse ebenso. Aber dies sei alles absichtsvoll geschehen: Die endlosen Vorträge über alle möglichen biologischen Themen (auf den geraden Seiten im Buch oben links der Name des Kapitels und auf den ungeraden Seiten oben rechts ein thematisches Schlagwort), die Vorhersehbarkeit der Reaktionen der Protagonistin, die Klage über die hoffnungslose Jugend, die Verschwörungstheorie einer Indoktrination des Systems durch so etwas wie die Schulpflicht. Und eine Empörung über das Weltbild Lohmarks dürfte einen Vortrag über Fiktionalität und/oder die Kunst der Übertreibung in der Literatur provozieren. Schließlich dämmert als ultimative Verteidigungsstrategie am Horizont bereits die Kategorie »Satire«.
Und es bleibt auch alles hübsch ordentlich in der deutschen Provinz, die (sicherlich zum Ergötzen der Kritik) zum Revier umfassender Denunziation freigegeben wird. Als Lohmark mit dem Schulbus fahren muss, weil ihr Auto defekt ist, bekommt sie schon mehr mit, als sie möchte. Sie beobachtet die Fahrschüler (eine ungewöhnliche Bezeichnung für die auf den Schulbus wartenden), die Hierarchien und Gruppenspielchen der Meute mit forensischem Interesse und fürchtet nichts mehr, als doch noch irgendwie in Raufereien ordnend einschreiten zu müssen.
Lauter Halbstarke und Spätzünder, somnambule Gespenster, gedächtnislose Wesen, für alle Zeiten verloren. Aber warum aufregen? Der Mensch war ein flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis. Ein zugegeben recht erstaunliches Tier, das den Planeten für kurze Zeit befallen hatte und schließlich, genau wie ein paar andere wundersame Wesen, wieder verschwinden würde. Fernsehveteranen kommen zuweilen die hochgezogene Augenbraue des Halb-Vulkaniers Commander Spock in den Sinn und vergeben bei diesen ach so zivilisationskritischen Einwürfen großzügig ein »faszinierend«. Inge Lohmarks Ideal, die Zucht, diese Erziehung zum Guten des Menschen, ist mit den Mitteln des öffentlichen Dienstes nicht möglich. Vor allem deshalb weil sie gar nicht erwünscht ist.
Bedürftige Literatur
Es bleibt offen, warum die Genrebezeichnung »Bildungsroman« gewählt wurde. Wird in den biologistischen Vorträgen der Leser gebildet (unterstützt durch hübsche Zeichnungen, damit die Autorin nicht so viel zu beschreiben hat)? Oder wird hier – ganz klassisch – ein »Bildungsprozess« von Inge Lohmark aufgezeigt? Ist das am Ende schüchterne Interesse für die Schülerin Erika (sie holt sie sogar einmal von ihrem entlegenen Bauernhof ab, als der Schulbus einen Unfall hat) Indiz für einen Abfall »vom Glauben an Gott Darwin« wie ihn der »Klappentext« unterstellt? Sollte dies intendiert sein, scheitert Schalansky auf ganzer Linie. Denn die Figur zeigt keine markante Entwicklung, auch wenn sie am Ende ph(r)asenweise von ihren eigenen Reden überrascht wird. Als sie während einer Schulstunde – es geht um den Hals der Giraffe und deren Entstehen in der Evolution – von Kattner herausgerufen, mit den Aggressionen der Mitschüler Ellen gegenüber konfrontiert (man hatte sie vollkommen verschüchtert und malträtiert auf dem Jungenklo gefunden) und eine Verletzung der Aufsichtspflicht mit »Konsequenzen« angedroht bekommt, entsinnt man sich der Passage zu Beginn, als Ellen schon jetzt überflüssig wie eine alte Jungfer und als Opfer auf Lebenszeit kategorisiert wurde. Sollte eine Empathie für die gequälte Schülerin entstanden sein, bleibt sie gut verborgen; kaum mehr als bloße Behauptung. Lohmark kehrt in die Klasse zurück und setzt ihren Vortrag über die Giraffe fort. Dann schaut sie Mädchen beim Ballspielen zu, entsinnt sich an ihre Tochter, die eines Tages mitten im Unterricht weinend auf sie, Lehrerin und Mutter, zukam. Dabei erinnert sie sich mehr an den Zwiespalt zwischen (parteilicher) Mutter und (sich neutral zu gebender) Lehrerin als um die Nöte Claudias. Am Ende steht sie am Zaun und schaute.
Was bleibt? Dem sozialdemokratisierten Mittelschicht-Bildungsbürger des 21. Jahrhunderts wird das angenehme Gefühl geboten, auf der richtigen Seite zu stehen. Statt die tieftraurige und verletzte Persönlichkeit einer Inge Lohmark hinter diesem Panzer aus Sarkasmen und Zynismen zu suchen, statt sich der Protagonistin zu nähern und ihre Geschichte zu erzählen begnügt sich Judith Schalansky fast immer mit dem Zeigen der rauen Oberfläche und Denunziationen. Derart wenig Interesse an einer Figur, einem Thema, einer Landschaft, einer Geschichte erzeugt am Ende nur dürftige, ja bedürftige Literatur.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
PS: Obwohl Sperrfrist bis 10.09., loben diverse Presseerzeugnisse das Buch bereits. Die Autorin tritt auch schon im Fernsehen auf und ist auf Lesereise. Soviel zum Thema Wichtigkeit von Sperrfristen.
klar, daß wieder Vorpommern herhalten muß, um einen dumpfen Hintergrund für dieses düstere Geschreibsel abzugeben.
Permanente Denunziation dieser Region scheint ja DAS literarische Thema dieser Saison zu sein, siehe auch »Letzte Losung«
... da kommt Uwe Timm mit »Freitisch« und Judith Zanker mit »Dinge die wir heute sagten« nicht gegen an
»Fahrschüler« ist ein authentisches, ostdeutsches Wort, ich kenne es noch von früher. Das Buch habe ich nicht gelesen, aber die Schilderung der Lehrerin kommt mir sehr vertraut vor. Vielleicht ist das wieder ein Buch, dessen Rezeption in Ost- und Westdeutschland völlig unterschiedlich ausfällt?
@Köppnick
Die Autorin ist 1980 geboren – ich weiss nicht, ob man da von »authentisch« ostdeutscher Identität reden kann.
Ich kannte das Wort »Fahrschüler« bisher nur als Schüler von Fahrschulen. Von ehemaligen Ostdeutschen hatte ich in den 70er Jahren schon das Wort »Fahrerlaubnis« gehört – statt des im Westen üblichen »Führerschein«. Es gefiel mir sofort besser.
Solche Lehrer gab und gibt es sicherlich sowohl im Westen wie im Osten. Ich halte sie nicht für typisch.
fahrschueler kannte ich auch als westdeutsche in genau der von schalansky bezeichneten weise.
ich muss mich fuer die ablenkung entschuldigen, aber wollen sie mir nicht ihr interesse an ludwig hohl beschreiben? ich lese so gerne von menschen, die ihn ebenfalls schaetzen.
Die Ausdrücke »Fahrschüler« und »dumm wie ein Konsumbrot« kenne ich auch aus der Kindheit. Ob die Ausdrücke nun authentisch aus 1. Hand der Autorin sind oder nicht, sei mal dahingestellt.
»Fahrschüler« für Schulkinder, die mit dem Autobus fahren, finde ich ja interessant – mir war diese Konnotation unbekannt. Es geht aber nicht darum, ob die von ihrer Hauptfigur verwendeten Attribute irgendwo »geklaut« sind oder nicht. Es geht eher um Typologisierungen und Klischees, die hier als konstituierend verwendet werden. Daher ist es auch irrelevant, ob es solche Lehrer/Lehrerinnen in der Wirklichkeit gibt. Bzw. das es sie gibt, ist kein Kriterium dafür, wie dieser Roman ästhetisch zu beurteilen ist.
Und noch eines: http://www.faz.net/artikel/C30712/andreas-altmanns-neues-buch-scheissgebete-30496762.html
Wirklich drängt sich da das Gefühl auf – ich musste an die blöd(gewordene) Formel „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ denken – dass es nur um Abwertung, Denunziaton geht:
Doch wirklich geändert habe sich nichts. Er spricht von „Mief“ und „nicht gelebtem Leben“. (Von seiner Biographie her ließe sich das.... und da lugt schon Ihr »Neo-Realismus« um die Ecke.)
Gelesen hatte ich die Rezension nur, weil ich dachte, dass es sich um den Lyriker Altmann handele, aber da wurde mir schnell klar, dass das nicht passen könnte... Vielleicht nur um mal ein anderes Bild zu haben:
eine geschichte vom land
du wolltest nicht sehen wie sich
der schatten auch ohne dich bewegt,
dem das gras bis zum kopf geschnitten wurde.
der körper hat dich zurückgelassen.
den zaun, über den du gestiegen bist,
gibt es nicht mehr. das licht geht an.
augen verstummen das gesicht.
unbewegt hält es den kopf in den himmel
über der decke des zimmers.
du gehst, vom feldweg bestäubt,
in das haus. die mutter spricht durch dich
an der tür, der vater hat sich tot
geschwiegen, schlug nägel in holz,
damit die bäume zusamenhalten,
wie er gesagt hat als du ihn ansahst.
der schrank mit den hübschen kleidern
steht offen. jedem bist zu eng.
das kind schaut dich an, hast es
gehen lassen. ein fahrrad kommt näher.
du steigst herunter und blutest wie heut.
keine bewegung, die nicht daran erinnert
(andreas altmann)
[natürlich weiß ich, dass ich da vielleicht nur verteidige, weil ich selbst ein Provinzei bin – aber sollte die Literatur nicht für Überhöhungen in alle Richtungen offen sein?.. Kennen Sie eigentlich Ulla Hahns »Das verborgene Wort«? Ein Verriss von MRR macht es ja fast noch interessanter, aber...]
(gerade erst fällt mir diese assonanz auf:
scheiß schoßgebiete,
schoss er scheißgebete
wider den schoß,
der in gebar)
Es könnte Stoff für eine deftige Komödie (um nicht zu sagen: Klamotte) sein. Dann stören die Klischees auch nicht so sehr. Aber dazu müsste der Roman erst einmal komisch sein, was ich nach der Beschreibung bezweifeln möchte.
Um Satire zu sein, müsste der Roman wohl in einer Großstadt, in einem »Problemviertel«, spielen – und die Protagonistin ihren altmodische Vulgär-Darwinismus tatsächlich auf sarrazineske Weise »modernisieren« (eventuell als Entwicklung – von der Restbestände eines sozialistisch gefärbten Erziehungsoptimismus »Ossi-Darwinistin« an Anfang zur knallhart »Neoliberal« argumentierenden »Sarrazin-Soziladarwinistin« – natürlich so, dass der Protagonistin Inge Lohmark selbst gar nicht bewusst ist, dass sie sich innerhalb relativ kurzer Zeit gravierend verändert. Und natürlich auch so geschrieben, dass ihr »Sarrazinierungsprozess« eben nicht »durch die Umstände« entschuldigt werden kann – sondern als »Update« ihre Vorurteile kenntlich wird.
@MartinM
Das klingt wie ein perfekter Entwurf für die Verfilmung des Buches.
Ich gestehe, nicht an die Möglichkeit einer Komödie gedacht zu haben. Eben genau wegen der Region, in der das Buch spielt.
Eine diametrale Lektüre des Buches findet sich hier beschrieben: http://bonaventura.musagetes.de/2011/judith-schalansky-der-hals-der-giraffe/
Ihre Rezension ist mir am 4.9. »durch die Lappen gegangen«.
Zum Glück. Vielleicht wäre ich ein verlorener Leser für dieses Buch, das ich für das beste Stück mir bekannter deutscher Gegenwartsliteratur der letzten Jahre halte, verloren gewesen.
Ich las gestern die Besprechung von Bonaventura und bin sofort zum Buchhändler: http://bonaventura.musagetes.de/2011/judith-schalansky-der-hals-der-giraffe/#comment-16595
Merkwürdig, das ist das erste Mal, dass ich mit Ihrem Urteil so überhaupt nicht übereinstimme.
@JuergenL
Diese beiden Sichtweisen sind doch ein schönes Beispiel wie Literaturkritik funktioniert, Einigkeit sollte man nicht erwarten, gibt die Literatur vielleicht auch nicht her (was auch gut so ist). Und sehr wahrscheinlich gibt es noch weitere Stimmen.
@JuergenL
Tja, was soll ich dazu sagen? Ich sitze hier – und kann nicht anders...
@Gregor
Ist ja nicht wirklich tragisch...
@ Gregor Keuschnig
Nun noch einmal eine kurze Replik zu »Der Hals der Giraffe«.
Seit wann muss eine Satire kurz sein? Swifts »Gulliver « gehört nicht gerade zu den kurzen Romanen. Ebenso Heinrich Mann »Der Untertan«. Das sollte also kein Argument sein. Nun zur Denunziation.
Seit Jahren wundere ich mich, dass fast kein Roman die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse oder überhaupt wissenschaftliche Erkenntnisse zur Kenntnis nimmt oder gar im Roman verarbeitet. Diese Verwunderung liegt vielleicht daran, dass ich seit einigen Jahren mich intensiv mit der Evolutionstheorie und den Erkenntnissen der Neurowissenschaften beschäftige. Man mag sie bei Kriminalromanen noch eher vermissen, aber auch in belletristischen Produktionen sollten sie eigentlich auch wahrnehmbar sein. Deshalb war ich auch so beeindruckt durch sie satirische Darstellung der Lehrerin Lohmark, die überhaupt nicht dennuziert wird, weil eben auf jegliche Psychologie verzichtet wird, zumal ja aus der Perspektive Lohmarks das Geschehen erzählt wird. Es wird jemand gezeigt, dem Empathie völlig abgeht. Dies muss nicht erklärt werden, der Leser kann diese Entwicklung imaginieren.
Zugegeben ist der Name Lohmark etwas zu offensichtlich, zumal ja der Titel des Romans den Hinweis schon gibt.
Bildungsroman oder Ant-Bildungsroman ist schon korrekt, denn der Leser lernt viel, es geht um die Schule und Schüler.
Auch werden über das vorrangige Schulthema hinaus noch Themen wie Überalterung der Lehrerschaft und Bevölkerung, Landflucht, Bevölkerungsverschiebung, Abwicklung von öffentlichen Einrichtungen angeschnitten.
Lassen wir es doch dabei, dass jeder Roman doch erst durch den jeweiligen Leser zu dem wird, was in ihm angelegt ist, wenn es denn ein guter Roman ist. Und wir haben zwei verschiedene Lesarten aufgezeigt, nicht das schlechteste Zeugnis für einen Roman.
@Norbert
[Ich habe mir erlaubt, Ihren Kommentar unverändert hierher zu verschieben.]
Eine Satire muss nicht kurz sein, aber dann sollte sie etwas mehr zeigen, als eine um sich selbst drehende Figur, deren Kommentare irgendwann derart vorausberechenbar sind, dass sie nur noch langweilen. Eine Satire darf ihre Figur(en) nicht denunzieren. Aber genau das macht Schalansky. Auch die behauptete Entwicklung der Person (die »Bildung«) bleibt an der Oberfläche. Auch das ist noch kein Problem, sofern diese Oberfläche nicht oberflächlich erzählt wird. Und das ist genau der Fall: Die Autorin mag ihre Hauptfigur nicht, und watscht sie ein ums andere Mal ab.
Welche Themen in einem Roman angesprochen werden, ist für die Beurteilung der literarischen Qualität uninteressant. Es kann sogar ausgesprochen schädlich sein, wenn es nur ein Themen-»Dropping« gibt und ein imaginärer Katalog abgearbeitet wird. Natürlich gibt es solche Figuren wie Inge Lohmark, aber ich habe nichts über sie in dem Buch erfahren – außer das, was man sich gemeinhin so vorstellt: eine verschrumpelte, asexuelle, mit jedem im Clinch befindliche, verbohrte, zynische Person. Davon habe ich aber im deutschen Privatfernsehen jeden Tag mehr als genug.
Der Darwinismus, der hier ausgebreitet wird, ist derart vulgär und platt, dass niemand angeregt werden dürfte, sich mit der Materie genauer zu beschäftigen. Die schön gemalten Bildchen sind zum Teil abgemalt und sollen eine heile Welt kontrastieren, die es nicht gibt.
Lohmark ist das Gegenteil der Klischee-Figuren in Fernsehfilmen und Romanen, die in den 70er Jahren begannen, die »engagierte« Lehrer/innen zeigen, die sich für ihre Schüler »einsetzen« – und immer recht behalten. Auf ihre Weise trivialisert Schalansky auch – nur mit der entgegengesetzten Ausgangslage.
@ Gregor Keuschnig
Was soll ich Ihrer Generalabrechnung entgegenhalten, es wäre bloße Rechthaberei.
Ich sehe die »schön gemalten Bildchen« durchaus nicht als nur Staffage, sondern sehe, dass hier ein hervorrangend gestaltetes Buch vorgelegt wird, das man nur in der haptischen Variante genießen kann, nicht als eReader etc. Da wundere ich mich wirklich, dass Sie dies nicht sehen.
Auch sehe ich keinen ach so platten Darwinismus in einer vulgären Variante. Nennen Sie ein Buch, wo ein solcher Versuch überhaupt gestartet wurde und besser gelungen ist.
Den Vorwurf der Denunziation behaupten Sie nur, ohne ihn zu belegen, so kann man man viele Bücher kritisieren.
Wir sind unterschiedlicher Meinung über das Buch und werden es auch bleiben. Lassen wir die Meinungen doch so stehn, sollen sich die anderen Leser selbst ein Bild machen.
@Norbert
Naja, die Kühe der Mendelschen Regeln habe ich schon in meinem Biologie-Buch gefunden; das sah auch ungefähr so aus. Und das soll ich als Bewertungskriterium für einen Roman heranziehen?
Halten Sie das durchgängig ausgestellte Unvermögen der Protagonistin für etwas Anderes als Denunziation? ich wurde erinnert an ein Phänomen, dass man gelegentlich beobachten kann, wenn sich jemand um »Kopf und Kragen« redet. Genau das passiert doch hier. Und zwar mit Lust. Die Autorin vernachlässigt die Fürsorgepflicht für ihre Protagonistin.
Und wenn Lohmark meint, das es überflüssig sein die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter dann ist das kein vulgärer Darwinismus wie man ihn beispielsweise Sarrazin unterstellte? Die Apostrophierungen ihrer Schüler (s. o. in der Besprechung) sind in irgendeiner Form satisfaktions- und vor allem tragfähig? Das sehe ich ganz anders.
Der Hype im Feuilleton um das Buch speist sich aus der Lust an der Zurschaustellung dieser Figur. Dazu spielt es in Vorpommern; einer Landschaft, die Raum für allerlei Ressentiments läßt (die prächtig gedient werden). Als 50-Seiten-Erzählung hätte man dies ertragen können. Als 200 Seiten Roman ist es mir unerträglich.
Ausgestattet mit einer gewissen Skepsis durch Ihre Rezension hätte ich das Buch nach der am Anfang fast grotesken Zeichnung der Protagonistin beinahe weg gelegt. Glücklicherweise habe ich eine Abneigung dagegen, Bücher nicht zu Ende zu lesen. Schnell zeigte sich nämlich, dass der von ihnen monierte vulgäre Darwinismus sicherlich nicht Thema des Buches ist. Spätestens mit der alles andere als windschiefen Metapher des unhörbaren Schreis der Fledermaus beginnt Schalansky Schicht für Schicht Inge Lohmark zu entblättern (um im Duktus zu bleiben).
Spätestens bei der besagten Schulstunde über den Hals der Giraffe hätte auffallen können, dass die bis dato lehrbuchmäßige Biologie Lohmarks innerhalb des Vortrags ihrem Namen gerecht wird und in reinen Lamarckismus wechselt:
Das ganze kulminiert in dem Ausruf Alles ist möglich, wenn wir uns nur wirklich anstrengen, um direkt im nächsten Satz konterkariert zu werden:
Wenn man sich jetzt noch an die vorherigen Ausführungen über die Weitergabe von Eigenschaften erst in der zweiten Generation denkt
könnte ein Schuh daraus werden.
Was, wenn Inge Lohmark ein Produkt der DDR wäre, in der versucht wurde den besseren Menschen zu bilden (es ist häufig von Zucht die Rede), das nach der Wende nicht mehr schafft sich anzupassen. Erst ihre Tochter (oder womöglich erst der so sehr gewünschte Enkel) findet wieder den Weg in die Freiheit zurück (natürlich in den USA). Die Schlüsselszene zeigt den wider besseren Wissens verzweifelten Aufschrei einen Platz in der neuen Zeit zu finden. Das nur als Grundidee, um die sich einige weitere Ranken winden.
In der schieren Menge der biologischen Metaphern gelingt Schalansky nicht alles, manchmal wird sie fast platt. Insgesamt habe ich aber ein mitreissendes Buch gelesen, dass in fast barocken Allegorien daher kommt.
@Peter
Ja, man kann das so lesen. Wobei ich bei Lohmark in Bezug auf die DDR sehr wohl eine Haßliebe zu erkennen glaubte: Einerseits die Ordnung, die dieser Staat bietet – andererseits kam sie dort mit ihren deterministischen Thesen auch nicht an; sie standen im Widerspruch zum Sozialismus.
Dass der Darwinismus der Protagonistin nicht das Thema des Buches ist, mag ja durchaus sein. Warum dominiert er dann so stark, dass jede tiefergehende Beschäftigung mit ihr nicht mehr stattfindet? Warum wird das Buch garniert mit diesen Schulbuchzeichnungen?
(Zum Lamarckismus hier ein interessanter Beitrag.)
Das Feuilleton ist sich einig, dass Inge Lohmark eine abstoßende, kalte Darwinistin ist. Sie erklärt den gesamten Menschen mit biologischen Grundregeln, die kongenial durch die Gestaltung des Buches untermauert werden. Das ist aber nur der Anfang des Buches.
Sie monieren, dass die Autorin sich ihrer Protagonistin nicht nähert, sie denunziert. Was ist aber mit Frau Schwenneke, den Losern, den Strebern? Alle Menschen werden denunziert oder sind Lohmark egal. Bis auf Erika, die als Projektionsfläche dient. Plötzlich hat sie Wärme und Emphatie für eine Schülerin, die dann nicht zufällig auf dem Weg zur Schlüsselszene entzaubert wird.
Manche schreiben, das Buch würde auf der Stelle treten, sich nicht entwickeln. Aber keiner beschreibt den Kulminationspunkt. Niemandem fällt auf, das Inge Lohmark am Scheidepunkt des Romans vom Darwinismus in den Lamarckismus verfällt, genau nachdem ihr Wünschen nicht mehr haltbar und ihr eigens Versagen nicht mehr zu verhüllen war, nicht mehr in einem vulgären Darwinismus zu verklären war. Der Panzer ist gesprengt.
Zum Schluss vielleicht noch ein Zitat, das ich einfach so stehen lasse:
Die Tatsache, dass die Hauptprotagonistin andere Figuren denunziert erlaubt es der Autorin nicht, ihre Protagonistin ebenfalls entsprechend zu behandeln. Es sei denn, es wird auf ein Racheschema rekurriert, was jedoch m. E. eher ins das triviale Genre gehören würde.
Die »Sprengung des Panzers« wurde – wenn ich es recht in Erinnerung habe – sehr wohl in der FAZ thematisiert. Aber ist es wirklich das? Oder ist diese Wesensverwandlung nur Behauptung? Wenn es sie gibt: Ist sie nachhaltig? Oder nur ein vorübergehender Affekt – aus einem Schock heraus? Aus den Schlußbildern wird allzu leicht eine Veränderung Lohmarks geschlossen, wozu es jedoch kein Indiz gibt – außer das, was die Erzählerin berichtet. Welches Versagen soll denn Lohmark in ihren Augen begangen haben? Dass sie auf die Mitschülerin nicht aufgepasst hat? Bereits zu Beginn wird unter anderem diese Schülerin auf das Heftigste attackiert und ein unabänderliches Fatum für diese Spezies formuliert. Wo ist hier die Einsicht Lohmarks spürbar? Und, eine andere Frage: Warum sollte es sie geben?
In der Zeit der Veränderung klammerte Lohmark sich an das scheinbar Sichere, die Wissenschaft. Die Ironie der Geschichte ist, dass sie die von ihrer vergötterten Theorie geforderte Anpassung dann selbst nicht leisten kann. Der Wunsch nach etwas Fassbarem führt dazu, dass sie vollständig fehl geht. Die Empathieunfähigkeit gilt grundsätzlich, selbst der weinenden, nach ihrer Mutter rufenden Claudia im Unterricht gegenüber (fast schon zu platt). Noch dazu gibt sie diese Ungabe an die Tochter weiter, die keine Freunde hatte, zwar gute Noten, aber nicht beliebt.
Nach der Vorladung bei Klattner wird ihr endlich klar, dass ihre Welt vollständig in Scherben liegt und wandelt sich vom darwinistischen Objekt zum lamarckschen Subjekt. Wahrscheinlich zu spät. So gesehen keine Veränderung, sondern schlichtes Scheitern. Aber zumindest die Einsicht darüber. Und dann gab es aber noch diese Laufvögel.