Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑4/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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No birth no death! (Arashiyama) © Leopold Federmair
No birth no de­ath! (Aras­hi­ya­ma) © Leo­pold Fe­der­mair

Ich weiß nicht, ob ich mich freu­en soll über die neue Lang­sam­keit, zu der ich im wirk­li­chen Le­ben seit ei­ni­gen Mo­na­ten ge­zwun­gen bin, oder ob ich wü­tend sein soll über mei­nen Kör­per, der bei dem manch­mal doch ge­wünsch­ten Tem­po nicht mit­macht. Be­son­ders bei Stei­gun­gen, und noch mehr, wenn Trep­pen zu über­win­den sind. Im­mer­hin, ich ha­be es bis hier­her ge­schafft, ein klei­ner Auf­stieg zu den An­hö­hen über dem Tal von Aras­hi­ya­ma, wo tief un­ten der grü­ne Fluß fließt und sich sel­ten ein Tou­rist blicken läßt. Den be­rühm­ten Bam­bus­hain auf der an­de­ren Sei­te ha­be ich ge­mie­den – sol­len sie sich dort drän­gen. Die­ser Hain mit sei­nen ho­hen und schlan­ken, zum Spitz­bo­gen zu­sam­men­lau­fen­den Bäu­men ist schön, aber viel zu klein für sol­che Men­schen­mas­sen: die mil­lio­nen­fach ver­brei­te­ten Fo­tos ver­ra­ten das Miß­ver­hält­nis nicht. Hier oben bin ich vor ei­nem Jahr ge­we­sen, am 2. Jän­ner, es war ge­nau­so warm wie heu­te, gu­tes Schreib­wet­ter, und ha­be Faul­k­ner ge­le­sen, ich sag­te es schon. Da­mals bin ich noch ein gu­tes Stück wei­ter berg­auf­wärts ge­lau­fen, aber nach­dem ich mehr­mals Wild­schwei­ne in mei­ner Nä­he grun­zen hör­te, mach­te ich kehrt. Die Ge­gend hier spielt in Ju­ni­chi­ro Ta­ni­zakis Ro­man Sa­sa­mey­u­ki ei­ne Rol­le, Die Schwe­stern Ma­ki­o­ka (die deut­sche Über­set­zung ist nicht gut und schon lan­ge ver­grif­fen); der schön klin­gen­de ja­pa­ni­sche Ti­tel be­deu­tet »leich­ter Schnee­fall« (den es im Win­ter in Kyo­to manch­mal gibt). Die Fa­mi­lie Ma­ki­o­ka, vier Schwe­stern, glau­be ich mich zu er­in­nern, ver­bringt ei­nen Sonn­tag bei der Kirsch­blü­ten­schau, mit Fla­nie­ren und Spei­sen und Trin­ken und Sich-der-Welt-und-des-Le­bens-Er­freu­en. Un­ten bei der lan­gen Brücke, wo der Fluß ziem­lich in die Brei­te geht und viel wei­ßes Ge­röll in sei­nem Bett zu se­hen ist. Ta­ni­zaki ha­be ich – ne­ben Mishi­ma – bei mei­ner Auf­zäh­lung der Au­toren, die den Wunsch in mir weck­ten, al­les von ih­nen zu le­sen, ver­ges­sen. Un­er­füll­ba­rer Wunsch; zwar ha­be ich die zwei­bän­di­ge fran­zö­si­sche Aus­ga­be sei­ner Wer­ke in mei­nem Re­gal ste­hen, die viel mehr ent­hält als das, was auf deutsch von Ta­ni­zaki vor­liegt, aber im­mer noch viel we­ni­ger als das, was er in ei­nem lan­gen Schrei­ber­le­ben ge­schaf­fen hat. Um die Wahr­heit zu sa­gen, ich ha­be nicht ein­mal die Plé­ia­de-Aus­ga­be zur Gän­ze ge­schafft; man kann nicht al­les be­wäl­ti­gen, ist mehr und mehr zum Aus­wäh­len ge­zwun­gen. Der Blick auf Ta­ni­zakis Werk ist im deut­schen Sprach­raum durch den Er­folg sei­nes schma­len Es­says Lob des Schat­tens ver­stellt, der im­mer wie­der zi­tiert wird von Leu­ten, die zei­gen wol­len, daß sie die »Es­senz der ty­pisch ja­pa­ni­schen Äs­the­tik« (oder so) ver­stan­den ha­ben.

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Da­vid Fo­ster Wal­lace: Der blei­che Kö­nig

David Foster Wallace: Der bleiche König
Da­vid Fo­ster Wal­lace:
Der blei­che Kö­nig

Wo Jo­han­nes Ja­ko­bus Vos­kuil mit sei­ner Fi­gur Maar­ten Ko­ning in »Das Bü­ro« den Bü­ro­an­ge­stell­ten der 1950er Jah­re be­schrieb(?), er­zähl­te(?) oder ein­fach nur dar­stell­te und vor al­lem bei den Kri­ti­kern auf Wohl­ge­fal­len oder so­gar Be­gei­ste­rung stieß für die ein Bü­ro schon im­mer ein ex­ter­ri­to­ria­ler Un-Ort und Brut­stät­te der grau­en Unter­durchschnittlichkeit gilt und die Kafka‑, Bartleby/­Melville‑, Abschaffel/Genazino‑, Händ­ler- oder Strom­­berg-Al­le­go­rien nur so aus den Zei­len pur­zeln, wo al­so das Vor-Ur­teil im­mer ei­ne gu­te drei­vier­tel Län­ge Vor­sprung vor der Er­fah­rung hat und nie­mals ein­ge­holt wer­den kann, kommt na­tür­lich auch ein Buch wie »Der blei­che Kö­nig« von Da­vid Fo­ster Wal­lace mit ent­spre­chen­den Vor­schuss­lor­bee­ren in die Ka­min­zim­mer des deut­schen Li­te­ra­tur­rich­ter­we­sens. Nichts lie­ber, als die ei­ge­nen Res­sen­ti­ments wenn mög­lich wort­ge­wal­tig und mit der un­ver­meid­li­chen Por­ti­on Iro­nie be­stä­tigt zu fin­den. Bei Wal­lace kom­men noch zwei »Vor­zü­ge« hin­zu, die na­he­zu un­schlag­bar sind und im­mer Ge­währ für Auf­merk­sam­keit ge­bie­ten: Er ist tot (wei­te­rer Un­ter-Plus­punkt: Frei­tod) und er ist bzw. war Ame­ri­ka­ner. Aber dann bleibt der all­zu gro­ße (Begeisterungs-)Sturm aus. War­um? Dar­auf wird noch ein­zu­ge­hen sein.

Zu­nächst: Wie wei­land An­dre­as Mai­er, der zur Re­zen­si­on von Gün­ter Grass’ »Die Box« frei­mü­tig be­kann­te, vor die­sem noch nie ein Buch von Grass ge­le­sen zu ha­ben, so ge­ste­he ich dies in Be­zug auf Da­vid Fo­ster Wal­lace und dem »blei­chen Kö­nig«. Nun bin ich na­tür­lich nicht An­dre­as Mai­er und möch­te mich auch nicht mit ihm ver­glei­chen, aber es kann schon manch­mal ein Vor­zug sein, ei­nen Schrift­stel­ler zum er­sten Mal zu le­sen. Die Fah­nen zum »blei­chen Kö­nig« er­reich­ten mich nur durch ei­nen Zu­fall: ich wur­de ein­ge­la­den, am »So­cial Re­a­ding« des Ver­lags teil­zu­neh­men, was mir selbst­ver­ständ­lich un­mög­lich war, denn ich kann nicht in Ge­mein­schaft und/oder in vor­ge­fass­ten Por­tio­nen le­sen und trotz­dem war der Ver­lag so freund­lich mir ein Pa­ket mit lo­sen Blät­tern zu schicken (das Buch lässt im­mer noch auf sich war­ten; ver­mut­lich spart man sich das bei zwie­lich­ti­gen Online­schreibern, was be­deu­tet, dass ich die Text­stel­len in den Fah­nen, die mit schwar­zen Qua­dra­ten statt Buch­sta­ben ver­se­hen sind, nie wer­de nach­le­sen kön­nen). Die Ent­scheidung, nicht teil­zu­neh­men, war rich­tig, denn die Teil­neh­mer, die schrei­ben­den Le­ser der Sei­te waren/sind aus­ge­spro­che­ne Wal­lace-Ex­per­ten und –Ex­ege­ten und sie le­sen dann im­mer die gan­zen an­de­ren Bü­cher von Wal­lace so­fort mit, ent­decken Ver­knüp­fun­gen und dies oft vor der Be­schäf­ti­gung mit dem ei­gent­li­chen Ge­gen­stand (vul­go: Ro­man), was kein Vor­wurf ist son­dern was ich sel­ber ken­ne, wenn ich beispiels­weise Bü­cher von Pe­ter Hand­ke, Jo­sef Wink­ler, Rai­ner Ra­bow­ski oder Mar­tin von Arndt le­se.

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