
Nachspielzeit
Wenn jemand wie der 92jährige Jürgen Becker einen neuen Gedichtband mit dem Titel Nachspielzeit vorlegt, werde ich neugierig. Man schlägt die »Gedichte und Sätze« auf und ist binnen weniger Minuten ein- und abgetaucht in diesen von jeden Ordnungen ungestörten Strom aus Schauen, Suchen, Erinnern, ein Kaleidoskop aus Assoziationen, Flashbacks und Déjà-vus von der Kindheit mit ihren einschneidenden Kriegserlebnissen bis hinein in die Gegenwart.
»Mit jedem Tag wächst eine Entfernung, kommt etwas näher,
ganz gleich, um was es geht beim Erinnern, beim Erwarten.
Zwischen Kindheit und Sterbebett so viele Jahrzehnte, daß
es dunkler wäre am Himmel, knipste man für jeden Augenblick,
der vergeht, einen Stern aus –«
Bisweilen entladen sich die Erinnerungen eruptiv:
»der Schulweg die Kampfbahn Kaserne Kastanien
sing mit hau ab fick dich ins Knie
Büchsenfleisch Rübenkraut Muckefuck Sondermischung
Gasschleuse Jungvolkheim Schilderhäuschen Laube
Briefmarken sammeln Heilkräuter Altmaterial
Kohlenklau Feind hört mit Kopf hoch Johannes«
Um dann wieder im Jetzt anzukommen:
»seit Tagen und Tagen undicht der Wasserhahn
hört plötzlich oh Wunder zu tropfen auf
stattdessen flackert die Leuchtstoffröhre
hat Arte zu einem Kanal gewechselt den
ich nicht finden kann«