Edo Reents hat viel Schnaps getrunken und mit einem Professor eine gar tolle Enthüllung präsent: Walter Kempowski war ein Spion! Eine »Bombe« erkennt der offenbar nicht ganz trinkfeste Redakteur da und »spektakulär« schallt es aus den Feuilleton-Stuben (insbesondere der FAZ), die in ausgleichender Gerechtigkeit jetzt endlich auch einmal einen Nicht-Altlinken dekonstruieren möchte. So ganz neu sei das alles nicht sagt dann der Professor im sinnigerweise lange ins Bezahlarchiv gesteckten Beitrag, der sich beim genauen Lesen schon als Rohrkrepierer erweist (Gespräch mit Alan Keele [»Das geht ja aus den Romanen selbst hervor«]).
Der Nachklapp von heute will die taumelnde Mücke noch ein bisschen aufpeppen und behauptet noch einmal trotzig eine Banalität: Walter Kempowski hat in seinen Romanen nicht immer die Wahrheit geschrieben!
Was kommt als Nächstes? Hat Bruce Chatwin Patagonien in Wirklichkeit gar nicht besucht? Welche Stasi-Akte wird als Nächstes zusammengepuzzelt? Und: Hätte Thomas Mann heute Kinderpornografisches auf seinem Computer?
Was ist das eigentlich für eine Literaturkritik, die für ihre Fehlinterpretationen den Schriftsteller noch nachträglich haftbar macht? Was sind das für Redakteure, die interessante Details zu Enthüllungen aufblasen und die Boulevardisierung des Feuilletons mit ihren affektierten Superlativen forcieren?
Zur unseligen »Fotoreporter«-Kampage der »Bild« hatte vor einigen Jahren Stefan Niggemeier die Idee, den Urheber der Kampagne mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen (mit mässigem Erfolg). Vielleicht gibt es aber irgendwann einmal die moralinsauren Reportagen über die enthüllungsgeilen Pseudo-Feuilletonisten. (Nicht, daß mich das interessieren würde. Es wäre eher aus hygienischen Gründen.)
Ergänzung 05.05.09: Professor Keele nimmt Stellung zum publizistischen »Strudel«.
Noch eine Ergänzung 08.05.09: Dirk Hempel widerspricht energisch – auch in der FAZ.
Jetzt ist damit Schluß. Versprochen. Sorry, vermutlich nicht...
Deutschstunde
(Nicht die von Lenz, sondern die in der Schule.) Irgend wann einmal, ich glaube, in der 8 Klasse, da nahmen wir autobiographische Romane durch. Einer der Unterschiede zwischen Autobiographien bzw. Memoiren und autobiographischen Romanen, den wir herausarbeiteten, war, dass der Autor eines autobiographischen Romans die Tatsachen freier bearbeitet als in einer Autobiographie, dass also etwas, was in einer Autobiographie oder in Memoiren eine fehlerhafte Darstellung oder gar eine Lüge wäre, in einem autobiographischen Roman »dichterische Freiheit« ist.
Später, im Fach Geschichte, handelte sich ein Mitschüler eine Rüge ein, weil er in einer Hausarbeit / einem Referat »Tadellöser und Wolf« (von Kempowski) als »Quelle« genannt hatte. Anders als Memoiren seien autobiographische Romane (auch wenn sie in der Hausarbeit kritisch behandelt werden) keine historischen Quellen – eben wegen der »dichterischen Freiheit« des Schreibers.
Rufe ich mir diese Schulstunden ins Gedächtnis zurück, komme ich zu der Vermutung, dass einige Literaturkritiker keine aufmerksamen Schüler gewesen sein können. Das ist zwar eine Überinterpretation, aber keine, die über die Annahme hinausginge, Kempowski hätte nie spioniert, weil sein literarisches »Alter Ego« in einem Roman nach Tatsachen nicht spionierte.
wenn das spionieren die leute zum lesen bringt
dann ist das doch nicht so schlimm! es macht den schriftsteller
interessant! ich selbst hab kempowki’s schoene »haben sie hitler gesehen« in den 70ziger jahren ins amerikanische uebersetzt, ein buch wodurch man mehr ueber hitler deutschland erfaehrt [ich jedenfalls] als hunderete von studien und statistik sammlungen, also wie umnachtet waehlerschafe im allgemeinen sind. sonst einiges gelesen.
bei dieser angelegenheit faellt mir enzensberger’s schoene satz ein dass »das eigentliche staatsgeheimnis daraus besteht dass es kein staatgeheimnis gibt;« dadurch bewiesen dass die soviets den kempowki wegen angeblichen sendens von einer liste von ost see frachtereien verhafteten und verurteilten: also das oeffentlichste muss verheimlicht werden um wertvoll zu werden. auf dieser art entstehen dann ineinanderverzweigte paranoias, paranoiden, und ein ganzes system von spionen, die sich wichtig vorkommen. leute werden erschossen, verhaftet, usw. kempowki scheint in einem p.x. in wiesbaden gearbeitet zu haben, enzensberger woanders und hat schnellsten english gelernt. wenn bautzen den k. zu einem grossen sammler und guten schrifsteller machten, dann war das vieleicht der pein wert; ich nehme an er waer es sowieso geworden.
der andere kommentar hierzu, also der vor dem meinigem, hat mir auch sehr gefallen.
http://web.archive.org/web/20100626050527/http://humanities.byu.edu/germslav/faculty/afkeele/keele_bib.php
ist die bibliographi des professor alan keele’s der sich wahrlich
mit kempowski und anderem deutschen zeug abgerackert hat.
und zwar aus der sicht der Latterday Saints.
Enzensberger hat recht
»Das eigentliche Staatsgeheimnis besteht daraus, dass es kein Staatsgeheimnis gibt«. Nicht von ungefähr war einer der wichtigsten Zweige (manche sagen: der Wichtigste Zweig) der britischen Nachrichtendienste im 2. Weltkrieg die »public intelligence« – also die Auswertung öffentlich zugänglicher Quellen. Auch z. B. der BND stützt sich überwiegend auf »offene Quellen«.
Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Bedeutung von Kempowskis Spionage. Ohne die paranoide Grundstimmung des kalten Krieges, ohne den für autoritäre Staaten typische Kontrollwut, ohne die angebliche allgegenwärtige »Agententätigkeit« als propagandistische »Sündenbock« für wirtschaftliche Misserfolge, und vor allem ohne das für den Stalinismus charakteristische System des permanenten Misstrauens ist das harte Urteil gegen Kempowski nicht erklärbar.
Schade nur, dass der zeitgeschichtliche Hintergrund über die »skandalöse« Enthüllung ins Hintertreffen gerät. Fast habe ich den Eindruck, dass viele »Enthüller« sich als »staatstragend« empfinden, und daher so etwas subversives wie »Spionage« grundsätzlich nicht mögen. Vor allem scheinen meiner Ansicht nach viele mit Kempowkis politischem Standpunkt nichts anfangen können. Kempowskl selbst sagte einmal: »Ich bin konservativ und liberal, und das darf man in Deutschland nicht sein.«
Die Situation war 1947/48 eine ausserordentlich Schwierige; eine Situation, die jemand der 1965 geboren ist (wie Reents) nie erlebt hat. Das ist natürlich nicht schlimm. Aber wenn man darüber schreibt und diesen (pseudo-)investigativen Anspruch formuliert ohne ein Einfühlungsvermögen für dei damalige Lage zu entwickeln, dann sollte man besser mit Murmeln spielen oder über rote Teppiche schreiben.
Kempowski hat selber einmal sinngemäss gesagt, dass Bautzen ihn zum Schreiben gebracht habe; in diesem Sinne hat sich diese acht verlorenen Jahre »schön geredet«.
Es ist tatsächlich so, dass Kempowski nie die Anerkennung in der »Szene« erfahren hat, die er gesucht und vor allem verdient gehabt hätte. Das zeigt sich alleine an dem m. E. nicht unerheblichen Skandal, dass dieser Mann nicht einmal den Büchner-Preis bekommen hat. Das hat dann (leider) auch mit der mangelnden Empathie für seinen politischen Standpunkt zu tun.
Willi Winkler schrieb gestern in der Süddeutschen Zeitung: »Acht Jahre saß er in Bautzen, ehe er in die Freiheit und die Bundesrepublik entlassen wurde. In der Haft hatte er sich eine glänzende Rehabilitierung erträumt. In Wiesbaden würde er bei den Amerikanern eine Pressekonferenz geben, nein, besser gleich in New York, am allerbesten vor der Vollversammlung eine Rede: ‘Behutsam und leise ein einzelnes Wort fallen lassen von äußerstem Gewicht, dann noch ein Wort, größer und größer werden, höher hinauf!’ Doch die Amerikaner rehabilitierten nicht ihn, sondern – mit Verzögerung – seine Leser.«
Ich aber erinnere mich sehr genau an 1947/8
als ich schon seit 1945 im Alter von 8 Jahren das/ ein »Pet der CIC/ OSS« in Bremen war. Und seit spaet-Fruehling 1945 politisch ganz hell wach wurde.
+ Anbei, auf English, einen aufklaerischen Brief den ich an den wackeren Professor Kane schrieb:
»I happened on your interview about Kempowski in the F.A.Z. As I expect you know, I translated his »Did you ever seen Hitler« these many years ago for Peter Mayer at Avon Books, but never met the author; or heard from him....
As to CIC/ OSS/ CIA I know a fair amount since I was as it were the
»pet« of the Bremen CIC from 1945-until 1950 when I came to this
country on a US troopship, the USS Maurice Rose, as a US Army dependent, and was at their edges for many years whenever I went back to Germany since I knew US ambassadors etc. I recall some event sponsored by the US embassy in Godesberg with a lot of CIA and KGB guys present, who knows some of the women may have been too, people sort of knew who was who, but all pretended not to, but me who made great fun of them for that, which raised quite a few eyebrows. They were all little boys, deadly serious.
The reason that this so happened had to with both parent and many other members of my family having been in the resistance to Hitler, and coming under the protection of these hard-partying fellows as of Spring 1945, who however were all OSS and had CIC as a cover. For example, in 1949, in Berlin for Christmas, and what an eventful few weeks it were, I first met Rainer Hildebrandt, head of the just founded Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, whom my my
mother, a counter spy, had known since 1940, she herself survived Gestapo imprisonment, and Rainer his KZ. But the man who was already my stepfather, Richard Weber, then a captain, CIC, later reverting to his original outfit, Corps of Engineers, was the person who then arranged for the financing and control of the Kampfgruppe, which eventually became a terrorist organization inside the DDR – Rainer left it about the time that it turned violent. CIC was a cover, as were quite a few others, such as officers charged with News and Information and giving out licenses. My uncle George Aldor, a Sargent in the information and news licensing division in Kassel,
a Hungarian Jew by way of Vienna; Fred Praeger... lots of emigres who had gotten out in time, returned as OSS operatives because they knew German [my stepfather Richard Weber, who retired as a US Colonel, was a north-German farmer’s son emigre at a fairly early age, and after retiring and getting himelf an MA in German lit he went to Uni Bonn on the GI bill for some post grad studies,
but supplemented his retirement income by hitching back up with the CIA and telling them what his old counterparts in the German corps of engineers were doing, or planning to do in the
event the tanks started to roll westward – I was always told to go for a walk in the great woods near Villiprot during the few months I spent with them there in 1965 and the case officer showed up!].
You might find out more by looking at OSS files if they are available.
But my guess is that you are right. K. wanted to be able to bring his
family to the West, and he was betrayed? or simply caught.
I myself turned the company down in Berlin in 1957, back for a junior
year abroad, the example of my mother sufficed; and I think
I realized once in you were ensnared for life; and I could have really
used an extra $ 100 a month just for unloading what I happened
to see on my visits to the Berliner Ensemble, the opera, etc. $ 100
had a great exchange value, one buck became 4 West Mark became 16 East mark, and 32 bought you the complete subsidized works of Lenin.; 100 the complete 20 volumes of Georgy Lukacs from Aufbau... just a guess how much I paid.
But I was the first US literary scout to go to East Berlin and visit the
Aufbau Verlag, well primed by Uwe Johnson who their writers
were. But when I happened to ask Uwe, sometime in the early 70s
in New York, about to drop him off at the Iroquois Hotel, right next to the Algonquin, he had just published »Two Views«, whether he happened to know Rainer Hildebrandt... he leapt out of the car... and dashed, in as much as the Nilpferd that he had become from his alcohol consumption could run or waddle... he had become so dreadfully paranoid, however my visit with Herr Kaspar of Aufbau made me realize that there was some real justification for the paranoia. Uwe tried as much as possible too, to not get involved, to live in the inbetween.
Sincerely Michael Roloff, Handke Nut
Geheimnis & Verrat
Also “Staatsgeheimnisse” gibt’s ganz sicher – man denke nur mal an das, was regelmäßig rauskommt, wenn die CIA sich mal wieder gerichtlich zwingen lässt, so genannte Dokumente zu veröffentlichen. Gäbs das bei uns, würde es sicher entsprechende Finsternisse enthüllen – man denke nur mal an das Ritual mit den Untersuchunsgausschüssen. Da braucht es nicht viel eigene Paranoia, wenn man mal anfängt zu rekapitulieren, was alles schon rausgekommen ist. Wo es einmal hergestunken hat, ist fast immer noch mehr.
Ich – der Kempowski nach und nach für sich entdeckt – sehe aber auch, dass solche Hintergründe sehr wohl interessant sein können, um gewisse Details der Literatur besser zu verstehen; ich verweise auf das, um was uns die Unermüdlichkeit der Kafka-Forscher bereichert hat. Für das Verständnis muss das nicht zwingen etwas bringen – kann es aber durchaus, auch wenn es den Genius der Texte nicht erklärt, ihn oft noch verstärkt. (Aber doch auch manchmal eine Ebene hinzufügt – oder ebene neue Rätsel.)
Fragen muss man aber wohl doch nach einem Journalismus, der derart boulevardesk verfährt. Wenn man die (vielleicht noch verständliche) Freude des Spezialisten über seine Trouvaillen wegrechnet, bleibt die Lust an der Enthüllung, am Scoop, für den der originäre Geist der Bücher letztlich schon nachrangig ist. Das, was einmal ein „Werk“ war, wird hier auf eine gewisse Weise sekundär, die eigentlich viel skandalöser ist. Und konzediert man dem Schreiber eine »Liebhaberei« mit dem Autor, hat es schon fast etwas von Verrat.
slow news day
much ado about nothing, as you say so well.
the major claim in the interview is that the character in the novel does more spying than the actual Kempowski.
so what’s the big deal? slow news day?
Ich find’s als mediales Phänomen interessant. Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass man Kempowski skandalisiert. 1990 wurde er im »Stern« als »Abschreiber« denunziert. Die Versuche scheiterten, weil der Vorwurf absurd war.
In einer Mail an Michael Roloff schrieb Professor Alan Keele:
Es hagelt aus allen Himmelsrichtungen. Und auch der sauerste hatte im Grunde auch recht: diese Enthuellung ist eine Fussnote, hoechstens, wert, aber wenn man Markenartikel-Kempowski plus Spionage kombiniert, da interessieren sich die Journalisten, weil sie Zeitungen verkaufen wollen. Aber sie wollen auch aufklaeren und belehren, ausser vielleicht bei der Bildzeitung und Fox News
Keele gestattet mir aus der Mail zu zitieren und ergänzt:
Ja, ich bin jetzt in einen Strudel da geraten, ich weiss gar nicht, was ich machen soll. ich koennte sogar meinen ganzen Vortrag als Posting freigeben, nur, das wuerde die Leute in Rostock aergern, die es bald als Buchkapitel in der Proceedings erscheinen lassen.
die verschiedenen geheimdienste muessen
ihre krimen natuerchlich verheimlichen, ob ein verschwiegenes krimen dann ein geheimnis ist? sind alle sogenannten »staats« [vater/muetter] geheimnisse von krimineller natur? ausser in faellen da sich geheimdienste, oder branchen, selbststaendige akteure werden, koennen ihre untaten auf befehle ihrer obrigkeiten zurueck verfolgt werden. also mystifikationen, »the mysteries«... was liegt da wirklich verborgen? heikel wurde es immer besonders wenn’s auf espionage von waffenartigen sachen ankam.
Was wäre da eigentlich besser?
USA: Die CIA und weitere mit den oft widerlicheren Verbrechen – aber der Möglichkeit, sie doch später publik zu machen (und der mindestens indirekten Bestrafung durch Verachtung der USA durch weite Teile der Weltöffentlichkeit).
Oder D: Mit der duckmäuserischeren Klandestinität – und dem falschen – und damit letztlich zu immer »falscheren« Selbstbildern führenden weißen Weste?
(Bliebe noch Hugo Chavez – aber der ist wahrscheinlich nur aus der großen Distanz sympathisch...)
@en-passant
Ohne Geheimdienstexpertentum: Ist nicht die »Fallhöhe« beim BND eine ganz andere als die der Geheimdienste in den USA? Was gibt es schon für großartige »Geheimnisse« – vor allem nach dem sogenannten Kalkten Krieg? Und wie oft dient(en) die Geheimdienste in den USA als verlängerter Arm der Regierungen, die sie für’s Grobe dann einsetzten, um sich selber nicht die Finger schmtzig zu machen. Da muß dann irgendwann der Geheimdienstboß abtreten (oder wird hochgelobt). Tatsächlich so etwas wie ein Bauernopfer (da trifft’s dann mal).
Und tatsächlich: Die Publizität, die Katharsis, die man dann in den USA vornimmt – wenigstens gibt man’s (irgendwann) zu. Wo andere Dienste das Mäntelchen draufhalten (ich denke an Russland aber auch Demokratien wie Israel), da wird in Zyklen eine Art von Remedur praktiziert. Manchmal muß man aufräumen, damit es wieder weitergehen kann.