Bei Amokläufen (bzw. das, was als solcher bezeichnet wird) oder ähnlichen Verbrechen kommt eine Charakterisierung bei der Beschreibung des Täters immer wieder zur Anwendung: Der Einzelgänger.
Immer war / ist der Täter ein eigenbrötlerischer Einzelgänger, der – im nachhinein betrachtet – eigentlich immer schon »komisch« war. Soviel schlechter Krimi ist fast immer. Insbesondere die Massenmedien haben schnell ihre Verurteilung gefunden. Mit grossem Vergnügen weidet man sich an denjenigen, der nun (posthum oder mindestens post festum) noch zum »Abschuss« freigegeben wurde.
Aber wer Einzelgängertum derart denunziert, verkennt, dass die grossen Morde der Menschheitsgeschichte immer aus Massenbewegungen hervorgegangen sind. Muss man an die überwältigende Zustimmung fast aller (auch intellektueller Kreise) am 1. August 1914 erinnern, als »endlich« der so lang erwartete Krieg ausbrach? Mit welcher Euphorie waren sie alle dabei (z. B. auch ein Thomas Mann)! Der Einzelgänger war hier derjenige, der sich dem Strom entzog. Derjenige, der weiter dachte. Vier Jahre später wussten es alle.
An den NS-Pöbel und andere Menschheitsverbrecher des 20. Jahrhunderts brauche ich nicht weiter erinnern. Sie hatten eines sicher gemein: Sie wurden von der Masse getragen (wenigstens am Anfang). Wer sich ihnen widersetzte, wurde oft genug an Leib und Leben bedroht. Der Einzelgänger war meist dagegen.
Einzelgänger waren Menschen wie Georg Elser, den heute kaum einer kennt. Ein einfacher Mensch, der erkannte, dass Hitler beseitigt gehört und der als einzelner das tat, was er glaubte, tun zu müssen. Das es heute in kaum einer deutschen Grossstadt eine »Georg-Elser-Strasse« gibt, dafür aber unzählige Hindenburgstrassen, ist eine Schande.
Die meisten Künstler sind (bzw. waren) Einzelgänger. In einem Mainstream, der Individualismus nur im Rahmen einer bestimmten Konformität gestattet, kann keine Kunst entstehen. Massengeschmack und Kunst gehen nur selten gemeinsame Wege.
Zu behaupten, Cho Seung-Hui sei ein Einzelgänger gewesen, sagt gar nichts über ihn aus. Es sagt aber eine Menge über eine Gesellschaft aus, die glaubt, derartige Trivialinjurien als »Wahrheit« verkaufen zu können. Es wird suggeriert, dass jemand, der einer »Masse« angehört, so etwas nicht tut. Sie entlastet sich damit selber von der Verantwortung. In den USA beispielsweise ist das sehr bequem, denn man braucht sich um eine Verschärfung des Waffengesetzes nicht zu kümmern, wenn man den Täter posthum aus der Gesellschaft stösst.
Ohne Einzelgänger gäbe es keinen Fortschritt. Dass einige wenige gelegentlich verrückt sind, widerspricht nicht der Notwendigkeit, dass es sie gibt. Mir graut mehr vor den Massen. Irgendwie.
Der englische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell hat mal gesagt: »Die Mehrheit hat meistens unrecht und wenn irgendwo ein grosser haufen von Menschen alle einer Meinung sind, dann stimmt da was nicht und dort wird traditionell das grösste Verbrechen begangen. Also hütet euch eher vor der Mehrheit als vor der Minderheit.«
Der Einzelgänger ist nicht das Problem. Das Problem ist in aller meisten Fällen die Masse die sich angeblich einig ist.
Hierin liegt das Dilemma von dem, was wir »Demokratie« nennen: Sie rekurriert auf das Mehrheitsergebnis.
Demokratie und Mehrheit
Bei aller Skepsis gegenüber Massenmeinungen und Mehrheitsentscheidungen, in wichtigen Fragen hat sich die Mehrheit in der Bundesrepublik bisher immer erstaunlich vernünftig verhalten. Ein Beispiel, welches mir noch sehr bewusst ist:
Bei der Bundestagswahl 1969 schien es ziemlich sicher, dass die NPD mit Alt-Nazi Adolf von Thadden an der Spitze in den nächsten Bundestag einziehen würde. Bei 9 Landtagswahlen zuvor übersprangen die Neonazis die 5%-Hürde locker. Bei der Bundestagswahl reichte es nur noch zu 4,3 % und danach versank die NPD in die Bedeutungslosigkeit – bis nach der Wiedervereinigung, aber das ist eine andere Geschichte.
Damals war ich wirklich überrascht, denn soviel Vernunft hätte ich nicht erwartet und mein Grundvertrauen, dass die Mehrheit in wirklich wichtigen Fragen vernünftig entscheidet, hat sich bis heute erhalten. Heute ist es eher üblich, gerade wegen dieser Vernunft, die Mehrheit nicht zu befragen ( EU-Verfassung).
Aber natürlich habt ihr recht, die Rolle des „Einzelgängers“, entgegen der momentanen Mediendarstellung, positiv zu bewerten. Da der Begriff „ Einzelgänger“ momentan negativ besetzt ist, nennen wir ihn jetzt „ Individualist“. Das klingt doch gleich viel schöner-oder? Ob Cho ein Individualist war? Ich kann das nicht beurteilen, aber ganz schön durchgeknallt muss er gewesen sein – was er ja dann auch aufs schrecklichste bewiesen hat.
Vernunft der Masse – @blackconti
Ja, es stimmt, dass die Bundesrepublik mit ihren »Massenbefragungen« = Wahlentscheidungen in denm letzten Jahrzehnten ganz gut gefahren ist. Und das elementare politische Entscheidungen (EU-Verfassung beispielsweise) eine Legitimation über Volksbefragungen bräuchten, dürfte auch fast unstrittig sein.
Dennoch liegt jedoch hierin wieder der Kern des Problems: Viele Franzosen, die die EU-Verfassung ablehnten, haben in ihrer Ablehnung auch der EU als solches (Apparat) eine Abfuhr erteilen wollen. Das bedeutet konkret nicht, dass sie »Anti-Europäer« sind – aber sie konnten zum ersten Mal ihrer »Gesinnung« Ausdruck verleihen. Die EU-Verfassung hätte ich für Deutschland auch abgelehnt – und auch aus ähnlichen Gründen.
Wichtig ist, dass demokratische Entscheidungen in entsprechenden Kontexten stehen, d. h. die gegenseitige, parlamentarische Kontrolle funktioniert. Daher stehe ich präsidialen Systemen (wie bspw. in Frankreich) sehr skeptisch gegenüber und halte repräsentative Mehrkammerparlamente für wesentlich besser. Hier können »Massenströmungen« aufgrund emotional aufgeladener Situationen besser »abgefedert« werden.
In meinem kleinen Beitrag ging es mir tatsächlich darum, den Einzelgänger nicht per se zu diskreditieren. Man erlebt das in der medialen Berichterstattung immer wieder: Einzelgänger, alleinlebend, schrullig – prompt stecken Leute in einem Raster – vom Amokläufer bis zum Pädophilen. – Hinzu kommt, dass Phänomene wie dieser Amoklauf jetzt immer vom Ende her gesehen werden und alle Deutungen aus dieser Sicht vorgenommen werden.
Wie wird ein Einzelgänger zum Einzelgänger
Wieder einmal ein toller Beitrag von dir, Gregor! Auch mit dem Hinweis auf Georg Elsner. Ich hätte da noch ein paar weitere Kandidaten anzubieten, denen man auch noch keine Straße gewidmet hat: Fritz Gerlich, John Rabe,... Auch die ersten Sophie-Scholl- oder Hans-Scholl-Straßen gibt es meines Wissens erst seit kurzem.
Euren Meinungen zum Einzelgängertum möchte ich mich anschließen. Es ist natürlich richtig, dass viele Amokläufer Einzelgänger waren. Aber zu einem Einzelgänger gehören immer zwei Seiten: Einer der sich ausgrenzt und eine Gesellschaft die jemanden ausgrenzt. Dass auf dem Campus viele Leute ausgegrenzt werden, ist nichts Neues. Ebenso, dass viele Menschen sich freiwillig ausgrenzen, weil ihnen das Getue der anderen einfach nicht behagt. Die Lösung wäre ein Umdenken im Miteinander. Aber Einzelgänger zu integrieren, dazu haben viele Leute einfach keine Lust.
Naja,
ein »integrierter« Einzelgänger ist natürlich keiner mehr. In der Regel bedeutet Integration auch immer ein gewisses Mass an Anpassung (an die Gruppe). Wie Du richtig schreibst, möchten viele das auch gar nicht. Warum auch?
Ich glaube, dass einige inzwischen den Spagat zwischen dem »freiheitlichen« Individualismus einerseits und einem vage spürbaren Konformismus auf der anderen Seite nicht mehr nachvollziehen wollen (oder können). EIn paar wenige leiten ihre Aggressionen dann in diese schrecklichen »Bahnen«. Das Phänomen der Amokläufe wird dabei natürlich medial ausgeweidet – und aufgebauscht. Wie man hier sehen kann, ist die Zahl der Amokläufe (noch) relativ überschaubar (mit allerdings steigender Tendenz).
Alle kollektive Gesellschaftsmodelle sind im 20. Jahrhundert teilweise schrecklich gescheitert. Die Skepsis ist insbesondere in Europa virulent (und berechtigt). Man denke an die Skepsis, die dem Kommunitarismus, der vor einigen Jahren in den USA eine gewisse Relevanz erreichte, entgegen gebracht wurde. Insofern dürfte der aktuelle Satus quo noch eine längere Zeit andauern.
Freiwillig oder unfreiwillig?
Denkfehler! Hier werden zwei ganz verschiedene Sachen in einen Topf geworfen. Die positiven Einzelgänger (Individualisten), die Ihr hier beschreibt, sind dies freiwillig, sie grenzen sich selbst von der Masse ab und fühlen sich wohl dabei; nur dadurch konnten sie auch positiv wirken.
Die Amokläufer sind nicht freiwillig Einzelgänger. Sie sind ausgegrenzt worden, weil sie anders sind als die Masse. Sie wären gerne Teil der Masse, zumindest einer Gruppe, deshalb setzen sie sich ja so wütend mit ihr auseinander, bis ihr verzweifelter Wunsch, dazu zugehören, in Hass umschlägt.
Nee.
Nicht ganz verschiedene Sachen. Hier der selbstbewusste, sich rundum wohl fühlende Individualist, dort der, der verzweifelt dazugehören will, den man aber nicht lässt und der deshalb zum hasserfüllten Massenmörder wird – das scheint mir eine arg schlichte Klassifikation zu sein. Genauer gesagt, sind das wahrscheinlich nur die beiden Extreme.
Es gehört nicht viel dazu, um von seiner Umgebung als Sonderling abgestempelt zu werden. Und dann früher oder später (und mehr oder weniger) Einzelgänger zu werden. Dazu reicht es doch oft, wenn man sich in der Freizeit mit Dingen beschäftigt, die vom Mainstream z.B. der Arbeitskollegen abweichen. Und erst recht, wenn man mit den Lebensmodellen der meisten anderen nicht so viel anfangen kann. Und öfter als man vielleicht denkt, bewirkt der Druck von außen, dann dass man sich selbst als „ich bin sonderbar. Ich bin nicht richtig“ usw. einordnet (nicht immer ist der Druck tatsächlich soo groß, aber es reich ja, wenn es einem so vorkommt).
Kurzum, die wenigsten Einzelgänger (wie auch immer man den Begriff jetzt definiert) dürften glücklich und zufrieden mit ihrer Rolle sein. Und zum Glück die allerallerwenigsten werden zu Amokläufern.
Doch
Mag sein, dass die sehr selbstbewussten, in sich ruhenden Einzelgänger und die Amokläufer Extreme sind, aber ich glaube doch, dass die meisten Einzelgänger nicht unglücklicher in ihrer Rolle sind als viele der Geselligen und der Angepassten. Wenn ich in der Innenstadt die vielen Menschen mit freudlosen Gesichtern beim Einkaufen sehe – und das sind doch die, die sich z.B. dem Konsumterror angepasst haben -, dann habe ich nicht den Eindruck, dass die besonders glücklich sind. Einzelgängertum und Angepasstheit sind in ihrer milden Form wahrscheinlich nur zwei verschiedene Lebensentwürfe; rumschlagen im Leben muss sich jeder.
Gruppendruck
Die Diskussion zeigt, wie oberflächlich mein Beitrag ist – man hätte das viel detaillierter ausführen müssen.
Ich finde, Klopstein hat dahingehend recht, dass der Stempel »Sonderling« oder »Einzelgänger« ganz schnell auf einem klebt. Ich kenne das seit meiner Schulzeit. Mich hat der Mainstream um des sozialen Erlebnisses willen selten interessiert; die Verlockung habe ich allerdings oft genug zu spüren bekommen. Ich bin immer skeptisch gewesen, wenn ich einer bestimmten Gruppe zugehörig zugeordnet wurde.
Einerseits. Andererseits ist es fast eine Banalität festzustellen, dass jeder von uns irgendwann (irgendwie) auch »geliebt« werden möchte; nach Anerkennung dürstet. Sei es im Privatleben, im Beruf oder sonstwo. Wenn dies gänzlich ausbleibt, wird dann das Einzelgängertum eventuell zur Qual. Dies mag vielleicht im aktuellen Fall eine Rolle gespielt haben; ich kenne die Fakten jedoch hierzu viel zu wenig, um ein abschliessendes Urteil abgeben zu können.
Sicherlich kann irgendwann Einzelgängertum in Querulantentum umschlagen (im harmlosen Fall). Oder in Amokläufen. Aber es kann auch eine bewusste Wahl sein, sich im Lebensstil nicht der Mehrheit anzupassen – und sei es nur in Nuancen. Letztlich ist es ja durchaus gewollt – der Individualismus ist eine immanente Kraft in unserem »System«.
Mich interessiert, wann der Individualismus in Einzelgängertum umschlägt – oder, anders gesagt, welche »Rahmenbedingungen« vorab vom Individuum zu akzeptieren sind, um dann einen Individualismus »ausleben« zu können. D. h. es gibt einen Gruppendruck, der die »Eckdaten« des freiheitlichen »Lebens« bestimmt. Wer sich diesem Druck versucht zu entziehen, bekommt in bestimmten Kontexten Probleme (Schule; Uni; bestimmte Berufe).