Au­ßer Dienst, auf Jagd

A.d.L.e.R: Aus dem Le­ben ei­ner Rik­scha­fah­re­rin – Nr. 18

Von park­lie­gen und na­se­boh­ren kann über­haupt kei­ne Re­de sein. So ein Sti­pen­di­um ist furcht­bar an­stren­gend. Ich ar­bei­te rund um die Uhr, ich ken­ne kein Weekend, nachts träu­me ich da­von. Ich trei­be mich in Bi­blio­the­ken und Ar­chi­ven her­um, re­de mit Leu­ten, sit­ze Stun­den um Stun­den vorm Bild­schirm, schrei­be, lö­sche, kor­ri­gie­re. Die Au­gen wer­den zu­neh­mend schlech­ter, die Schul­ter ist ver­spannt. Ich ver­ges­se zu es­sen, ich le­se, schla­ge et­was nach, Wä­sche und Ge­schirr tür­men sich auf, Frucht­flie­gen meh­ren sich, al­les liegt über­all her­um, nichts wo es hin­ge­hört. Mit ei­ner Aus­nah­me: Von ih­ren Bil­dern an der Kühl­schrank­tür schau­en mich die Ro­man­fi­gu­ren an. Sie sind schon lan­ge tot, aber jetzt zie­ren sie sich, und ich lau­fe ih­nen nach.

Ich fah­re mit Rad und Bahn an den Stadt­rand. Da wohnt ei­ne al­te Da­me, die et­was wis­sen könn­te. Ich kling­le, sie lehnt sich im ro­sa Ne­gli­gée aus dem Fen­ster und sagt: »Ach der! Nein, an den kann ich mich nicht er­in­nern.« Zu­rück mit dem Rad durch den Wald in die Stadt hin­ein. Sep­tem­ber­son­ne, kal­ter Schat­ten, ich muss die Ket­te ölen. Wo­mög­lich ken­nen die Bäu­me mei­ne Fi­gu­ren, auf je­den Fall die ei­ne, die spä­ter hier wohn­te, und die an­de­ren könn­ten oh­ne wei­te­res mal ei­nen Aus­flug ge­macht ha­ben. Schlag­ar­tig Be­rufs­ver­kehr, Tem­po hal­ten, Vor­fahrt ge­wäh­ren. Zwi­schen den Häu­sern ist es na­tür­lich wär­mer. Ich hal­te an, se­he den Weg auf dem Stadt­plan nach, fah­re wei­ter, ach hier bin ich jetzt, da war ich schon mal, nun kenn ich mich wie­der aus. Mor­gen muss ich un­be­dingt noch mal raus, schon weil das Wet­ter so herr­lich ist.

An­dern­tags die Le­se­saal­be­nut­zer­be­treue­rin im Lan­des­ar­chiv: »Oh, das ist schwie­rig, die Ak­ten sind ja, wer kann denn das wis­sen, X, da muss ich X fra­gen, im­mer wenn ich von X et­was wis­sen will, ist X nicht da, die­se Re­po­si­tur ent­hält ei­nen Be­stand von hundertzwei­undsiebzigtausendachthundertdreiundfünfzig Do­ku­men­ten«, hoch­ge­zo­ge­ne Au­gen­brau­en, be­deu­tungs­vol­les Nicken, »das dau­ert! Ich ar­bei­te seit 30 Jah­ren hier, das ist ganz schwie­rig, so ein­fach geht das nicht, al­so da müs­sen Sie …«, es hört gar nicht mehr auf. Ich wick­le die Da­me um den Fin­ger wie ei­nen Woll­fa­den und soll über­mor­gen mei­ne Ak­te vor­lie­gen ha­ben.

Zwei Ta­ge spä­ter mit dem Rad auf dem kür­ze­sten Weg zum Ar­chiv, al­le ro­ten Am­peln mit­neh­men, haar­schar­fe Bö­gen um que­ren­de Füß­gän­ger, bloß nicht an­hal­ten, neue Re­kord­zeit 40 Mi­nu­ten, und jetzt ha­be ich die Ak­te vor mir lie­gen, kom­me vor Span­nung schier um, blät­te­re brü­chi­ge, zer­fal­len­de Sei­ten mit vor Auf­re­gung feuch­ten Hän­den, oh­got­toh­gott, da is­ser, er is­ses, ich seh ihn, wie er leibt und lebt, die Ak­te spricht Bän­de, trock­nen­der Schweiß kühlt mir den Nacken, er ziert sich kein biss­chen, er er­klärt sich zur Sa­che, hier hab ich zwei Sei­ten lang sei­nen ei­ge­nen Wor­te, und an­de­re Be­kann­te tau­chen auch in der Ak­te auf, ach schau an, der hat und der war, und so stan­den die zu­ein­an­der, und da­mals muss­te man Eh­ren­kar­ten von der Steu­er­be­hör­de ab­stem­peln las­sen, und al­les, was ich über die­se ei­ne Ro­man­fi­gur va­ge ge­ahnt ha­be, be­stä­tigt sich, über­erfüllt sich re­gel­recht, al­les bis auf die ei­ne ent­schei­den­de Fra­ge.

© Ste­pha­nie Bart

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7 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Lie­be Le­se­rin­nen und Le­ser,
    es tut mir leid, das kann ich un­mög­lich ver­ra­ten. Ich bit­te um Ge­duld bis zum Er­schei­nen des Ro­mans, und das kann noch dau­ern. Wenn mir nicht der Him­mel auf den Kopf fällt, wer­den wei­te­re Ad­LeR mit neu­en Nach­rich­ten die­ses gast­li­che Nest an­flie­gen.

  2. Ge­dul­de mich un­ge­dul­dig mit.
    Und ich wer­de wei­ter­hin Aus­schau nach der Ad­Le­rin hal­ten und sie be­ob­ach­ten, wie sie, ei­nen gün­sti­gen Bart nut­zend, schrau­bend in die Lüf­te steigt.