
Listig, dieses Bekenntnis zur »kontrafaktischen Geschichtsschreibung«, die der französische Autor Aurélian Bellanger seinem als Roman deklarierten Buch Die letzten Tage der Linken vorweg schickt. Sollte man »einige reale Personen« trotzdem wiederfinden, muss man sich »damit zufriedengeben, sie als Protagonisten einer Parallelgeschichte zu betrachten.« Es ist natürlich gerade diese Distanzierung, die neugierig macht. Entsprechend sorgte das Buch im letzten Sommer in Frankreich für einigen Wirbel. Denn einige Protagonisten erkannten sich sehr wohl in den fiktiven Charakteren wieder und wie nicht anders zu erwarten, forcierten sie in ihren Einwänden und Protesten die Lesart eines Schlüsselromans.
Die Geschichte ist recht einfach nacherzählt. Da ist zunächst der (wie alle männlichen Protagonisten) vornamenlos bleibende Grémond, Mitglied der Sozialistischen Partei Frankreichs (PS), die sich als Grashüter der republikanischen Linken in Frankreich versteht. Sein Werdegang, der ausführlich geschildert wird, begann im linksextremistischen Milieu der Partei, bevor er den Laizismus als tragende Säule Frankreichs für sich entdeckte. Er wird sogar Vorsitzender der (vollkommen bedeutungslosen) Laizismus-Kommission seiner Partei. Der Staatsdienst blieb Grémond verwehrt; er ging nach Toulouse, an die Universität. Hier zeigen sich die Folgen eines großzügigen Umgangs mit dem Islam stärker als in Paris. Nicht zuletzt anhand der Bekämpfung des Gesetzes gegen ein Kopftuchverbot für Frauen erkennt er zunehmend Übereinstimmungen zwischen Linken und Islamisten. In der französischen Provinz brodelt es unterdessen längst schon; die Leute wählen immer mehr Front National (bzw. ab 2018 Rassemblement National – RN).
Grémond war eigentlich Netzwerker und Strippenzieher. Immer, wenn er in die Nähe der Macht zu kommen schien, scheiterte er. Einmal wurde er sogar als Minister gehandelt – vergeblich. In seiner Partei, so konstatierte Grémond irgendwann einigermaßen schockiert, wurden die laizistischen Werte sukzessive aus Furcht vor politischen Gemeinsamkeiten mit der politischen Rechten geopfert. Man flüchtete sich in einen progressiven Wokismus, forcierte hochtrabende Identitäts- und Postkolonialismus-Thesen und kümmerte sich um »Gender and Race«. Grémond erklärte den »Islam-Linken« den Krieg, war der Meinung, die PS opfere ihren politischen Schatz, den Laizismus allzu bereitwillig.
»Ideen wurden links geboren und alterten rechts«, stellt Grémond im Roman fest. Wobei »altern« bedeutet: Sie werden zu Leerformeln, die bestenfalls in Sonntagsreden noch zitiert werden. Der Laizismus werde nur noch im Figaro debattiert, nicht mehr beim Bäcker, heißt es einmal. Dabei soll doch, so Grémond, »Laizität« die »Brüderlichkeit« im französischen Dreiklang ersetzen und Vorrang zum »Gleichheitsprinzip« bekommen. Also etwa: Freiheit, Laizismus, Gleichheit. Auf die Idee einer Addition kommt/kam anscheinend niemand. Und auf die andere Idee, dass diese theoretischen Diskussionen nicht vor drohendem sozialem Abstieg einer Mittelschicht schützen und die Inflation bekämpfen, kommen Grémond et. al. auch nicht.
Unverdrossen schritt Grémont zur Tat: Einhundertzehn Jahre nach dem 1905 verabschiedeten Gesetz von Trennung und Kirche gründete er die »Bewegung 9. Dezember«, eine Mischung aus Loge, Thinktank und politischer Lobbygruppe. Die »Dezembristen«, wie man sie nannte, sollten weniger Anhänger, sondern eher Sympathisanten sein, die man nicht direkt als solche erkenne. Das Manifest habe einen »ökumenischen Charakter« gehabt, so kommentiert der allwissende, bisweilen zwischen Ironie und Sarkasmus schwankende Erzähler. Mitverfasser sei ein gewisser Sauveterre, ein ominöser Journalist und Radiomacher, der am Ende auf rätselhafte Weise ums Leben kommen wird. Es fällt auf, dass bei einigen Verfechtern der fast beschwörende Rekurs auf den Laizismus bisweilen mit seltsam religiös konnotierter Inbrunst geführt wird. Einmal ist vom »Weihrauchduft« des Atheismus die Rede. Und wenn dem vermeintlichen Siegeszug des Islam nur mit einem »Kreuzzug« begegnet werden kann, wie manche behaupten, hat das mit Laizismus nichts mehr zu tun.
Die Dezembristen versuchten, die politische Landschaft Frankreichs mit »echten, stolzen Republikanern« zu unterwandern, »während die gleichzeitig von allen Seiten angegriffen wurde.« Die Liste dieser Angreifer findet sich gut versteckt auf Seite 278. Sie umfasst unter anderem diejenigen, die »durch historische Ungenauigkeiten und Vereinfachen« Frankreich als Verursacher »für das gesamte Unglück der Welt verantwortlich« machen. Oder es sind die sich global gebenden Gegner des Nationalstaates und jene, »die davon träumten, eine weltumspannende technokratische Regierungsform jenseits der Demokratie zu errichten.« Wer will, mag hier den Wunsch nach Restauration erkennen.
Man scheute sich nicht, auch im Sarkozy-Lager Pflöcke einschlagen zu wollen. Grémond entwickelte eine »Hufeisentheorie« über die »gegenseitige Anziehung der »Extreme« am Beispiel der »Positionen von Mélenchon und Le Pen in Bezug auf Europa«. (Beim Punkt Antisemitismus scheint inzwischen der RN gemäßigter als PS nebst Ableger.) Einige begannen, vom »Großen Austausch« zu reden, sahen Bevorzugungen islamischer Feiertage gegenüber christlichen im öffentlichen Leben. Grémond wurde unterdessen von einer seltenen Krankheit heimgesucht. Ein sich über Jahre hinziehender, stetiger körperlicher Verfall kündigte sich an. Er hatte keine Zeit mehr, wurde aggressiver, schrieb endlose Twitter-Threads, formulierte eine »laizistische Reformation«.
Zum energischsten Verteidiger des Laizismus und des republikanischen Frankreich wird die Satirezeitschrift Charlie Hebdo auserkoren, die nicht nur für ihre deftigen »Pfaffen«-Karikaturen berühmt-berüchtigt ist, sondern auch 2006 die Mohammed-Karikaturen abdruckt und von Grémond und seinen Freunden zentral wird für das, was sie »ideologische Schlacht« nennen. Die Freunde sind vor allem zwei ebenfalls vornamenlos bleibende Philosophen, die in Frankreich Medienstars und stetige Gäste von Radio- und Fernsehsendungen sind bzw. diese sogar produzieren. Bellanger nennt die beiden Taillevent und Frayère. Sie könnten zunächst unterschiedlicher nicht sein. Frayère kommt vom Land, Taillevent ist städtisch aufgewachsen. Sie irrlichtern durch dieses Buch, man bekommt ausführlich deren sexuelle Vorlieben erläutert (beide sind Frauenhelden), aber sie lassen sich nicht in eindeutige gesellschaftspolitische Korsette pressen. Gleich zu Beginn heißt es etwa über Taillevant, dass er an »gar nichts mehr« glaube. Beide haben ihre intellektuellen Wurzeln bei einem bereits verstorbenen Philosophen, der hier Cormier genannt wird.
Bellanger platziert die beiden Philosophen mit einigen Zeichnern von Charlie Hebdo bei einem Abendessen, irgendwann Anfang der 2010er Jahre vielleicht. Man feiert sich und die Zeitschrift. Der Stimmung ist fast feierlich, der Umgang locker, nicht kontroverslos, aber der Hummer zwingt zur Zusammenarbeit, die in der täglichen Reaktionsarbeit von Charlie Hebdo nicht immer gelingt, weil die Eifersüchteleien zu stark ausgeprägt sind. Immerhin einigte man sich darauf, Tariq Ramadan als ein europäischen Führer der Islam-Bruderschaft auszumachen. Die Aktivistin Véronique Bourny stellt fest, dass der »Islamophobie«-Vorwurf, der sich am Nachdruck der Karikaturen entwickelte, eine Erfindung sei. Islamophobie könne es gar nicht geben. Die Aufzeichnungen dieses (natürlich fiktiven) Treffens kontrastieren mit dem einige Jahre später stattfindenden Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift durch Terroristen. Etliche der einstigen Diskutanten sind tot; Bourny überlebt knapp. Für Grémond ist dieser wie auch der Anschlag von Bataclan 2014 und später die Enthauptung Samuel Patys 2020 Wasser auf seine Mühlen.
Aber irgendwann plätschern diese Wasser im Roman nur noch vor sich hin. Die Erzählstimme gefällt sich in mokanten Spitzen, die man in Frankreich vielleicht besser versteht. An ein, zwei Stellen merkt man, wie der Übersetzer Frank Weigand Wortspiele ins Deutsche transformiert haben dürfte. Gut so. Bellanger führt stetig neue Figuren ein, meist weibliche (mit Vornamen!), die für die jeweiligen Intentionen der Zeitgeistphilosophen und Möchtegernintriganten stehen und mit ihren unterschiedlichen Politikentwürfen medial in Szene gesetzt werden. Hollande, so erfährt man, betrieb unterdessen eine eher linke Politik – sein Hauptfeind war die Finanzwirtschaft. Mit den Herausforderungen durch den islamischen Terrorismus war er überfordert. Folgerichtig kandidierte er 2017 nicht mehr.
Interessant wäre es, die diversen Abspaltungen innerhalb der PS, aus der am Ende die beiden Antipoden Mélenchon und Macron hervorgingen, genauer zu beleuchten. Aber ausgerechnet hier operiert Bellanger raunend-verschwörerisch, skizziert (und karikiert) die designierte First Lady als die wahre Präsidentin und vermeidet konsequent, den Namen Macron zu nennen. Er wird durchgängig »der Kanoniker« genannt, anknüpfend an dessen Besuch einer Jesuitenschule. Der Leser erfährt, welche Vorbehalte Grémond gegenüber dem Kanoniker hegte und dann doch gleichzeitig versuchte, seine En-Marche-Bewegung zu durchdringen. Mit den Gelbwesten sympathisierte er nur kurz. Eine zentrale Figur in seinem Spiel wird der namentlich nicht genannte Bildungsminister. Ist er ein Dezembrist? Man weiß es nicht. Immerhin ein guter Witz über das neue Blau in der französischen Fahne: Wie nennt man es? Republikanisch? Vielleicht. In keinem Fall jedoch »Marine«.
Der weitere Fortgang soll hier nicht ausgebreitet werden. Nach knapp 300 Seiten verliert der ohnehin literarisch nicht allzu anspruchsvolle Roman deutlich an Anziehungskraft, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass die Gegenwart näher kommt und das Licht diffuser wird. Es ist nun an der Zeit, sich der Rezeption des Buches in Frankreich zu widmen.
Vor allem sei die Lektüre des Gesprächs zwischen Thomas Mahler von L’Express und dem Philosophen Raphaël Enthoven empfohlen.1 Der entdeckt sich in der Figur des Taillevent und ist vor allem dahingehend empört, dass etliches, was im Buch über Taillevent steht, gar nicht auf ihn zutreffe. Der Autor Bellanger habe zudem nie mit ihm gesprochen, so Enthoven, der gar nicht zu wissen scheint, dass man fiktive Charaktere auch ohne persönliche Beziehung entwickeln kann. Enthoven nimmt den Roman und die Figur Taillevent tatsächlich als Versuch einer Dokumentation und bezichtigt Bellanger im Realitätsabgleich mehrerer sachlicher Fehler. Beispielsweise was die Streitgespräche mit seinem Gegenpart »Frayère« angeht, der allgemein als Michel Onfray identifiziert wird. Man lernt aus dem Artikel noch, dass sie Aktivistin Bourny Caroline Fourest nachgebildet sein soll und Sauveterre sei Bellanger. Die graue Eminenz Grémond stelle Laurent Bouvet dar, der 2021 mit 53 Jahren an ALS verstarb. Grémonds Vorbild Cormier ist, wenn man den Zuschreibungen Glauben schenkt, Clément Rosset nachgezeichnet.
Bouvet war wie Grémond PS-Funktionär, glühender Anhänger des Laizismus und gründete 2016 die Bewegung des Republikanischen Frühlings, die in ihrem Manifest »die extreme Rechte und den politischen Islamismus« zugleich bekämpfen wollte. Die Parallelen zu Bellangers Dezembristen sind gegeben. Enthoven sieht Bouvet im Buch verunglimpft, falsch und überzogen dargestellt. Er könne sich nicht mehr wehren. Aber auch dieser Vorwurf weist ins Leere, weil Bellanger kein Doku-Drama verfasst hat, sondern eine frei assoziierte Fiktion, zwar angelehnt an historische Ereignisse, aber diese nicht eins zu eins nachzeichnend.
Nach Die letzten Tage der Linken weiß man nur eine Sache ganz genau: Das klassische rechts-links-Schema der Politik greift nicht mehr. Das Hufeisen stürzt den politischen Theoretiker, der von den Sorgen des Wahlvolks weitgehend unbeeindruckt ist, zunächst in Verwirrung, dann in Verzweiflung.
Ein Land wie Frankreich, indem die Zusammenarbeit zwischen Präsident und Parteien immer ein wenig pragmatischer war als in anderen Ländern (Stichwort: Kohabitation), stößt mit der fortschreitenden Aufsplitterung einst großer Volksparteien zu kleinteiliger Klientel- und Minderheitenprogrammatik an die Grenzen der Regierbarkeit. Es reicht gerade noch zu einer Art Konkordanz-Politik gegen den RN. Aber danach muss man zunächst die eigenen Wähler zufriedenstellen. Handlungsfähige Regierungs- und auch Oppositionsarbeit wird damit komplizierter. Auf der Strecke bleiben die Interessen der zum Zuschauen verdammten schweigenden Mehrheit(en).
Ein ähnliches Buch bezogen auf die aktuelle deutsche politische Szenerie scheint kaum denkbar. Das hat zum einen mit der inzwischen arg restriktiven Rechtsprechung in Bezug auf § 188 StGB zu tun. Und zum anderen mit der eher intellektuellen Bescheidenheit des deutschen Politik-Betriebs. Sicherlich nutzen sich auch die französischen Philosophen mit ihren Behauptungs- und Theoriegewittern ab, aber anregender als die Melange aus zumeist sachlich überforderten Haltungsjournalisten, wichtigtuerischen Expertendarstellern und phrasendreschenden Parteisoldaten in deutschen Talkshows dürfte es dort allemal zugehen. Und dann fehlt einem hierzu einfach die Phantasie, wer es schreiben könnte.
Man ist geneigt, Die letzten Tage der Linken als pauschalen Abgesang auf die europäische Sozialdemokratie zu lesen und denkt an die tief zerrissene, sich im Sinkflug befindende deutsche SPD, die sich jedoch mit ihren 16% eine erstaunliche Repräsentationskraft erkämpft hat. Wer vermutlich wirklich seine letzten Tage vor sich hat, ist der liberale Konservatismus, der sich zuletzt vergeblich dem Zeitgeist angebiedert hatte, um in dessen Revier ein paar Wählerstimmen zu wildern. Das misslang. Die Folge ist ein massives Erstarken nationalistisch-reaktionärer Parteien, die vor allem dem drohenden ökonomisch-sozialen Abstieg des Bürgertums, das den Verheißungen sozialistischer Programmatiken keinen Glauben mehr schenkt, thematisieren. Ihnen gegenüber steht eine zunehmend radikalisierte »Linke«, die mit Umverteilungsphantasien aufwartet. So werden Wahlen zu Erwägungen über Skylla oder Charybdis, pardon: Pest oder Cholera. Und irgendwie ist dann Frankreich überall.
Bei der Übersetzung der hier in französisch verlinkten Texte fällt auf, dass Google alle Formen, die mit "laïcité", als Laizität, zu tun haben, durchgängig mit "säkular" übersetzt. Entweder ist dies vorsätzlich oder man hat schlicht keine Ahnung, worin der Unterschied besteht. Letzteres ist ja auch aktuell beim amtierenden Bundeskanzler Merz zu beobachten. ↩