Zunächst gibt es einige Definitionsversuche. Im Sog der Verluste ist er [der Knacks] der Sog heisst es am Anfang ein wenig rätselhaft. Oder: Der Knacks ist ein Schub, der erst im Rückblick wirkt. Unklar bleibt (zunächst), welcher Art der Schub ist. Etwas trennt sich, ermüdet, verliert Farbe, scheitert, gibt auf. Willemsen will den Bruch vom Knacks abgrenzen. Der Knacks tritt eben nicht an die Oberfläche und wird nicht im Schock geboren. Während die Bewegung des Schocks…vor allem in die Tiefe geht, zeigt sich die des Knacks in [der] Fläche. Und später der Unterschied zwischen Knacks und Trauma: Während das traumatische Erlebnis der Narbe vergleichbar ist, erscheint der Knacks als Falte…, die an keinem Tag entstanden, in keiner Situation begründet ist und sich doch durchsetzt als die Signatur der Zeit, allmählich. Der Knacks, diese Diskontinuität einer Person, ist nicht monokausal, er passiert nie aufgrund eines einzigen Ereignisses.
Ermüdungsbruch
Nach einigen Umkreisungen, die nicht immer treffen (Stringenz ist Willemsens Stärke nicht), fällt nach einem Viertel des Buches in einem kleinen Exkurs in die Welt der Technik das entscheidende Wort. Es lautet Ermüdungsbruch. Der Knacks ist ein Ermüdungsbruch, der sich prozessual in das Leben eingefressen hat. Im selbstbewusst werdenden Knacks erscheint nicht das Leben, das geführt wird, sondern jenes, das führt. Er ist eben mehr als nur eine Zäsur. Und er ist irreversibel und grenzt sich damit vom traumatischen Erlebnis ab. Der Knacks ist nicht behandelbar; die Psychoanalyse muss hier versagen. Ein Exorzismus ist nicht möglich. Jetzt dämmert dem Leser: Hier geht es um mehr als ein Posieren im Weltschmerz-Pathos oder einen lockeren Essay eines midlife-kriselnden Mittfünfzigers.
Manchmal widerspricht sich Willemsen allerdings (gewollt?). Etwa wenn er, ein bisschen launig, vom beginnenden Alter spricht: Und dann kommt der Tag, an dem man sich das Alter vorstellen kann, seine Desillusion, seine Bitterkeit, den begrenzten Aktionsradius. An dem Tag beginnt man wirklich zu altern. Der Mensch in einer Flucht von ersten Tagen: Der Tag, an dem man ein Medikament verschrieben bekommt, das man bis ans Ende seines Lebens nehmen muss; der Tag, an dem man das Geländer braucht, um eine Treppe abwärts zu steigen…der Tag, an dem man im Zug den Koffer nicht mehr allein auf die Ablage bekommt…Dann kommt der Tag, an dem man »zu alt« für etwas geworden ist, und es ab jetzt dauernd für irgendetwas sein wird… An solchen Stellen, die wunderbar zitierbar sind (besonders der ebenfalls auf das Alter gemünzte Satz Man wird klüger, aber dümmer), verliert der Autor dann letztlich seinen Gegenstand zeitweilig aus dem Auge. Denn der Knacks, so Willemsen vorher, erscheint immer erst retrospektiv und als Prozess. Die geschilderten Einschnitte sind eher Zäsuren – in der Regel einem Datum zuzuordnen, direkt erlebt und nicht erst erinnert.
Der Knacks ist komprimierte Zeit. Er bahnt sich an, tritt aus der Latenz ins Manifeste, und selbst der augenblickliche Schrecken eines Ereignisses hängt nicht so sehr mit seinem Eintreten als vielmehr mit seiner Anbahnung zusammen. Auf dem Kristallisationspunkt erscheint der Knacks. Und natürlich hat es mit der Beschleunigung zu tun: Der Knacks…ist etwas, das im Zeichen einer beschleunigten Zeit, einer, die Bewegung meint, nicht erscheinen kann. Man sieht aus dem Fenster und erkennt, schwimmend auf der Scheibe, sich selbst, sieht sich im Schrecken: das aller Geschwindigkeit entzogene Spiegelbild dessen, der man nie sein wollte. Die Beschleunigung verzögert nur diesen Blick auf sich selber und in der Geschwindigkeit verwischt der Knacks seine Spur. Und schon Casanova wusste, wie man das Leben »betäubte«, in dem sein Verstreichen durch das Vergnügen unmerklich machte.
Grosse Worte und kleine Miniaturen.
Willemsen kennt sowohl die grosse Geste des auftrumpfenden Gesellschaftskritikers als auch die Miniatur des feinen Beobachters. Sein Loblied auf die Besitzlosigkeit wirkt arg wohlfeil. Und wenn er die Knacks-Metaphorik auf die Gesellschaft, die Medien, Selbstmörder, Sportler, Pornodarsteller, die Stadtarchitektur und Weltraumfahrer angewendet (oder auch verwirft), tritt er manchmal mit arg undifferenzierendem Gestus auf. Etwa wenn er pauschal meint, Astronauten und Kosmonauten seien nach ihrem Raumflug wunderlich, spirituell, unzugänglich geworden, weil der Anblick der Schöpfung…ihr Knacks geworden ist. Oder wenn er Heimat (in anderem Zusammenhang) immer als Inbegriff des Verlorenen sieht. Gelegentlich scheut er auch vor dem Pathos nicht zurück, wenn er postuliert, dass dort wo früher die Seele saß, heute der Knacks zu Hause ist. Oder es wird ein bisschen kryptisch: Im Knacks…verdichten sich die Ereignisse, die nicht vorhanden sind.
Zarter und eingänglicher sind da die Splitter, Miniaturen, Mutmaßungen und Andichtungen. Das Kreisende um und mit dem Knacks wird episodisch und gleichnishaft, wie zum Beispiel hier:
»Dufte nicht so«, sagt der langjährige Freund, als die Freundin ausgehfertig aus dem Badezimmer kommt.
»Es sind Lockstoffe«, sagt sie kokett.
»Es ist eine Überdosis an chemischen Informationen!«
Als sie ein Jahr später getrennt sind, kann sie sich nicht mehr erinnern, wann und warum ihre Trennung begann. Aber sie duftet nicht mehr.
Und es wird auch mit grossen und wuchtigen rhetorischen Mitteln Kulturkritik auf höchstem Niveau praktiziert. Man ist erstaunt, über welche Beobachtungs- und Urteilsgabe Willemsen verfügt, der im Gesicht einer Frau während einer Bahnreise nicht nur ihre aktuelle Lebenslage beschreiben kann, sondern auch zielsicher den Knacks zu orten vermag. Lässt sich der Leser aber auf diese literarische Allwissenheit ein, so kommt er in den Genuss sehr anregender und oft genug vergnüglicher Aperçus.
Willemsen erkennt dabei durchaus das Dilemma des in der Moderne lebenden Menschen. Er soll ein Individuum sein, sich aber nicht unterscheiden. Er entdeckt, dass der grössere Schaden in der Gegenwart wohl nicht von dem aus[geht], was Menschen tun, sondern was sie geschehen lassen. Aber auch Glück oder Erfolg bleiben schal. Man scheitert vor dem Erfolg, erleidet in ihm seine Niederlage, vielleicht, weil es kein Ankommen gibt in der Umarmung. Was bleibt ist Hedonismus oder Zynismus oder Depression und schliesslich Selbstmord, denn gegen die Erosionen der Aufklärungs- und Bildungsideen, die den »neuen Menschen« suchten, setzt die Gegenwart den multiplen, den ironischen Charakter oder den schieren Menschen des Werbebildes, der in jedem Augenblick auf der Höhe seiner Vollkommenheit existiert. Es wird später erst klar, wie ernst es dem Autor damit ist.
Der Knacks, verkannt zu sein.
Scheinbar selbstkritisch wird auch vermerkt: Das Schreiben bietet die beste Möglichkeit, sich der eigenen Dummheit zu vergewissern. Dauernd stösst der Schreibende auf Dinge, die er nicht sein, nicht sehen, nicht auf den Begriff bringen kann. Es gibt einen Moment des Erwachens in dieser Erfahrung, den Augenblick, in dem sich dieser Schreibende seines Scheiterns vergewissert und vom missglückten Satz zum schadhaften Werk, zur mangelnden Person, zum nichtgeführten Leben kommt. Der Knacks des Autors, so Willemsen: verkannt zu sein. (Ob man das so genau wissen will?)
In ihrer Schönheit zeigt diese Sentenz allerdings exemplarisch, worin manchmal das Problem des Buches, speziell dieser Stellen, liegt: Willemsen schreibt dies so, als möchte er Widerspruch provozieren. Wie alle Melancholiker hofft er auf den rettenden Einspruch, die zündende Widerlegung, die flammende Gegenrede – was aber unterbleibt. Plötzlich erscheinen all die literarischen Zeugen, mit denen sich Willemsen umgibt wie Vergewisserungen der eigenen Versehrtheit: natürlich Scott Fitzgerald (»The Crack-Up«), aber auch Josef Roth (»Flucht ohne Ende«), Joseph Conrad (»Schattenlinie«) und Franz Kafka (die Gegenseite, beispielsweise Tennessee Williams, bekam keine Ladung; manchmal kann es ein Fehler sein, nur Freunde eingeladen zu haben).
Leider wird nicht ausgeführt, ob der Knacks ein singuläres Phänomen ist oder ob im Laufe des Lebens mehrere »Knackse« (aus unter Umständen unterschiedlichen Lebensabschnitten kommend – Beruf, Partnerschaft, Umwelt) »erworben« werden können. Indem Willemsen den Knacks auch auf Gemeinwesen anwendet und sozusagen kollektiviert, werden mehrere »Knackse« im Laufe des Lebens denkbar. Aber ist dies auch gemeint? Oder ist DER Knacks DER richtungsweisende Ermüdungsbruch im Leben des modernen Menschen (meistens ist es übrigens ein Mann)? Und auch nur am Ende wird deutlich: Hier beschreibt jemand ein Phänomen der Moderne, des modernen (oder postmodernen) Menschen, der mit Glücksverheissungen und –versprechungen irgendwann überfordert zu sein scheint. Ein Tuarag oder ein Bewohner der mongolischen Steppe dürfte dieses Buch wohl höchstens als Science-Fiction-Roman lesen oder kopfschüttelnd beiseite legen.
Und gelegentlich scheint der Knacks eine allzu voreilig eingesetzte Diagnose eines schwermütig-hypochondrischen Zustandes zu sein, etwa wenn davon die Rede ist, der Mensch erlebe im Knacks seinen Kurssturz oder mit der Katastrophe von Tschernobyl sei die Aussenwelt von etwas erreicht, das man als Knacks bezeichnen könnte. Das schlägt auch einmal in (unfreiwillige) Komik über, etwa wenn Konsumkritik dahingehend betrieben wird, dass Produkte eine apokalyptische Welt herbei [halluzinieren], die gleich hinter dem Knacks liegt.
Das Buch ist ernst gemeint. Und es ist ernst.
Wunderbar allerdings die Ausführungen zum Knacks in der Kunst. Anhand der fortlaufenden Restaurierungen von Leonardos »Abendmahl« stellt Willemsen fest, dass man inzwischen ein Original sieht, auf dem es nichts Originales mehr gibt. Goyas berühmtes Diktum »Auch die Zeit ist ein Maler«, mit dem er dem König von Spanien die Restaurierungsarbeiten von Gemälden ablehnte, führt Willemsen auf das »Abendmahl« fort: Wäre es also nicht der zumindest wahrhaftigste Zugang zu Leonardo gewesen, man hätte ihn der Zeit übergeben und sein Verschwinden als genuin künstlerischen Akt verstanden? Dann wäre Leonardo der Maler gewesen, der den Knacks gemalt und durch ihn den Tod in das Werk hätte eintreten lassen.
Bei aller Lockerheit und auch obwohl Willemsen keine wissenschaftliche Schrift abliefert: Das Buch ist ernst gemeint. Beispielsweise dann, wenn ausgesprochen klug und empfindsam über die Todessehnsucht von Kindern geäussert wird: Einerseits wird…der Verlust antizipiert, den das eigene Verschwinden in der Mitwelt auslösen würde, andererseits überantwortet sich das Kind in der Idee des selbstgewählten Todes der Hoheit dieses Todes und wird darin souverän.
Oder wenn er am Schluss des Buches in einem beeindruckenden Kapitel fern jeglichen Rührkitsches vom Krebstod einer guten Freundin erzählt. Mehrdeutig seine Erzählung von der Beerdigung der Frau und dem Zusammenstehen der Freunde am Grab: Wir tauchten aus Monaten der Tränen, des Mangels und der Angst auf und blickten uns immer noch ungläubig an, in der Hoffnung, der Wirklichkeit doch noch für eine Zeitlang ausweichen zu können. Und wenn nach all den vorher im Buch getätigten Thesen und Ausführungen über den Selbstmord (oder auch Freitod; Willemsen verwirft diesen Begriff allerdings) plötzlich ein Satz wie Der Tod ist zu wichtig, um sich ihm gegenüber auf das Gewährenlassen einzustellen zu lesen ist, dann stockt dem Leser der Atem und so manch saloppes Bonmot der zurückliegenden mehr als zweihundertfünfzig Seiten zoomt man sich nochmals heran, um es etwas genauer zu betrachten. Etwas, es ginge irgendwann nur noch darum, den Knacks zu kitten. Also im Kern handele es sich um Überlebensversuche.
Am Ende hat man den Eindruck, Roger Willemsen führt uns zurück in die Welt des Fatums, des letztlich unentrinnbaren Schicksals, denn dem Knacks entkommt man in unserer Zivilisation nicht. Er ist zwar nicht dezidiert negativ konnotiert, aber er »programmiert« uns und ist unwiderruflich. Die Kenntnis über ihn, die Selbstreflexion oder Selbstvergewisserung, heben seine Wirkung nicht auf; lindern noch nicht einmal. Er ist damit tückischer als alles andere, inklusive das, was man landläufig Depression nennt.
Man ist geneigt, das Buch in das Feuilleton-Regal zu stellen. Aber die Suche nach dem Knacks lässt einem nicht mehr los. Und mit ihm das Fragen.
Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Das war lohnenswert zu lesen!
(Zumal ich mir angewöhnt hatte, diesem Menschen eher auszuweichen. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, warum.)
Danke (wenigstens ein Leser, denke ich jetzt).
Ich mag Willemsen eigentlich. Aus zwei Gründen: Ertens wegen »Willemsens Woche« Mitte der 90er Jahre und seinem Interview mit Madonna. Er fragte die Dame, ob sie gut küsse. Dies verstörte Madonna – ausgerechnet sie, die keine laszive Geste auf der Bühne scheut, war empört. Der zweite Grund ist Willemsens Polemik gegen Karasek. Die war so giftig, dass er (Karasek) mir fast schon leidtat (nur kurz).
Den »Literaturclub« hat er dann schlecht moderiert (er schwätzte einfach alle anderen Diskutanten in den Boden).
Lieber Gregor, die Generation ‘Knacks’ geht ihren Weg bis zum bitteren Ende. Es ist meine Generation! – Diese Tatsache und Ihre Rezension machen mir Lust , das Buch zu lesen. Danke!
Ja, »Generation Knacks« – das klingt gut.
(Aber – mit Verlaub – wie wollen wir dann unsere Eltern und Grosseltern nennen?)
Ich habe bislang schon nicht die Vorbehalte gegen Willemsen verstehen können. Ich hielt ihn immer für klug, belesen und wortgewandt. (Und für seine manchmal etwas klagend klingende Stimme kann er nichts....): LG tinius
Die klagende Stimme lässt mich überlegen, ob ich den Gedanken, zu einer Lesung von ihm zu gehen, nicht doch verwerfen soll.
Vielleicht lädt er mich aber auch ein (was eigentlich vollkommen unwahrscheinlich ist, da er das hier niemals lesen wird).
Also so, wie mir Willemsen jetzt dargebracht wird, wird er als eigener, originellerer Kopf erkennbar, während ich ihn bisher er in intellektuellen Mittellagen kannte.
(Die angesprochenen Sendungen bzw. die Zwiste kenne ich alle nicht. Da, wo ich ihn mal gesehen habe – ich kann mich gar nicht dran erinnern -, war er mir unter all den eloquenten Talking Heads nicht weiter aufgefallen. Aber wieso sollte er sich nicht entwickeln... bzw. ich.)
Und @ G.K.: Kann es sein, dass Sie bei dem Buch persönlicher angegangen wurden? Mir scheint es immer öfter, dass merkt man Rezessionen dann auch an: nicht nur in den Quanten an Sympathie für eine Sache, sondern auch in den Details und ihren Gewichtungen wie divers man eine Sache durchdrungen hat. Das gäbe es dann eine Entsprechung. Klingt zwar erst mal banal und nahe liegend, ist aber in meiner Wahrnehmung von Rezessionen nicht die Regel.
(Interessant jetzt die Reaktionen auf die Büchnerpreisrede Winklers: Mir scheint, man kann immer gleich noch viel mehr daran ablesen, als was eigentlich referiert wird.)
Willemsen ist nur ein Tick älter als ich; ausser dem Geschlecht entdecke ich sonst keine Parallelen mehr. Ich glaube dennoch, dass es irgendwann so etwas wie ein Generationenerleben gibt, auch wenn es sich nicht an den Lebensläufen festmachen lässt (die divergierend sein können). Ich glaube auch, dass die Prägungen, die wir (fast wörtlich) mit der Zeit erhalten, stärker sind, als wir gemeinhin annehmen.
Um es klar zu sagen: Ich nehme stark an, dass es beim in der Noderne lebenden nicht bei einem »Knacks« bleibt; es sind immer mehrere. Das Phänomen finde ich originell, weil es das hysterische und alarmistische eines »Trauma« nicht hat. Gleichzeitig – und das ist perfide – ist der Knacks wirkungsmächtiger als ein Trauma, weil er beispielsweise, nach Willemsen, nicht behandelbar ist. Interessant wäre herauszufinden, wann der Knacks zum Bruch wird, aber das unterlässt der Autor (weil er doch eher dem Feuilleton zugewandt ist). Auch die Überlebensstrategien nach dem Knacks (den Knacksen?) kommen zu kurz: dieses Arrangieren mit dem Makel; der Desillusionierung. Dieses Fehlen einer stringenten Strukturierung ist einerseits schade, andererseits wird dadurch das Phänomen nicht sofort kaputtdefiniert.
Tja, das mit dem Persönlichen scheint also ein Problem zu sein. Oder zu werden. Aber ich gebe zu bedenken: Ich schreibe keine Rezensionen. Ich will gar keine schreiben. Ich verwende für meinen Blog einen Begriff aus einer Handke-Sentenz: Begleitschreiben. Und das ist nicht nur einfach ein anderes Wort, ein Synonym.
Natürlich sollen das hier keine persönlichen Befindlichkeitsaufsätze sein. Wäre dies der Fall – oder würde es inzwischen soweit sein, dann müsste man (ich) sofort aufhören. Und natürlich ist es ein Stück weit notwendig Distanz zum Buch, zum Sujet, zum Autor zu halten (im positiven wie im negativen Sinne). Aber das ist nur in Grenzen möglich bzw. – und davon bin ich überzeugt – auch in Grenzen nur wünschbar. Die »coole« Rezension der F.A.Z. über Handke oder Strauß ist es ja auch nicht. Sie simuliert das nur.
(Die Büchnerpreisrede Winklers habe ich noch nicht gelesen. Ich habe nur eine Reaktion mitbekommen, die sinngemäss meinte, es sei langweilig. Auch das erscheint mir wieder bezeichnend: Wenn das Feuilleton für seine Scharmützel kein Futter bekommt, reagiert es inzwischen schon gelangweilt. Auch hier nur zählt nur noch der Affekt. Wenn jetzt Kiefer als Friedenspreisträger schon nichts Skandalöses geliefert hat, dann wenigstens Winkler. Und wenn der nicht – was dann? Naja, es gibt doch noch Broder. Wo ist der eigentlich geblieben? Hält der Bush das Händchen? Niemand weiss es.)
Ich habe die ersten paar Bücher Willemsens gelesen; aber von Mal zu Mal leider mit weniger Gewinn. Dieses hier hab ich (noch) nicht.
Auch seine frühen TV-Sachen hab ich gerne gesehen, er traute sich was (den FOCUS-Chef auseinander genommen, mit Fakten! Fakten!! Fakten!!!).
Und Frau Ushida, wie sie Mozart (oder wars Schubert?) gespielt hat, und wie er sie wundervoll vorgestellt hat, das hat mich auf diese wunderbare Pianistin erst aufmerksam gemacht.
Willemsens Auftritt bei Charlotte Roche allerdings erschien mir dagegen etwas peinlich. (TV hat’s aus gutem Grund verweigert, es war also nur »unter der Hand« bei YouTube zu sehen).
Ich bin also ambivalent zu ihm.
Den Auftritt habe ich nicht gesehen, aber ich gebe Ihnen Recht: Manchmal wirkt Willemsen in der Fernsehlandschaft deplatziert. Wie ein intellektuelles Feigenblatt, der auch immer brav seine Sprüchlein aufsagt. Dann tut er mir leid. Auf seiner Homepage gibt es eine Menge Termine. Er geht auf Lesereise. Und es gibt auch Fernsehauftritte. Schau’mer mal.
–
Das mit Markwort hatte ja neulich ein Nachspiel. Willemsen hatte (glaube ich) bei SpOn nochmal behauptet, der »Focus« habe ein altes Jünger-Interview seinerzeit als neu herausgebracht. Ein Gericht schritt ein; die Behauptung war unwahr. Willemsen (und auch SpOn) wurden verurteilt.
apropos Knacks
Ich brachte ihn bis jetzt immer in Zusammenhang mit den Kindern der am und für den 20ten
Juli Beteiligten. Das fiel mir mit der Zeit auf, aber vielleicht trifft es auf die
ganze »generation« der in der Hitlerzeit geborenen zu, aber das stimmt auch nicht
wenn ich an all die frisch fröhlichen Knaben
und Mädchen denke die da vollkommen unbetroffenen davongekommen sind. Aber hinter dem »Knacks« liegen schon Traumata, oft von langjähriger Dauer. Heilbar schon, aber der Riss öffnet sich auch leicht wieder,
die Narbe geht wieder auf, eine schlecht geheilte Narbe wäre noch eine Definition
Interessanter Versuch, Trauma und Knacks zu einer Synthese zu bringen. Willemsen schliesst das definitiv aus, was aber nicht heissen muss.
Philosophisches Radio
Am Freitag war Willemsen in der Sendung Philosophisches Radio im WDR5 zu hören. Eine Sendung, die sich einem gesetzten Thema durch die Vorstellung durch Jürgen Wiebicke und einen Gast oder den Hausphilosophen und anschließender Diskussion mit dem Experten UND Hörern nähert. So sehr mich die Themen häufig interessieren, bereiten mir die Anrufe der Hörer meist körperliches Unwohlsein. Anhören kann man sich die Sendung hier (ca. eine Stunde).
Wie immer kam mir Willemsen wie eine stark gewürzte Speise vor, die auf den ersten Eindruck sehr schmackhaft ist, dann aber so aufdringlich wird, dass sie fast abstoßend erscheint. Auch hatte ich wieder das Gefühl das Willemsen seine Arbeiten wie ein Komponist beherrscht. Aus einem guten Thema macht er auch eine gute Sonate, wobei das Handwerkliche fast mehr im Rampenlicht steht, als der musikalische Gehalt. Aber das ist wohl seine Art. Insgesamt aber ein interessanter Gedanke mit viel Betroffenheitslyrik.
Danke für den Link. Deine Einschätzung teile ich zum grossen Teil. Peinlich wird es da, wo die Sendung in Lebenshilfe abdriftet und Aussagen der Hörer, die definitiv nicht Willemsens Knacks-These treffen, von ihm noch entsprechend umgebogen werden. Einmal sagt der Moderator fast hilflos, dass er seine eigene Lektüre nicht mehr wiederfindet (ca. bei 28 Min). Er sprach mir da aus dem Herzen.
Das Buch ist wohltuender. Ich möchte es fast empfehlen.
Hier einiege Pschoanalytische links zum Knacks...Meldung an Berliner Blätter für Psychoanalyse und Psychotherapie http://www.bbpp.de Widerstreitende Schulen, die sich untereinander ein komplexes System wechselseitiger fachlicher Abneigungen und Anerkennungen leisten, machen die therapeutische Praxis für bedürftige Laien erst recht undurchschaubar. Seele in Not Von Harro Albrecht | © DIE ZEIT, 13.11.2008 Nr. 47 Ein Knacks in der Psyche – und ein langer Leidensweg beginnt: Viele Patienten verlieren sich im Dickicht der Therapiekonzepte. Ärzte arbeiten nicht zusammen, Kranke werden stigmatisiert. Ein Hamburger Projekt zeigt, wie es besser geht ….. Weiter: http://www.zeit.de. de/2008/47/PS-Psychiatrie
Meldung an
Berliner Blätter für Psychoanalyse und Psychotherapie
http://www.bbpp.de
Widerstreitende Schulen,
die sich untereinander ein komplexes System
wechselseitiger fachlicher Abneigungen und Anerkennungen leisten,
machen die therapeutische Praxis
für bedürftige Laien erst recht undurchschaubar.
Seele in Not
Von Harro Albrecht | © DIE ZEIT, 13.11.2008 Nr. 47
Ein Knacks in der Psyche – und ein langer Leidensweg beginnt:
Viele Patienten verlieren sich im Dickicht der Therapiekonzepte.
Ärzte arbeiten nicht zusammen, Kranke werden stigmatisiert.
Ein Hamburger Projekt zeigt, wie es besser geht …..
Weiter:
http://www.zeit.de. de/2008/47/ PS-Psychiatrie
roger willemsen ist mir bis jetzt nur aus seiner, in den 90er jahren ausgestrahlten fernsehsendung »willemsens woche« bekannt und
damals hat mich seine art, interviews zu führen, sehr fasziniert.
die gerade gelesene rezension seines buches »knacks«, hat mich wirklich neugierig gemacht und ich werde mir das buch besorgen.
herr willemsen würde gut daran tun, ihre zeilen, herr keuschnig
zu lesen, denn besssere werbung kann er sich [meines erachtens]
nicht wünschen.
liebe grüße
Danke für das Kompliment.
(Er wird das sicher nicht lesen. Und sein Auftritt gestern in »3 nach 9« – er bekam um 23.30 Uhr rd. 9 Minuten Zeit – ist weit effizienter als mein Geschreibe.)
Rinke-Preis 2009 für Roger Willemsen
Roger Willemsen erhält für sein Buch Der Knacks (S. Fischer Verlag) den diesjährigen Rinke-Preis. Die „Guntram und Irene Rinke Stiftung“ ehrt damit Texte, die das Lebensgefühl des vergangenen Jahres in sprachlich überzeugender Form darstellen. „Roger Willemsens Buch macht uns bewusst, was viele von uns bisher nur spürten. Gerade im Krisenjahr 2008 hat das Lebensgefühl vieler Menschen einen weiteren Knacks erfahren“, begründet der Vorstandsvorsitzende der Stiftung, Hanno Rinke, die Entscheidung der Jury.
Danke für den Hinweis
Der Preis ist ihm zu gönnen, wenngleich der zitierte Satz von Herrn Rinke in zweifacher Hinsicht bemerkenswert ist. Zunächst glaube ich nicht, dass eine Verbindung von Willemsens Buch (bzw. dessen Intention) zum »Krisenjahr 2008« besteht und zum anderen ist das mit dem »weiteren Knacks« interessant, da R. W. mindestens offen lässt, ob es mehrere »Knackse« gibt.
Sehr – um das abgegriffene Wort zu verwenden -, interessant. Und ein Satz der unter die Haut geht: Und schon Casanova wusste, wie man das Leben »betäubte«, in dem sein Verstreichen durch das Vergnügen unmerklich machte. Das erinnert mich an eine kurze Diskussion bei/mit ANH, die Du aber vielleicht kennst.
Der Knacks hängt offenbar mit der Moderne zusammen; vielleicht auch mit dem Verlust von etwas, dessen man sich sicher wähnte; ich meine mit dem was man erfülltes Leben nennen könnte, etwas das selbst wir moderne Menschen – wenn vielleicht in abgeschwächtem Verständnis – suchen, und das auch an der Sinnfrage hängt. Der Knacks ist vielleicht nichts weiter, als die Erkenntnis, dass genau das schiefgegangen ist, wir es aber nie bemerkt haben, und erst in der Rückschau erkennen.
[Der Knacks könnte die Moderne selbst sein, die Unmöglichkeit der unbedarften Anschauung, die stete Infragestellung dessen, was man erlebt, oder erlebt hat, und damit die Unmöglichkeit unbedarfter Erfahrung, die Unmöglichkeit einfach glücklich zu sein, ohne das sofort wieder in Frage zu stellen.]
ich kam beim Lesen bis zur Seite 70. Dann hatte ich aus einem
mir unerklärlichen Grund das Bedürfnis das Werk zuzuklappen
und wegzulegen. Nun denke ich, das ich mit 34 Jahren vielleicht
noch etwas zu jung bin, um die Sinngebung dieses Buches verstehen zu müssen. Werde mir lieber selbst ein Urteil über die
Vergänglichkeit meines Sein bilden und in 30 Jahren das Werk weiterlesen.
Danke für diesen Kommentar. Ich bin merkwürdigerweise überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, dass dieses Buch erst für eine Alter ab ca. 40+ relevant sein könnte, obwohl es schon in einem vorherigen Kommentar mit der »Generation Knacks« anklang.
Die Texte auf diesem Blog zeigen eine ähnliche Gefährlichkeit, wie sie Antiquariate für mich bedeuten. Es ist sehr schwer, ein Buch nicht zu kaufen, wenn es hier beschrieben ist.
Ich lerne aber mich zu beherrschen. Nachdem ich mittlerweile zu den Leuten gehöre, die lange Beiträge schreiben aber nicht lange Beiträge lesen wollen, ( :) ) fällt es mir etwas leichter, manchmal längere Zeit nicht hier herein zu schauen. Das ist reiner Selbstschutz.
Auch dieses Buch würde mich interessieren. Selbstverständlich.
Und dann kommt der Tag, an dem man sich das Alter vorstellen kann, seine Desillusion, seine Bitterkeit, den begrenzten Aktionsradius. An dem Tag beginnt man wirklich zu altern. Der Mensch in einer Flucht von ersten Tagen: Der Tag, an dem man ein Medikament verschrieben bekommt, das man bis ans Ende seines Lebens nehmen muss; der Tag, an dem man das Geländer braucht, um eine Treppe abwärts zu steigen…der Tag, an dem man im Zug den Koffer nicht mehr allein auf die Ablage bekommt…Dann kommt der Tag, an dem man »zu alt« für etwas geworden ist, und es ab jetzt dauernd für irgendetwas sein wird…
Die Hervorhebung dieses Zitats allerdings bietet genügend Selbstschutz. Einige Dinge treffen zu. Aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich vielleicht kein blutdrucksenkendes Medikament nehmen müsste, wenn ich mich aufraffen könnte, abzunehmen. Und es gibt ältere Menschen, für die alle diese Einschränkungen nicht zutreffen.
Und – das betrachte ich als wesentlich – es gibt auch Dinge, die man endlich erst tun kann, weil man so alt geworden ist. Ein Beispiel wäre das stundenlange Üben am Klavier, obwohl es nicht sicher gestellt ist, ob man das Stück ge spielen wird. Es treten keine opportunity costs mehr auf.
Im Wesentlichen geht es aber doch nur darum, ob es etwas gibt, an dem man sich freuen kann.
Da gibt es doch so vieles. Und heute kann ich mir einen Opernbesuch leisten, für den ich vor 20 Jahren viel zu geizig gewesen wäre.
Vielleicht gibt es einen Knacks. Ich glaube auch, dass ich ihn schon erlebt habe. Doch er war sanft und wird im Nachhinein als unheimlich wohltuend empfunden. Ich stimme allerdings der Aussage zu, dass man für das Buch wohl ein gewisses Alter erreicht haben sollte.
Die Sache mit der Gefährlichkeit nehme ich mal als Kompliment. Nun lesen hier ja nicht so viele, dass dies ins Gewicht fallen würde. Im übrigen bekomme ich auch keine Provisionen von den Verlagen...
Ich kann aber nicht umhin, Dir dieses Buch trotzdem zu empfehlen.
Der Empfehlung hätte es gar nicht bedurft. Dein Artikel war bereits genügend Empfehlung:)