Michael Spreng erläutert auf seinem Blog das »Prinzip Hannover« und »Wulffs Biotop« ganz genau. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Formal hat Wulff damals den niedersächsischen Landtag nicht belogen, als er den Kredit der Unternehmensgattin Geerkens für sein Haus verschwiegen hatte. Aber die Entrüstung vor allem in der oppositionellen politischen Klasse ist dennoch hoch: Wulff habe »getäuscht« heißt es da. Chefankläger Oppermann von der SPD, der sich im Ereifern gegen Ex-Bundespräsident Köhler schon hervorgetan hatte, meinte diesmal etwas diplomatischer, diplomatisch Wulff habe wohl nicht vollständig die Wahrheit gesagt.
Ich gestehe: Ich halte dieses Verhalten eines Bundespräsidenten für unwürdig (auch wenn er es verbrochen hatte, als er noch nicht Bundespräsident war). Christian Wulff als Bundespräsident ist eine Schande für dieses Land. Er hat jegliche moralische Autorität dauerhaft eingebüßt. Und es ist genau diese moralische Autorität, die ein im Prinzip fast machtloser deutscher Bundespräsident in die Waagschale werfen kann.
Die Sache hat nur einen Schönheitsfehler: Alle, die sich derart entrüsten, vergessen ein bisschen arg schnell den Urheber dieser Enthüllung. Es ist die »Bild«-Zeitung. Und hierin liegt eine gewisse Brisanz: Wulffs Äußerungen in seiner viel beachteten und kontrovers diskutierten Rede am 3. Oktober 2010 (»der Islam gehört...zu Deutschland«) passten nicht in das politische Konzept der »Bild«, die einer der Beschleuniger des Sarrazinismus gewesen war. Wulffs Weltoffenheit war auch innerhalb der Union nicht ohne Widerspruch; nach der Rede benutzte der CDU-Fraktionschef Volker Kauder die »Bild«-Zeitung, um die Wulff-Rede in seinem Sinne zu interpretieren. Kritik kam damals auch aus Reihen der CSU (auch vom späteren Innenminister Friedrich) – und immer wieder gerne in »Bild«.
Man sollte sich bei aller berechtigten Empörung über Wulffs Versteckspiel auch fragen, warum ausgerechnet jetzt diese Causa durch »Bild« publik wird. Wer hat grünes Licht gegeben? Wer hat ein Interesse daran, Wulff als moralische Instanz dauerhaft wirkungslos zu machen?
Fast nebenbei ist dieser Skandal ein Beispiel dafür, wie willig sich Journalisten um einer guten Schlagzeile willen auch von denen einspannen lassen, die man ansonsten nur mit spitzen Fingern anfassen möchte.
Gregor Keuschnig
Das Verhalten des damaligen Ministerpräsidenten war nicht in Ordnung. Dass er das selbst so gesehen haben muss, zeigt ja sein Verhalten unmittelbar der Anfrage. Er löste den privaten Kredeitvertrag auf und holte sich Geld von der Bank, wie es auch der normale Bundesbürger machen muss.
Ich halte ihn deshalb nicht für einen unwürdigen Präsidenten oder eine Schande für das Land. Da wird doch der Anlass überbewertet und zu hart beurteilt.
Etwas ganz anderes ist die Kritik an den Kritikern, die übersehen hätten, wer diesen Fall publik gemacht hat. Diese Haltung, der Bote ist der Böse und nicht die Nachricht, ist doch erst recht heuchlerisch. Ich bin gewiss ein absoluter Gegner dieser Zeitung und habe und werde sie nicht kaufen oder lesen, trotzdem werde ich nicht eine Nachricht, nur weil sie in »Bild« stand, anders bewerten als wenn sie im »Spiegel« oder in der »FAZ« gestanden hätte. Ich überlege einen Moment länger, was damit bezweckt wird, aber die Nachricht an sich wird davon nicht tangiert.
Ich bewerte die Nachricht auch nicht anders, »nur« weil sie in Bild stand. Das habe ich gar nicht geschrieben und abermals unterstellen Sie mir eine Haltung, die ich überhaupt nicht eingenommen habe. Ich weiss langsam nicht mehr, wie ich diesen Verdachtsstürmen entgehen kann.
Noch einmal zum Mitschreiben:
1. Die »Bild« verfolgt einen Zweck mit dieser Veröffentlichung: eine ihr politisch nicht genehme politische Figur wird beschädigt. Wenn man Sprengs Blog liest (insbesondere die Anekdoten) bekommt man einen Einblick, wie auch Boulevard-Medien ihre Informationen sehr gezielt setzen und – wenn es ihnen gefällt – nicht veröffentlichen. »Bild« hätte nie Guttenberg angegriffen. Und »Bild« hielt auch zu Köhler. Aber Wulff ist – aus den genannten Gründen – zur Jagd freigegeben.
2. Es ist interessant, wie Journalisten und auch Leser, die sonst die »Bild« und deren Journaille nur mit spitzen Fingern anfassen, plötzlich diese Meldung distanz- und kritiklos vereinnahmen, ausschlachten und weiterspinnen. »Bild« wird damit – wahrlich nicht zum ersten Mal – als investigatives Medium kanonisiert. Das hat mit Heuchelei zu tun.
3. Ein Bundespräsident, der ein solches Gebaren an den Tag legt und sich auf juristische Spitzfindigkeiten herausredet (»Wulffs Sprecher hatte am Dienstag nach Bekanntwerden der Vorwürfe gesagt, der Kredit stamme aus dem Privatvermögen von Edith Geerkens. Deswegen habe Wulff korrekt geantwortet, dass zu Egon Geerkens keine geschäftliche Beziehung bestanden habe«), hat seine moralische Potenz verloren. Er ist zwar kein Lügner, aber nicht sehr weit davon entfernt.
Zurücktreten wird Wulff nicht – dafür hat keinen Schneid. Aber ist jetzt unwiderruflich geschwächt; seine Sonntagsreden haben den Wert von Altpapier, sein Gehabe birgt in Zukunft den Keim der Lächerlichkeit. Behörden sollten sein Bild abhängen. Zu einem solchen Mann kann man nicht aufschauen.
Damit ist dann auch Wulffs »fortschrittlicher Konservatismus« (Geschieden; Multi-Kulti-Denken) irreparabel beschädigt.
Schande finde ich einen etwas zu starken Begriff, Peinlichkeit trifft es für mich eher. Aber da unterscheiden wir uns vermutlich nur graduell in der Bewertung. Zur Rolle der Bild-Zeitung: Ich hatte mir auch schon gedacht, dass da eine gezielte Kampagne gefahren wird – wegen Wulffs liberalen Äußerungen und Haltungen (die ich an ihm schätze, genauso wie seine Unfähigkeit, Ruck-Reden zu halten). In meinen paranoischen Momenten kann ich mir sogar vorstellen, dass da zur Befriedung des reaktionär-konservatvien Lagers in der CDU/Wählerschaft ein Posten im Austausch für die Zustimmung zum ESM / Eurobonds freigeräumt werden soll.
Gregor Keuschnig
Ohne mitgeschrieben zu haben, Sie lesen bei mir stets Kritik an Ihrer Person oder explizit an Ihrer Argumentation, die ich so nicht geäußert habe. Meine Frau pflegt in solchen Fällen stets zu sagen, wem der Schuh passt, der zieht ihn sich an.
Hätte ich explizit Sie und nur Sie gemeint, hätte ich doch geschrieben »Ihre Haltung«. Geschrieben habe ich aber »diese Haltung« und meinte viele Kommentatoren, die es so äußerten. Dass auch Sie sich nicht so fern dieser Haltung bewegen, kann man, glaubte ich, Ihrem Beitrag entnehmen. Trotzdem eine große Differenz zu Ihrer Lesart meines Beitrags, es war keine explizite Kritik von mir.
Warum »Bild« dies jetzt publik macht, weiß ich nicht, man kann nur spekulieren. Aber beschädigt ist durch diese Handlung nicht unbedingt sein Ansehen als Bundespräsident. Für mich ist dieses Ansehen viel eher durch die Art und Weise, wie A. Merkel diese Personalie nach dem Rücktritt Köhlers gelöst hat, beschädigt worden. Erst wird gestreut, Frau von der Leyen soll es werden, dann wird einer der letzten Rivalen für Frau Merkel entsorgt. Dieses Geschacher hat dem Amt mehr geschadet als diese peinliche Affäre.
Wenn man bei der bisherigen juristischen Verteidigungsstrategie seitens des Amtes bleibt, dann allerdings wird es weiter beschädigt und auch Wulf als Autoritätsperson, soweit er überhaupt noch über diese Autorität verfügt.
@Norbert: Als Unbeteiligter hätte ich es aber auch ähnlich aufgefasst. Isoliert muss dieser Satz sich nicht auf den Blogtext beziehen, da haben Sie recht. Allerdings kritisieren Sie gleich im Anschluss die Kritik an der Bildzeitung und die wurde im Beitrag ja ebenfalls geübt. Die Beziehung stellen Sie also schon selbst her, wie Sie jetzt auch bekräftigen (»Dass auch Sie sich nicht so fern dieser Haltung bewegen, kann man, glaubte ich, Ihrem Beitrag entnehmen.«) – Insofern haben Sie selbst den Beitrag in die Nähe einer Haltung gerückt, die Sie als heuchlerisch bezeichnen. Nun, nachdem man den Weg mit Schuhen gepflastert hatte, so dass der Blogherr nicht umhin konnte darüber zu stolpern, dies auch noch als Indiz zu nehmen, der Blogherr ziehe sich den Heuchlerschuh ja selbst noch an. Ne.
[Dies nur von der Seite. Zum Thema habe ich nichts beizutragen – wenn Frau Merkel schon die offizielle Rückendeckung verkündet hat, kann der Rücktritt ja eigentlich nicht mehr so weit sein. Schade um die Wulffs-Kolumne in der Titanic.]
@Phorkyas
Die Wendung mit den Schuhen und dem Pflastern finde ich lustig und doppeldeutig, also schön. Lassen wir sie doch als besänftigendes Schlusswort stehen.
@Norbert
Ich weiss nicht, wie ich Ihnen noch klarmachen soll, dass Sie mich bitte mit den Kommentaren, die rein gar nichts zur Sache beitragen, sondern lediglich eine rabulistische Pseudo-Kritik darstellen, verschonen wollen. Ich glaube, Sie werden bei zeit.online oder faz.net ausreichend Gelegenheit dafür finden, die bezahlten Schreibknechte mit Ihrer »Schuhe-anziehen-passt-schon«-Logik zu traktieren. Diese Foren sind auch nicht so rachitisch wie dieser Blog hier.
@Gregor Keuschnig
Wuh, das ist aber starker Tobak. Ich werde mich aber daran halten, Ihr empfindliches Selbstbewußtsein nicht mehr zu stören. Sie können dann Ihre Kritik an anderen ungestört betreiben.
In Ihrer Kritik an Wulff gebe ich Ihnen Recht. Auch die zweifelhafte Rolle der »Bild« ist ein interessanter Aspekt.
Allerdings waren Wulffs Sonntagsreden schon vorher so viel Wert wie Altpapier. Das Amt des Bundespräsidenten wurde bereits VOR der Wahl Wulffs durch das unwürdige Auswahlverfahren des Kandidaten der Lächerlichkeit preisgegeben. Der demütigende dritte Wahlgang, die offensichtliche Diskrepanz in Sachen Format und Rückgrat zwischen Wulff und Gauck taten ihr Übriges. Der Mann ging beschädigt ins Amt, wurde bislang nie ernstgenommen und wird es nun noch weniger. Zurücktreten wird er, wie Sie richtig anmerkten, nicht. Auch dazu gehört nämlich ein gewisses Format oder aber großer politischer Druck, der aber auf keinen Fall groß genug werden wird.
@A.L. Dreyfus
Den dritten Wahlgang empfand ich nicht als demütigend; einer der besten Bundespräsidenten dieses Landes wurde auch erst im 3. Wahlgang gewählt (Gustav Heinemenn). Dass Wulff beschädigt ins Amt ging, ist richtig, aber die Beschädigung schien nicht derart groß, wie sie sich jetzt vielleicht herausstellt.
Die neuen »Enthüllungen« des Spiegel (von Mascolo in der Sendung »Beckmann« geheimniskrämerisch vorangekündigt) sind eher schwach. Natürlich stammt das Geld de facto von Geerkens selber; die Sache mit dem Kredit durch die Ehefrau ist lächerlich. Geändert hat sich an der Sache nichts.
Es zeigt sich, warum man besser beraten gewesen wäre einen Kandidaten zu nehmen, der nicht derart ins Tagesgeschäft involviert war. Inzwischen bin ich fast geneigt, das Amt abzuschaffen.
Kleine Spitzfindigkeit am Rande: Sie werden das Amt nicht abschaffen können ;-)
Ansonsten bin ich ganz bei Ihnen. Ich habe mir ähnliche Gedanken um den Hintergrund und das Timing der Affäre gemacht, da es aber nichts weiter als Spekulation ist, habe ich es mir verkniffen in meinem Blog selbst etwas darüber zu schreiben. So weit hergeholt scheinen die Spekulationen aber nicht, wenn man die Ränkespiele der Medien und der Parteien verfolgt hat.
@bravo
Meines Erachtens geht es darum, Wulff als liberalen Konservativen zu desavouieren. Bedenken Sie sein (wenn auch unglückliches, aber gut gemeintes) Verhalten in der Causa Sarrazin und dessen mögliche Entlassung aus dem Bundesbank-Gremium. Hier dürften noch einige Rechnungen offen sein. »Bild« als Speerspitze gegen den liberalen Konservatismus. (Bei Merkel ist offensichtlich nichts zu holen.)
Die Rolle der Bild-Zeitung zu erkennen, war hellsichtig. Mir war das so nicht aufgefallen. Erst jetzt wird in seinem vollen Umfang klar, wie langfristig geplant die Kampagne war. Was mir aber unklar bleibt, ist das Verhalten von FAZ und SZ als Büttel der Bild. Dazu noch die informelle Hetze gegen Bettina Wulff über dubiose Internet-Kanäle macht eine ziemlich trübe Brühe. Nicht, dass ich Wulff verteidigen will, der war schmierig und bleibt schmierig und sollte gehen. Aber nicht so.
@Peter
Ja, es ist schon merkwürdig, warum die Mailbox-Drohungen vom 12.12.11 erst am 02.01.12 bekannt werden. Das ist natürlich gewollt; Chefredakteure – so lese ich auf Facebook gelegentlich – verschiessen ihr Pulver nicht mit einer Salve. Nicht nur Wulff wählt die Salami-Taktik, auch »Bild«.
Den Gerüchten über Bettina Wulff hatte Nikolaus Blome bei Jauch vehement widersprochen. Selbst wenn da etwas dran wäre, würde dies in der Bevölkerung vermutlich eher den gegenteiligen Effekt haben.
Aber wo ist der Link zwischen Bild, FAZ und SZ, die sich an diametralen Ecken des Journalismus verorten?
OT:
Ich nehme an, Sie haben dieses Tondokument zum 50. Geburtstags des Deutschlandfunk gehört: Peter Handke liest: »Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt«
@Peter
Tja, den Link vermag ich nicht zu belegen. Ich glaube nur, dass wir Konsumenten vielleicht etwas andere Vorstellungen davon haben, wie es in den Journalistenkreisen zugeht. Die Berührungsängste, die wir zwischen SZ und Bild oder FAZ und Bild vermuten, dürften letztlich nicht bestehen. Im vorliegenden Fall will Bild einfach nicht direkt erscheinen und »bestätigt« dann nur noch.
(OT: Danke für den Hinweis)
Ich glaube auch, dass die professionelle Distanz viel geringer ist, als die evozierte. Das heißt aber noch nicht, dass man gemeinsame Kampagnen fährt und schon gar nicht dann, wenn man als der Überlegene sich dem Trash so exponiert als willfähriger Handlanger andient. FAZ und SZ werden in dieser Affäre Federn lassen.
(von Herrn Niggemeier gibt es jetzt etwas zu den Verbindungen FAS, Bild etc. – scheint mir aber auch alles im Ungefähr-Diffusen.. und jetzt trommeln sie alle für die Pressefreiheit.. der Bildzeitung?!)
[sorry, Link vergessen http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,806751,00.html ]
Niggemeier Artikel
Danke Phorkyas für den Link. Döpfners Aufzugzitat findet sich da natürlich auch wieder, obwohl es nicht exklusiv für die »Bild«-Zeitung gilt – es ist omnipotent gültig für nahezu alle Medien, die Skandalisierungen vornehmen bzw. glauben vornehmen zu müssen. Über den Grund für den (vermeintlichen) Bruch äußert sich Niggemeier nicht. Meine Vermutung habe ich oben beschrieben – Wulff ist den Granden der »Bild« offensichtlich zu liberal. Vielleicht hat er sich auch nicht mehr vereinnahmen lassen; wer weiss.
Die »Vermarktung« des Mailbox-Anrufs ist ziemlich perfekt gelungen: Erst hält man die Information zurück und dann wird dies an andere Journalisten lanciert. Berührungsängste gibt es da wohl keine: Wenn der Braten auf dem Tisch dampft, setzt sich jeder hin. Einen Hautgout bekommt die Sache dahingehend, weil sich Wulff angeblich entschuldigt haben soll. Unter Ehrenmännern bedeutet die Annahme einer solchen Entschuldigung, dass es vergessen ist. Aber wer vermutet bei Diekmann schon einen Ehrenmann?