Hin­rich von Haa­ren: Wild­nis

Hinrich von Haaren: Wildnis
Hin­rich von Haa­ren:
Wild­nis

Zu­nächst ist man ver­wirrt. Ein ge­wis­ser Schult er­wacht im Kran­ken­haus aus dem Ko­ma und ist zor­nig. Er will nie­mand ge­be­ten ha­ben, ihn ins Roy­al Lon­don Hos­pi­tal in Whitecha­pel ein­zu­lie­fern und phan­ta­siert, er sei bis ge­ra­de zum zwei­ten Mal tot ge­we­sen, das er­ste Mal 1943, als Sechs­jäh­ri­ger, in der Nacht vom 27. auf den 28. Ju­li, in Ham­burg, Stadt­teil Ham­mer­brook, am Grü­nen Deich. Wer ein we­nig Ge­schichts­kennt­nis­se hat, weiß, was in die­ser Nacht in Ham­burg ge­schah. Es wird spä­ter als der Ham­bur­ger Feu­er­sturm be­zeich­net wer­den. Gott­fried Schult und sei­ne Mut­ter über­le­ben; der Va­ter war be­reits 1941 in Russ­land ge­fal­len.

Der 61jährige, in Lon­don le­ben­de, deut­sche Au­tor Hin­rich von Haa­ren bleibt in sei­nem Ro­man Wild­nis bei die­sem Gott­fried Schult, nennt ihn stets nur »Schult«, was be­wusst ei­ne Di­stanz er­zeugt. Die Mut­ter woll­te, dass Schult nach der Schu­le ei­ne Bank­leh­re macht, aber der schrieb sich zum Stu­di­um für Ge­schich­te ein. Es war nach­träg­li­che Op­po­si­ti­on zu sei­nem Na­zi-Leh­rer auf der Schu­le, der das »Drit­te Reich« schlicht über­gan­gen hat­te. Schult woll­te es ge­nau­er wis­sen. Nach dem Stu­di­um be­warb er sich auf ei­ne Do­zen­ten­stel­le in Eng­land, wur­de zu sei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung an­ge­nom­men und aus Gott­fried wur­de Ge­off. Zwan­zig Jah­re nach dem Feu­er­sturm war er al­so nun in Cam­bridge, wenn es auch nur das nicht so be­rühm­te »Dow­ning Col­lege« war.

Der aka­de­mi­sche Be­trieb er­zeug­te bei Schult ein Phleg­ma; er fand sich früh da­mit ab, kei­ne Kar­rie­re ma­chen zu kön­nen. Zu Be­ginn lern­te er die Non­kon­for­mi­sten Tom und Liz ken­nen, die sel­ber kaum Am­bi­tio­nen he­gen. Ei­ne der we­ni­gen Freund­schaf­ten, die Schult ein­ging, denn er war kon­takt­scheu. Um dem Uni-Be­trieb zu ent­flie­hen, mie­te­te er sich ei­ne klei­ne Woh­nung am Ar­nold Cir­cus, ei­nem der äl­te­sten Stadt­vier­tel Lon­dons; da­mals, 1964 beim Ein­zug, an­zie­hend schä­big. Hier konn­te er sei­ne Ho­mo­se­xua­li­tät ab­seits von Cam­bridge aus­le­ben, be­such­te ab und zu das »Ge­or­ge and Dra­gon«, ei­ne eher ver­gam­mel­te Knei­pe mit ei­ner herz­li­chen Wir­tin. Und hier fand er die Stri­cher, die er be­zahl­te und da­bei froh war, kei­ne wei­te­ren Ver­pflich­tun­gen zu ha­ben. Die hy­po­chon­dri­sche Mut­ter in Ham­burg wird zwei Mal im Jahr be­sucht; man hat­te sich we­nig zu sa­gen. Den Weih­nachts­be­such brach Schult im­mer am 23.12. ab. Nur ein­mal, wäh­rend ei­nes Kur­auf­ent­halts, leb­te das Ver­hält­nis der bei­den für kur­ze Zeit auf.

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Vom rich­ti­gen Über­le­ben im fal­schen

Man­che Ver­lags­an­kün­di­gun­gen ha­ben eher ab­schrecken­de Wir­kung. So be­wirbt der Suhr­­kamp-Ver­­lag die Neu­auf­la­ge des 1949 bzw. 1950 er­schie­ne­nen Ro­mans »Die Ga­lee­re« von Bru­no E. Wer­ner da­mit, dass 70 Jah­re nach des­sen Er­schei­nen der heu­ti­ge Le­ser be­reit sei, die­ses Buch wie sei­nen »ei­ge­nen Ro­man« zu le­sen. Oh­ne Ant­wort bleibt die Fra­ge nach dem Ur­he­ber des Zi­tats. Die ...

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