Wel­ten und Zei­ten XXI

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Mu­sil hat ei­nen gro­ßen Denkauf­wand be­trie­ben, um die Form des Es­says in den Ro­man ein­zu­füh­ren. In Wirk­lich­keit hat­te der Es­say im­mer schon ein Hei­mat­recht in den Ge­fil­den des Ro­mans, denn je­de er­wei­ter­te Re­fle­xi­on ei­ner Fi­gur (z. B. über ihr Han­deln) oder des Au­tors (z. B. über den Text, über Pro­ble­me, die er auf­wirft, oder über ei­ne Fi­gur) nä­hert sich der Form des Es­says. Was sind die gro­ßen re­fle­xi­ven Pas­sa­gen in Tho­mas Manns Zau­ber­berg, des­sen Nie­der­schrift er et­wa gleich­zei­tig mit Mu­sils un­voll­ende­tem Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten be­gann und – an­ders als Mu­sil den sei­nen – in re­gel­mä­ßi­gem Ar­beits­tem­po mehr oder min­der plan­ge­mäß zu En­de brach­te, an­de­res als Es­says? Auch die Dia­lo­ge ten­die­ren bei Ge­sprächs­part­nern wie Naph­ta und Set­tem­b­ri­ni zum Es­say­is­mus, ein­fach des­halb, weil je­der der bei­den so viel zu sa­gen hat. Nur hat es Tho­mas Mann nie der Mü­he wert ge­fun­den, die es­say­isti­schen Merk­ma­le sei­ner Ro­ma­ne be­son­ders her­vor­zu­he­ben und mit theo­re­ti­schen Er­läu­te­run­gen zu ver­se­hen. Wo­zu auch, er hat­te ge­nug da­mit zu tun, Fi­gu­ren zu schaf­fen und re­den zu las­sen. Auch Mu­sil hat­te ge­nug da­mit zu tun, und viel­leicht wä­re es bes­ser ge­we­sen, er hät­te sich dar­auf be­schränkt. Viel­leicht, viel­leicht nicht. So ist er als Theo­re­ti­ker des Es­say­is­mus be­rühmt ge­wor­den.

Tho­mas Manns Ro­ma­ne sind als Lek­tü­re für alt ge­wor­de­ne Leu­te mit ei­ner lan­gen Le­ser­ge­schich­te be­stens ge­eig­net – vor­aus­ge­setzt, man will noch ein we­nig Le­bens­zeit da­für auf­wen­den. Sol­che Le­ser brau­chen nichts Auf- und An­re­gen­des mehr, wohl aber Bal­sam für ih­re ge­schun­de­nen Ner­ven. Zum Bei­spiel Lot­te in Wei­mar, die­ser es­say­isti­sche Plau­der­ro­man, wo mehr oder min­der un­ge­be­te­ne Be­su­cher ei­nem al­ten Weib­lein die Oh­ren mit ih­ren Pro­blem­chen und Pro­jek­ten, Ent­täu­schun­gen und Be­schwer­den voll­quat­schen – à pro­pos Es­say­is­mus, die gu­te Frau braucht kaum Fra­gen zu stel­len, schon ge­hen die Ser­mo­ne los, je­der und je­de hat sein oder ihr Scherf­lein zur Ge­schich­te vom gro­ßen Mann, sei­ner Ex­zel­lenz, dem Ge­hei­men Rat Goe­the bei­zu­tra­gen. Ein mehr­stim­mi­ger Es­say, ei­ne Ana­ly­se je­ner »Grö­ße«, die Tho­mas Mann so sehr be­gehr­te, de­ren Me­cha­nis­men er er­for­schen woll­te.

Da lob ich mir Kaf­ka, die­sen klein­sten al­ler Schrift­stel­ler, der am lieb­sten ei­nen Bau be­wohnt hät­te. Ei­nen un­ter­ir­di­schen, wohl­ge­merkt: Wir bau­en den Schacht von Ba­bel. Ist noch wer üb­rig von die­sem Wir? Kaf­ka schrieb kei­ne Es­says, das hat­te er nicht nö­tig. Sei­ne Fi­gu­ren plau­dern auch nicht so viel, und meist er­hal­ten sie kei­ne Ant­wort.

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Wel­ten und Zei­ten XX

Trans­ver­sa­le Rei­sen durch die Welt der Ro­ma­ne

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Wie­so sagt man im Deut­schen ei­gent­lich »Ro­man«, wenn man »Ro­man« meint? War­um nicht »No­vel­le«, no­vel, no­ve­la wie im Eng­li­schen oder Spa­ni­schen? Ei­gent­lich ist es egal, die Spra­che bzw. die Be­deu­tun­gen, mit de­nen in ihr jon­gliert wird, sind so­wie­so ge­prägt durch ih­ren Ge­brauch. Der Ro­man ist in der (ro­ma­ni­schen) Volks­spra­che ge­schrie­ben, und die No­vel­le stellt ei­ne Neu­ig­keit dar. Aber dann be­ginnt erst die Ge­schich­te, und der Ro­man wird das, was er eben ge­wor­den ist und heu­te noch ist. Im Ja­pa­ni­schen ur­sprüng­lich mo­no­ga­ta­ri, in den bei­den Schrift­zei­chen 物語 ver­bin­den sich die Din­ge und das Re­den, al­so ei­gent­lich ist es nur ein Ge­plau­der über dies und das. Die­se De­fi­ni­ti­on trifft recht gut auf das Gen­ji Mo­no­ga­ta­ri zu, das manch­mal als er­ster Ro­man der Li­te­ra­tur­ge­schich­te be­zeich­net wird (man hat schon so man­chen Ro­man zum »er­sten« er­ko­ren). Heu­te sagt man in Ja­pan eher shou­setsu, 小説, das heißt: klei­ne Er­klä­rung, oder auch klei­ne Er­zäh­lung, Er­klä­run­gen sind ja im­mer auch Er­zäh­lun­gen; je­den­falls steht vor­ne das Zei­chen für »klein« wie bei Kind, 小人, klei­ner Mensch. In al­len die­sen ur­sprüng­li­chen Be­zeich­nun­gen wird der Text­gat­tung Ernst­haf­tig­keit ab­ge­spro­chen, sie ist ge­wis­ser­ma­ßen nicht er­wach­sen, nicht La­tei­nisch, nicht son­der­lich ge­lehrt. Ei­ne locke­re Form, dient auf je­den Fall der Un­ter­hal­tung. Ich glau­be, das trifft im­mer noch zu. Ei­ne freie Form, man kann, wie ich hier schon mehr­mals sag­te, al­les mög­li­che in sie hin­ein­stop­fen (auch wenn viel­leicht hin­zu­zu­fü­gen ist, daß man da nicht über­trei­ben soll­te: Zu viel ist zu viel, wir brau­chen auch Lücken).

Als ich vor un­ge­fähr zehn Jah­ren Kenzabu­ro Oe be­such­te, nann­te er al­le sei­ne Wer­ke »shou­setsu«, egal ob sie groß oder klein, lang oder kurz, mehr oder we­ni­ger un­ter­halt­sam wa­ren. An­to­nio Ta­buc­chi, ein an­de­rer Mei­ster des Ro­mans, will zwi­schen Er­zäh­lung und Ro­man gar nicht un­ter­schei­den, ob­wohl er dann wie­der be­tont, die Er­zäh­lung be­fol­ge stren­ge Re­geln, für den Ro­man gel­te das nicht. Trotz­dem, er glaubt nicht an die »rei­nen Gen­res«, son­dern an die Ver­mi­schung der Gen­res: Cre­do nella mes­co­lan­za dei ge­ne­ri. Ei­nem um­fang­rei­chen, durch das qua­si ari­sto­te­li­sche 24-Stun­den-Kor­sett müh­sam im Zaum ge­hal­te­nen Ro­man wie dem Ulysses zieht er die Er­zähl­samm­lung Dub­li­ner vor.

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Wel­ten und Zei­ten XVI

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Ar­son von Lau­ra Freu­den­tha­ler, ei­ne Art Um­welt­sor­ge­pro­sa in Welt­un­ter­gangs­stim­mung. Da und dort, im­mer wie­der, bre­chen Brän­de aus. Wie in der Wirk­lich­keit in Ka­li­for­ni­en, zum Bei­spiel. Was brin­gen sol­che Wald­brän­de für die Li­te­ra­tur, oder um­ge­kehrt: Wie soll der Au­tor ih­rer hab­haft, ih­nen ge­recht wer­den, wenn er sie schon nicht lö­schen kann? Was ver­mag das al­te, kul­tu­rell ge­präg­te Na­tur­ge­fühl ge­gen­über den Feu­ern? Über al­len Wip­feln ist Ruh; über ka­li­for­ni­schen Wip­feln schla­gen die Flam­men zu­sam­men.

Freu­den­tha­ler pflegt un­ter an­de­rem, wie vie­le Au­toren heu­te, ei­nen Es­say­is­mus im Mu­sil­schen Sin­ne, man er­laubt sich gern Ab­schwei­fun­gen – De­fi­ni­ti­on von »Es­sai«: das schwei­fen­de Gen­re –, hier zum Bei­spiel nach Su­ma­tra, über die dor­ti­gen Wald­brän­de. Auch Tho­mas Mann hat das ge­tan, sei­ner­zeit, nur we­ni­ger auf­dring­lich als Mu­sil, nicht so theo­rie­la­stig, nicht zwang­haft-über­höht, son­dern in al­ler Ru­he von der gu­ten Schreib­stu­be aus, sie­he zum Bei­spiel die um­fas­sen­de Welt­erklä­rung, die er im Fe­lix Krull ei­nem ge­wis­sen Pro­fes­sor Kuckuck un­ter­schiebt: Dort geht es nicht bloß um ein paar Aspek­te, nicht nur um die Mög­lich­keit des Welt­un­ter­gangs bzw. des En­des der Erd­ge­schich­te, die­se ist dem Pro­fes­sor so­wie­so ge­wiß; nicht nur das ein­zel­ne Men­schen­le­ben oder die gan­ze Mensch­heit, son­dern der Pla­net Er­de ist wei­ter nichts als ei­ne un­er­heb­li­che Epi­so­de im All. Un­ser klei­he­i­ner Pla­net… Der be­rühm­te Pas­cal­sche Schau­der. Trotz­dem sind die vor­zeit­li­chen Farn­wäl­der, von de­nen letz­te Re­ste im Bo­ta­ni­schen Gar­ten von Lis­sa­bon zu be­sich­ti­gen sind, wis­sen­schaft­li­cher Stu­di­en und all­ge­mein­mensch­li­cher Wert­schät­zung wert. Die Fi­gu­ren und ih­re Be­zie­hun­gen zu­ein­an­der sind nur Hilfs­kon­struk­te, um in­ter­es­san­te Ge­dan­ken aus­zu­füh­ren.

Blei­ben wir bei der ge­gen­wär­ti­gen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur. Ar­son nennt sich auch gar nicht »Ro­man«, nennt sich über­haupt nicht. Das Buch bie­tet ei­ne Ver­samm­lung von Epi­so­den, Stim­mungs­bil­dern, Frag­men­ten, die hin und wie­der Se­quen­zen bil­den, Sprach­per­len an Mo­tiv­schnü­ren – das Tho­mas Mann-Jahr wirft sei­ne Schat­ten vor­aus – wie Schlaf­lo­sig­keit oder die Wun­de an der Lip­pe, sie wer­den vor­sätz­lich nicht ver­knüpft, son­dern locker auf­ge­fä­delt, so daß kei­ne Strän­ge ent­ste­hen, kei­ne Ge­we­be, son­dern. Hand­lungs­mo­men­te. Auf­pop­pen. Da ist wie­der mal ei­ne Lip­pe auf­ge­platzt. Ein Wald­stück auf­ge­flackert. Edel­pop!

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