Transversale Reisen durch die Welt der Romane
Mut zur Lücke: eine beliebte Wortfügung, oft als Motto verwendet. Wieso man zum Lückenmachen oder ‑lassen Mut braucht, ist mir zwar nicht einsichtig. Meistens werden Lücken einfach hingenommen, unbekümmert oder zähneknirschend. Transversalität lebt gewissermaßen von Lücken. Man kann sie sich auch als Poren vorstellen, durch die der Geist atmet. Zuviel Dichte behindert das Vorstellungsvermögen. Text, Textur, Gewebe: das mehr von Philologen als von Schriftstellern gebrauchte Bild verweist auf lückenlose Strukturen. Texte, in denen / mit denen sich atmen läßt, haben Poren, oder eben Lücken. Sie sind eher mit einer Häkelarbeit vergleichbar als mit einem Gewebe.
Trotzdem streben Dichter, solche von Gedichten wie auch von Prosa, nach Verdichtung, und oft ist ihnen bewußt, daß ihr Text beides braucht, Lücken und Dichte: Unter- und Überdeterminierung. Es gilt, der Bilderphantasie im Kopf des Lesers Raum zu ihrer Entfaltung lassen. Und aus der Sprache, noch aus der schlichtesten Formulierung, mehr herauszuholen, als man – und womöglich der Dichter selbst – sich hat träumen lassen, daß drinsteckt. Das Verbrauchte erneuern, neu beleben. Durch die Poren atmen, Luft hereinlassen durch größere Öffnungen. Luftige Texte, so die Hoffnung, entwickeln einen eigenen Schwung, der den Leser mitnimmt.
Auf das Epos folgt literaturgeschichtlich der Roman. Alte Hypothese. Der »moderne Roman« ist ein Pleonasmus, insofern der Roman mit der Moderne – der ersten europäischen Moderne, die das Mittelalter ablöst – entsteht. Ob die hier und da in der x‑ten Moderne avisierte Wiederkehr des Epos nicht bloß eine Bankrotterklärung des Romanciers ist, dem die Zügel entgleiten? Als Wahljapaner beziehe ich unsere Identität, soweit wir halt eine brauchen, lieber aus dem friedfertigen Genji Monogatari – manchmal als »erster Roman« tituliert – als aus Samurai-Geschichten und Bushido-Büchern, die gewisse Zeitströmungen und einzelne Autoren vorgezogen haben, etwa Yuko Mishima in seinem martialischen Essay Sonne und Stahl. Das Wort »monogatari« würde ich am ehesten mit »Geschichtensammlung« übersetzen, in der Art von Boccaccios Decamerone oder, viel später, Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten oder, noch einmal später, Sebalds Die Ausgewanderten. Versucht der Erzähler, einige oder mindestens eine Figur oder einen in der Erzählwelt präsenten Erzähler über die ganze Sammlung hinweg bei der Stange zu halten oder, noch besser, dessen Entwicklung zu zeigen, erhält man das, was wir immer noch »Roman« nennen. Doch der Begriff ist nach hinten und nach vorne offen. Vielleicht ist der Roman noch heute nichts anderes als eine Geschichtensammlung. Zum Beispiel Handkes Jahr in der Niemandsbucht, als Märchen ausgegeben und dem Epos zuneigend, ist ganz klar eine solche Sammlung, in welcher sieben Freunde ihre Geschichten erzählen und die Erzählungen von einem recht präsenten Erzähler re-präsentiert werden. Ein System von Geschichten, würde ich sagen. Ein System von narrativen Planeten, die um ein Hauptgestirn kreisen, das nicht unbedingt oder nicht immer oder nur indirekt strahlt.