Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑3/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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War­um ei­gent­lich ha­be ich in mei­ner neu­en, freie­ren Epo­che als Le­ser be­gon­nen, mich Faul­k­ner an­zu­nä­hern? Ich kann kaum sa­gen, daß ich ihn »wie­der­le­se«, weil ich ihn zwar seit mei­nen zwan­zi­ger Jah­ren hoch­hal­te, d. h. seit den Jah­ren um 1980, als er ei­ni­ger­ma­ßen aus der Mo­de ge­kom­men war, er mir aber von Gerd-Pe­ter Eig­ner ans Herz ge­legt wur­de, der sich zwan­zig Jah­re frü­her li­te­ra­risch ge­bil­det (»for­miert«) hat­te, als Faul­k­ner, der No­bel­preis lag ein knap­pes Jahr­zehnt zu­rück, noch in Mo­de war. So geht der Sta­fet­ten­stab über die Ge­ne­ra­tio­nen. Wirk­lich ge­le­sen ha­be ich Faul­k­ner da­mals aber nicht, nur ei­ne al­te, au­ßen hell­blaue Ta­schen­buch­aus­ga­be von Ab­sa­lom! Ab­sa­lom! ge­kauft und oft ein­mal auf­ge­blät­tert, die er­ste Über­set­zung ins Deut­sche, die, glau­be ich, in den drei­ßi­ger Jah­ren an­ge­fer­tigt wor­den war. Spä­ter ist mir der Ein­fluß Faul­k­ners auf den ganz frü­hen Hand­ke auf­ge­fal­len, und wie­der spä­ter ha­be ich ge­merkt, wie stark der nord­ame­ri­ka­ni­sche Süd­staa­ten­au­tor auf die Ro­man­li­te­ra­tur La­tein­ame­ri­kas wirk­te, von Ju­an Car­los Onet­ti über Gar­cía Már­quez und Var­gas Llosa bis hin zu Ri­car­do Pi­glia. Es gibt tat­säch­lich so et­was wie ei­ne ame­ri­ka­ni­sche Li­te­ra­tur, Nor­den und Sü­den um­fas­send, und zwar jen­seits ideo­lo­gi­scher Kon­zep­tio­nen, wie sie Pa­blo Ne­ru­da ver­trat, zu er­schlie­ßen al­lein aus der Li­te­ra­tur selbst, aus den Tex­ten, Per­spek­tiv­set­zun­gen, Wahr­neh­mungs­wei­sen, Er­zähl­for­men. Ei­nen der­art ein­fluß­rei­chen Au­tor woll­te ich nun doch ein­mal in al­ler Frei­heit, oh­ne kon­tex­tu­el­le Zwän­ge, ken­nen­ler­nen. Die Qua­li­tät li­te­ra­ri­scher Wer­ke läßt sich nicht aus ih­rem Pu­bli­kums­er­folg mut­ma­ßen, eher schon aus der In­ten­si­tät und – even­tu­ell – Ex­ten­si­tät, mit der sie von nach­fol­gen­den Au­toren auf­ge­nom­men wur­den. »Ecri­vain pour ecri­vains«, für mich be­deu­tet die­se un­ter­schied­lich ge­brauch­te, oft pe­jo­ra­ti­ve Cha­rak­te­ri­sie­rung kei­ne Ab­wer­tung, im Ge­gen­teil. Ich ha­be so­gar, der Na­me des Ver­fas­sers ist mir ent­fal­len, ei­ne Bio­gra­phie über Faul­k­ner ge­le­sen1; »so­gar« ist viel­leicht das fal­sche Wort, weil ich Schrift­stel­ler­bio­gra­phien mit größ­ter Neu­gier zu le­sen pfle­ge; ja, ich muß so­gar ge­ste­hen – »so­gar« ist hier am Platz –, daß mir die Bio­gra­phie fast mehr ge­sagt hat, mich mehr ein­ge­nom­men hat für die­sen Ro­man­cier, der lan­ge sei­nen Weg nicht und noch län­ger kei­nen Er­folg fand, als die ein­zel­nen Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen (aus­ge­nom­men viel­leicht Als ich im Ster­ben lag).

Wei­ter­le­sen ...


  1. Stephen B. Oates, inzwischen habe ich nachgesehen. 

Si­sy­phos auf dem Pla­teau ‑2/8-

Ein­blicke in die Aben­teu­er ei­nes be­frei­ten Le­sers

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Ich könn­te die »Neu­erschei­nun­gen« und die Na­men ih­rer Ver­fas­ser er­wäh­nen, die ich in den letz­ten Jah­ren ge­le­sen ha­be, weil sie mir mehr oder min­der zu­fäl­lig zwi­schen die Hän­de ge­kom­men sind, und die ich wi­der­wil­lig zu En­de ge­le­sen oder vor­zei­tig weg­ge­legt ha­be, aber ich wer­de es nicht tun. Vie­len die­ser Au­toren kann man die Ver­öf­fent­li­chung nach­se­hen, viel­leicht al­len, auch mir selbst. So ein­ge­spannt in den Be­trieb und/oder in das ei­ge­ne Werk (wenn man sich ein­span­nen läßt), pro­du­ziert man zu viel. Oder aus an­de­ren Grün­den, so­gar aus in­ne­rer Not­wen­dig­keit, den­noch zu viel. Ich wer­de kei­nen die­ser Na­men nen­nen, au­ßer viel­leicht den ei­ner Au­torin, de­ren Bü­cher ich schät­ze und die fern von wo lebt, von Deutsch­land Bay­ern Öster­reich (wo ich nicht le­be) und die­se No­ti­zen nicht le­sen wird (aber ihr Lek­tor, ihr Ver­le­ger?), Hi­ro­mi Ka­wa­ka­mi, ihr letz­tes Buch in der Über­set­zung der von mir eben­falls sehr ge­schätz­ten Ur­su­la Grä­fe hat­te ich nach mei­nem neu­en Frei­heits­prin­zip in ei­ner klei­nen Buch­hand­lung in Frank­furt am Main ge­kauft und noch vor der Hälf­te des Gan­zen weg­ge­legt, ir­gend­wo im öf­fent­li­chen Raum zu­rück­ge­las­sen, viel­leicht kann wer an­de­rer was da­mit an­fan­gen, ich nicht; viel­mehr war ich ge­nervt von die­ser Art von Leich­tig­keit, Li­te­ra­tur light, Ge­heim­nis­tue­rei, Be­lang­lo­sig­keit, aber egal, ich darf mir das jetzt er­lau­ben, mei­ne Ge­nervt­heit und sie aus­zu­drücken, ich un­ter­lie­ge kei­nen Zwän­gen (mehr), auch Fehl­käu­fe darf ich mir er­lau­ben, die ge­sche­hen bei je­der Art von Pro­duk­ten; al­so kei­ne Na­men, sag­te ich, denn ich will und muß kei­ne Feind­schaf­ten auf mich zie­hen, je­den­falls nicht mut­wil­lig, nicht oh­ne Not­wen­dig­keit. Es gibt Au­toren, die ich als – sei es pri­va­te, sei es öf­fent­li­che – Per­so­nen schät­ze oder schlicht und ein­fach mag, oder die ich re­spek­tie­re, mit de­ren künst­le­ri­schen Er­zeug­nis­sen ich aber nichts an­fan­gen kann. Wie da­mit um­ge­hen? Ei­ne schwie­ri­ge und in­ter­es­san­te Fra­ge, die man, wenn über­haupt, nur von Fall zu Fall wird be­ant­wor­ten kön­nen, und die ei­nen un­wei­ger­lich in Wi­der­sprüch­lich­kei­ten ver­strickt. Auch das Um­ge­kehr­te kommt üb­ri­gens vor, un­an­ge­neh­mer Au­tor, un­gu­te Per­son, groß­ar­ti­ges Werk.

Ich le­se über Do­ra – von Do­ra, möch­te ich sa­gen, wie man von je­man­dem hört und nicht über ihn (»hast du et­was von ihm/ihr ge­hört?«) – in ei­nem Ca­fé na­mens Cas­ca­de (Kas­ka­de, Was­ser­fall), das ich vor fünf­zehn Jah­ren oft be­such­te, als ich hier im Han­kyu-Bahn­hof von Um­eda bald aus‑, bald um­stieg. Ich weiß jetzt, nach all den Jah­ren, viel­leicht bes­ser als da­mals, was mich an dem Ort an­zog, ab­ge­se­hen da­von, daß die Mehl­spei­sen viel­fäl­tig und schmack­haft, nicht zu süß und nicht zu teu­er wa­ren (ei­ne so­ge­nann­te Bak­ery, das Ca­fé ge­hört zu ei­ner Bäcke­rei): die zwei gro­ßen, da­bei de­zen­ten, im­mer sau­be­ren Groß­spie­gel an der ei­nen Wand, wo die Gä­ste ne­ben­ein­an­der an ei­nem lan­gen und ziem­lich brei­ten Tisch sa­ßen, ei­nem Wand­tisch aus mas­si­vem hel­lem Holz, wo ich gut le­sen und schrei­ben konn­te und kann, und zwi­schen­durch, wenn ich den Blick vom Buch oder Heft he­be, das Kom­men und Ge­hen be­trach­ten, das Sit­zen und Sin­nie­ren und Plau­dern, das Aus­wäh­len von Mehl­spei­sen im Hin­ter­grund, Frau­en mit silb­ri­gen Zan­gen und wei­ßen waag­rech­ten Ta­bletts, das Sit­zen und Plau­dern und War­ten und Su­chen von Men­schen, über­wie­gend Frau­en, die mei­sten wohl Haus­frau­en in Shop­ping­pau­se, aber auch von Män­nern, die die Män­ner­welt der Bü­ros satt­hat­ten, Su­chen im Spie­gel, manch­mal nach mir, nach mei­nem Blick, den bei­de dann ab­wen­den, so­bald er ge­fun­den ist, und das Spiel geht wei­ter, die Su­che geht wei­ter. Ich le­se von Do­ra, die auf ei­nem Fo­to, wo sie neun oder zehn Jah­re alt ist, vor ei­nem Vo­gel­kä­fig steht, ei­ner Vo­lie­re ver­mut­lich, de­ren In­halt oder In­sas­sen man nicht aus­ma­chen kann, Vo­gel oder Vö­gel, viel­leicht zwei, man weiß es nicht, weil die Um­ge­bung des Mäd­chens in tie­fem Schat­ten liegt und man Um­ris­se kaum ah­nen kann. Ich he­be die Au­gen vom Buch und be­mer­ke rechts un­ten auf der Spie­gel­flä­che den Kä­fig, die Vo­lie­re, säu­ber­lich auf­ge­klebt, wie schwar­zes Schmie­de­ei­sen, oben kup­pel­för­mig ge­run­det, dar­in ein klei­ner Vo­gel, viel­leicht nur ein Sper­ling, im Schat­ten­riß, si­cher kein Pa­pa­gei, und ei­ne Blu­me, die sich zwi­schen den Stä­ben hin­ein­rankt, um sich mit dem Vo­gel zu ver­ei­nen oder gar – ihn zu be­frei­en. Die­ses Bild hat­te ich auch vor fünf­zehn Jah­ren be­merkt, aber nicht mit der ge­büh­ren­den Auf­merk­sam­keit; jetzt ist es dank mei­ner Lek­tü­re kräf­ti­ger, prä­sen­ter. Und die Lek­tü­re, der Wahr­neh­mungs­mo­ment im Buch, ist durch mei­nen Auf­blick ge­stärkt, weil mir das Ste­hen Do­ras am Rand des Schat­tens und die Ah­nung des­sen, was im Dun­kel liegt, als Me­ta­pher da­für er­schei­nen kann, was ein Buch, ei­ne Er­zäh­lung wie die­se tun kann: für uns, mit uns, für die Ab­we­sen­den, die Be­schwo­re­nen, für sich selbst.

Sky-Building, welches das beste Kino von Osaka beherbergt © Leopold Federmair
Sky-Buil­ding, wel­ches das be­ste Ki­no von Osa­ka be­her­bergt © Leo­pold Fe­der­mair

Ro­ma­ne ent­hal­ten künst­li­che Wel­ten, Fik­ti­on ist Vir­tua­li­tät, nicht an­ders als die Bil­der­flut im In­ter­net oder die Vor­stel­lungs­bil­der im Kopf. Die­se Welt und mei­nen Text, von dem ich nicht weiß, auf wel­cher der bei­den Sei­ten sein Ort ist, ver­las­send ha­be ich mich auf den si­cher­lich rea­len Weg zu ei­nem et­wa fünf­zig Stock­wer­ke auf­ra­gen­den Hoch­haus ge­macht, um dort, nur im drit­ten Stock, ei­nen Film zu se­hen, der wie ei­ne Do­ku­men­ta­ti­on an­ge­legt, aber zwei­fel­los ein so­ge­nann­ter Spiel­film ist, Sor­ry We Missed You von Ken Loach (wo­bei sich gleich die Fra­ge stel­len lie­ße, in­wie­weit Do­ku­men­ta­ti­on mit fil­mi­schen Mit­teln nicht eben­falls Fik­ti­on ist; am En­de ent­hält je­de mensch­li­che Le­bens­äu­ße­rung jen­seits des At­mens und der blo­ßen Be­dürf­nis­be­frie­di­gung we­nig­stens ein Gran Er­fin­dung, Ver­dich­tung, Aus­las­sung, Ne­ga­ti­on, und die Schrift­stel­ler, die Dich­ter sind nichts an­de­res als be­son­ders ge­schul­te oder ta­len­tier­te oder er­fah­re­ne Spe­zia­li­sten der Er­fin­dung). Und als ich das Ki­no ver­ließ, hat­te ich vor, in mei­ne Text­land­schaft zu­rück­zu­keh­ren und dies in ei­nem an­de­ren Ca­fé zu tun, am be­sten oben im drei­ßig­sten Stock des Gran Han­kyu Buil­ding, in luf­ti­ger Hö­he, da kann man, wie schon Nietz­sche mein­te, wirk­lich gut den­ken und schrei­ben, in der Hö­hen­luft. Oben an­ge­kom­men, ist mir die War­te­schlan­ge zu lang, Um­eda und sei­ne Ca­fés quel­len an die­sem letz­ten Sonn­tag des Jah­res über von Shop­pern und Win­dow-Shop­pern, die frü­her oder spä­ter er­mü­den, auch Män­ner­run­den dar­un­ter, die vor dem Jah­res­wech­sel noch ein­mal mit­ein­an­der plau­dern oder eher, ha­be ich den Ein­druck, schrei­en wol­len (of­fen­bar wirkt Kaf­fee auf sie wie Al­ko­hol). Ich kann im Lärm und ge­gen den Lärm recht gut schrei­ben, doch der Kon­sum­tau­mel, die­ser kul­tur­ka­pi­ta­li­sti­sche Nor­mal­zu­stand der Wo­chen­en­den, ist mir dann doch zu­viel.

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