Boua­lem San­sal: 2084 – Das En­de der Welt

Boualem Sansal: 2084 - Das Ende der Welt
Boua­lem San­sal:
2084 – Das En­de der Welt

Wenn Ge­sell­schaf­ten – aus wel­chen Grün­den auch im­mer – trotz ei­nes ex­or­bi­tan­ten Wohl­stands mit ei­nem dif­fu­sen Un­be­ha­gen der Zu­kunft ent­ge­gen se­hen, weil sie vor Um­brü­chen mit un­si­che­rem Aus­gang ste­hen, dann ist Zeit für dys­to­pi­sche Ro­ma­ne, die dann die eher harm­los da­her­kom­men­de (lei­der zu oft ba­na­le) Fan­ta­sy oder be­wusst tech­nik­af­fi­ne Sci­ence-Fic­tion-Se­lig­keit über­wuchern. Nicht zu­letzt in der ak­tu­el­len deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur gibt es ei­nen Trend zur Dys­to­pie, viel­leicht auch ein­fach nur, weil es im All­tag so gar kei­ne Aben­teu­er mehr zu er­le­ben gibt.

Bei Boua­lem San­sal sieht dies an­ders aus. Der 1950 in Al­ge­ri­en ge­bo­re­ne Au­tor fand erst spät zum li­te­ra­ri­schen Schrei­ben, avan­cier­te aber schnell zum be­kann­te­sten zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­ler sei­nes Lan­des und be­kam 2011 den Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels. Jetzt hat er mit »2084 – Das En­de der Welt« ei­nen Weltunter­gangsroman ge­schrie­ben. Das Buch war zu­nächst in Al­ge­ri­en nicht zu er­hal­ten und sorg­te für Dis­kus­sio­nen in Frank­reich. Seit Mai liegt es auch in ei­ner deut­schen Über­set­zung von Vin­cent von Wro­blew­sky vor.

Das deut­sche Feuil­le­ton be­fragt San­sal aus­gie­big, aber noch mehr möch­te man über sei­ne Ein­schät­zun­gen zur ak­tu­el­len po­li­ti­sche La­ge wis­sen, den Be­dro­hun­gen durch das, was man ge­mein­hin »Is­la­mis­mus« nennt. San­sal hält mit sei­ner Mei­nung nicht hin­ter dem Berg. Er be­zich­tigt be­son­ders die west­li­che Lin­ke als na­iv im Um­gang mit dem po­li­ti­schen Is­lam, was die­se zum An­lass nimmt, ihn in ei­ne neu­rech­te Ecke zu stel­len; das in­zwi­schen be­kann­te Ge­sell­schafts­spiel. Die Er­fah­run­gen, die San­sal in Al­ge­ri­en macht und ge­macht hat, wer­den hier­bei ger­ne her­un­ter­ge­spielt. Die Po­li­ti­sie­rung ei­nes sol­chen Ro­mans hat al­ler­dings meist zur Fol­ge, dass die Dis­kus­si­on we­ni­ger um das Buch als um die po­li­ti­schen The­sen des Au­tors kreist. Dies er­zeugt Er­war­tungs­hal­tun­gen, die je nach Ori­en­tie­rung ent­täuscht oder be­stä­tigt wer­den. Da­bei tritt dann die li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ei­nes sol­chen Bu­ches all­zu oft in den Hin­ter­grund.

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Ver­such über die Wahr­heits­mi­ni­ster

Ex­kurs I – 1984

Sie sind hier, weil Sie es an De­mut, an Selbst­dis­zi­plin ha­ben feh­len las­sen. Sie woll­ten den Akt der Un­ter­wer­fung nicht voll­zie­hen, der der Preis ist für gei­sti­ge Ge­sund­heit. Sie zo­gen es vor, ein Ver­rück­ter, ei­ne Min­der­heit von ei­nem ein­zel­nen zu sein. Nur der ge­schul­te Geist er­kennt die Wirk­lich­keit, Win­s­ton. Sie glau­ben, Wirk­lich­keit sei et­was Ob­jek­ti­ves, äu­sser­lich Vor­han­de­nes, aus ei­ge­nem Recht Be­stehen­des. Auch glau­ben Sie, das We­sen der Wirk­lich­keit sei an sich klar. Wenn Sie sich der Selbst­täu­schung hin­ge­ben, et­was zu se­hen, neh­men Sie an, je­der­mann se­he das glei­che wie Sie. Aber ich sa­ge Ih­nen, Win­s­ton, die Wirk­lich­keit ist nicht et­was an sich Vor­han­de­nes. Die Wirk­lich­keit exi­stiert im mensch­li­chen Den­ken und nir­gend­wo an­ders. Nicht im Den­ken des ein­zel­nen, der ir­ren kann und auf je­den Fall bald zu­grun­de geht: nur im Den­ken der Par­tei, die kol­lek­tiv und un­sterb­lich ist. Was im­mer die Par­tei für Wahr­heit hält, ist Wahr­heit. Es ist un­mög­lich, die Mög­lich­keit an­ders als durch die Au­gen der Par­tei zu se­hen. Die­se Tat­sa­che müs­sen Sie wie­der ler­nen, Win­s­ton. Da­zu be­darf es ei­nes Ak­tes der Selbst­auf­ga­be, ei­nes Wil­lens­auf­wan­des. Sie müs­sen sich de­mü­ti­gen, ehe Sie gei­stig ge­sund wer­den kön­nen.

In ei­nem Punkt ist Or­wells Zu­kunfts­phan­ta­sie längst Rea­li­tät ge­wor­den: Die Wahr­heits­mi­ni­ster sind un­ter uns. Sie sind so zahl­reich und so mäch­tig, dass sie den Dis­kurs, das öf­fent­li­che Dis­ku­tie­ren kon­tro­ver­ser The­men seit Jah­ren, seit Jahr­zehn­ten be­stim­men. Das Phi­li­ster­tum der Wahr­heits­mi­ni­ster ist nicht zu ver­wech­seln mit dem, was man als (wis­sen­schaft­lich be­leg­ten oder mo­ra­lisch er­ar­bei­te­ten) Kon­sens be­zeich­net. Wahr­heits­mi­ni­ster be­grün­den Wahr­hei­ten über das kon­sen­su­el­le ei­ner Ge­sell­schaft hin­aus. Sie sind nicht nur die Tür­hü­ter, sie sind die Ex­ege­ten des Kon­sens. Sie in­ter­pre­tie­ren ihn aus, rich­ten da­bei über gut und bö­se, über rich­tig und falsch. Dau­men hoch oder Dau­men run­ter. Wahr­heits­mi­ni­ster sind da­bei nicht zu ver­wech­seln mit dem ver­gleichs­wei­se harm­lo­sen Main­stream. Wan­kel­mü­tig sind sie sel­ten; nur die nor­ma­ti­ve Kraft des Fak­ti­schen ver­lei­tet sie ge­le­gent­lich da­zu, ih­re Wahr­hei­ten an­zu­pas­sen.

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