Julian Kalkreuth und Fichte sind ein und dieselbe Person. Irgendwann beschloss Julian, Fichte zu werden. Nein, nicht »beschloss« – Julian verwandelte sich in Fichte. Unterschiedlicher könnten beide nicht sein.
»Meere« ist auch Erzählung dieses Fichte-Lebens. Als bildender Künstler und als Mensch. Als Mann. Wir erfahren in dialogischen Retrospektiven zwischen Julian und Fichte über das Leben des gnadenlos produktiven Künstlers und Liebhabers Fichte und über Julians Lebenskränkungen (Vampire), die Fichte doch nicht loswird. Und wir lesen die Geschichte seiner grossen Liebschaften, der Liebe zur abgeklärt wirkenden, fast gleichaltrigen Lu, die siebzehn Jahre hielt (eine Art ehelicher Kulturkonstante) und – vor allem – der Liebe zu Irene, der mehr als zwanzig Jahre jüngeren persischen Göttin mit den ägyptischen Lippen, dem langsamsten Geschöpf…das ihm je begegnet ist (ausgerechnet ihm, dem von Argwohn gepeinigten, notorisch Ungeduldigen, schnell Erregbaren und in heiligem Zorn fallenden). Eine Geschichte einer Obsession, einer Besessenheit. Und die Geschichte des Scheiterns, weil Fichtes Manie, die ihn in der Kunst zu Höhenflügen treibt (»Höllenpaläste«), eine Liebe nicht entwickeln, nicht »aushalten“ kann, sondern sie zerstört. Die Hingabe Irenes, die aus dem Stolz kommt, vergeht; sie trennt sich unversöhnt – er bleibt zurück, fassungslos; unverständig.
Alban Nikolai Herbst vermeidet Larmoyanz und Sentimentalität. Es wird nicht konventionell linear erzählt, sondern in assoziativen Zeitsprüngen. Die besonders im ersten Drittel drastischen Sexualszenen erschienen mir trotz ihrer teilweise detaillierten Schilderungen niemals obszön. Sie gehören zur Erzählung. Ohne sie fehlt dem Leser die Möglichkeit der Einordnung der Dimension dieser rauschhaften Besessenheit, die Fichte tragischerweise mit Liebe verwechselt. Ohne sie würde das Ausmass des Scheiterns nicht verstehbar und bliebe blosse Behauptung. Das anfangs halb scherzhafte halb drohende Du wirst mich nie wieder los wird zum Fatum: Selbst als Irene ihn »physisch« verlassen hatte, wurde er sie nicht mehr los. Weiterlesen