Mar­tin Wal­ser: Ein sprin­gen­der Brun­nen

Martin Walser: Ein springender Brunnen

Mar­tin Wal­ser:
Ein sprin­gen­der Brun­nen


Die Bür­ger­recht­ler der ehe­ma­li­gen DDR über­nah­men einst für sich Ador­nos Prä­mis­se: Es gibt bzw. gab kein gu­tes Le­ben im Schlech­ten. Dies soll­te vor Rein­wa­schun­gen, Weh­kla­gen und nach­träg­li­chem Wi­der­stands­pa­thos spe­zi­ell der ei­ge­nen in­tel­lek­tu­el­len Schicht war­nen. In »Ein wei­tes Feld« hat Gün­ter Grass die­sen Be­griff da­hin­ge­hend um­kreist, als er die DDR ei­ne »kom­mo­de Dik­ta­tur« nen­nen ließ und ei­nen Sturm der Em­pö­rung ern­te­te, schien doch sein gan­zes Buch all­zu will­fäh­rig die zwei Deutsch­lands als die bei­den bes­se­ren Al­ter­na­ti­ven (je­weils) zum jetzt »ver­ei­nig­ten« Deutsch­land zu se­hen.

Die Dis­kus­si­on ist we­der be­en­det noch über­flüs­sig ge­wor­den. Sie wei­tet sich seit ei­ni­gen Jah­ren aus – auf die (li­te­ra­ri­sche) Ver­ar­bei­tung der Na­zi-Zeit. Es gibt seit ei­ni­ger Zeit neue Be­we­gun­gen in die­ser: Zu­nächst die der »jun­gen Wil­den« (u. a. do­ku­men­tiert in Ma­xim Bil­lers Auf­satz »Un­schuld mit Grün­span«), die et­li­chen Nach­kriegs­bü­chern wie bei­spiels­wei­se Her­mann Lenz’ »Neue Zeit« ei­ne Be­hä­big­keit, ein stil­les Ein­ver­ständ­nis mit dem Ge­ge­be­nen, ei­ne li­te­ra­ri­sche Sti­li­sie­rung des Duck­mäu­ser­tums brei­ter Tei­le der Be­völ­ke­rung vor­wer­fen

Gleich­zei­tig, fast un­be­merkt, aber doch spür­bar, be­gann par­al­lel ei­ne Art Ge­gen­be­we­gung, die be­wusst die Na­zi-Ver­gan­gen­heit un­ter dem Blick­win­kel der Zi­vil­be­völ­ke­rung in Be­wäl­ti­gung ih­res All­tags sieht. Pro­mi­nen­te Ver­tre­ter sind W. G. Se­bald oder auch Die­ter For­te, des­sen in die­ser The­ma­tik wei­ter­ge­hen­de Ro­man »In der Er­in­ne­rung« Zu­stim­mung bei Kri­tik und Pu­bli­kum fand. Die­se Schrift­stel­ler sind mei­len­weit von dem Ver­such ei­ner re­vi­sio­ni­sti­schen Ge­schichts­schrei­bung ent­fernt. Die Be­trach­tung der All­tags- und Le­bens­welt in die­ser Zeit soll viel­mehr Sen­si­bi­li­sie­rung und ei­nen er­wei­ter­ten Blick beim Le­ser er­zeu­gen. Das im All­tag sich be­find­li­che In­di­vi­du­um ist in dem Sin­ne Op­fer, als es kei­ner­lei Al­ter­na­ti­ve zum vor­lie­gen­den gibt. Wie ge­sagt, weit ent­fernt von ei­ner Hoch­sti­li­sie­rung der Op­fer­rol­le der Deut­schen oder gar des »Vol­kes“, ver­su­chen die­se Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen die nicht an der Front ge­sam­mel­ten Er­leb­nis­se des Krie­ges (Bom­ben­näch­te; Le­bens­mit­tel­knapp­heit; De­nun­zi­an­ten­tum; Un­ter­drückung – falls über­haupt be­merkt) im Kon­text der Ge­schichts­schrei­bung zu ver­an­kern. In die­se Ka­te­go­rie passt im üb­ri­gen auch das Echo­lot-Pro­jekt von Wal­ter Kem­pow­ski.

Et­li­che Bü­cher des letzt­ge­nann­ten Gen­res ent­fer­nen sich durch bei­spiels­wei­se ex­pres­sio­ni­sti­sche Er­zäh­lun­gen von der mög­li­chen Iden­ti­fi­ka­ti­on des Le­sers mit ei­ner der Fi­gu­ren. Das ver­hin­dert den nicht er­wünsch­ten Ef­fekt ei­ner »Stamm­tisch­ge­sell­schaft«, die »gu­te« Er­in­ne­run­gen« an ei­ne schlim­me Zeit pflegt und in Ver­harm­lo­sung oder Über­sti­li­sie­rung en­det. Die Mög­lich­keit des Miss­ver­ständ­nis­ses (im Sin­ne des com­mon sen­se) ist dann we­sent­lich ge­rin­ger. Mar­tin Walsers Er­in­ne­rungs­buch »Ein sprin­gen­der Brun­nen« wählt die­sen Weg nicht. Sein Er­zäh­len ist kon­ven­tio­nell, ge­ra­de­zu alt­mo­disch in sei­ner zu­wei­len pe­dan­ti­schen Chro­no­lo­gie. Zwar ent­fernt sich der Dich­ter von sei­ner Haupt­fi­gur, in dem er die­se mit »Jo­hann« an­re­det, aber so­viel von Jo­hann kann nur Jo­hann sel­ber wis­sen.

Da­bei wä­re es mü­ßig nach Über­ein­stim­mun­gen zwi­schen Wal­ser und Jo­hann zu su­chen und/oder Dif­fe­ren­zen aus­zu­ma­chen. Für die li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät die­ses Bu­ches hat dies kei­ner­lei Be­deu­tung. Na­tür­lich sind die Über­ein­stim­mun­gen so er­drückend, wie die Un­ter­schie­de viel­fach sind. Na­tür­lich sind es im­mer auch Dich­tun­gen, die der Wahr­heit un­ter­lau­fen. In­ter­es­sant an die­sem Buch sind zwei an­de­re Aspek­te: Kann man ein Buch über ei­ne Dik­ta­tur so schrei­ben, wie ei­nem da­mals die­se im Le­ben, im All­tag er­schie­nen ist? Und: Wäscht die­se Sicht nicht nach­träg­lich al­les rein?

Wal­ser muss die­se bei­den Aspek­te beim Schrei­ben ge­fühlt ha­ben. »Ein sprin­gen­der Brun­nen« be­ginnt mit ei­nem klei­nen Es­say über die Mög­lich­kei­ten bzw. Ge­setz­mä­ßig­kei­ten, oh­ne das heu­ti­ge Wis­sen über die Zeit zwi­schen 1932 und 1945 schrei­ben zu kön­nen. Der er­ste Satz ist Pro­gramm für das gan­ze Buch: »So­lan­ge et­was ist, ist es nicht das, was es ge­we­sen ist.« Und: »Wenn et­was vor­bei ist, ist man nicht mehr der, dem es pas­sier­te.« Wal­ser er­läu­tert, dass er er­zäh­len wird, als sei das, was er heu­te weiß, nicht be­kannt. Es ist das Ide­al des rei­nen Er­zäh­lens, oh­ne nach­träg­li­che Ver­schö­ne­run­gen oder Dra­ma­ti­sie­run­gen, oh­ne fal­sche My­then oder wis­sen­den Zei­ge­fin­ger; »na­tur­be­las­se« nann­te es ein­mal die Li­te­ra­tur­kri­ti­ke­rin Iris Ra­disch. Wal­ser möch­te sich und sei­ne Fi­gu­ren vor nach­träg­li­cher Ent- oder Ver­stel­lung jeg­li­cher Art be­wah­ren. Es ist ein Er­zäh­len, wel­ches Be­schul­di­gen ge­nau­so un­mög­lich ma­chen soll wie Ent­schul­di­gen. Nicht Re­fle­xi­on auf das Ge­we­se­ne, son­dern rei­ne Wie­der­ga­be der »Ge­gen­wart«.

Wir ken­nen das al­le: Wir le­sen ein Buch zum er­sten Mal. Ir­gend­wann wie­der. Aber wir le­sen es nie mehr so, wie beim er­sten Mal. Wir wer­den es im­mer am Ein­druck des er­sten Le­sens mes­sen, an den Kri­ti­ken, die wir vor­her und vor al­lem nach­her ge­le­sen und ge­hört ha­ben, an un­se-ren Be­find­lich­kei­ten, als wir es je­mals ge­le­sen ha­ben. So er­geht es auch un­se­rem Le­ben. Mit Er­schrecken stel­len wir oft fest, wie wir in ei­ner be­stimm­ten Si­tua­ti­on des Le­bens re­agiert ha­ben. Im nach­hin­ein. Spä­ter war dann al­les klar. Oder spä­ter er­scheint al­les rich­tig. Oder falsch. Will Wal­ser sei­ne Ge­ne­ra­ti­on ret­ten? Will er für ei­ne be­stimm­te Form des Ver­ständ­nis­ses wer­ben?

Die­se Fra­gen sind es, die al­le­mal wich­ti­ger sind, als zu mo­nie­ren, es fehl­ten ein­deu­ti­ge Hin­wei­se oder gar Ver­ur­tei­lun­gen auf Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und Ju­den­mord. Es sind die Ver­tre­ter der mo­ra­li­schen Re­zep­ti­ons­ge­schich­te, die dies ein­kla­gen. Und die Ver­tre­ter der »Wil­den« se­hen den Geist des Re­vi­sio­nis­mus auf­leuch­ten, ei­ne Art Idyl­li­sie­rung ei­ner Kind­heit in der Na­zi­zeit im fer­nen Was­ser­burg am Bo­den­see.

Der Vor­wurf der Idyl­len­ma­le­rei wirft zwei Fra­gen auf: Ist es Wal­ser ge­lun­gen, ge­mäß sei­ner Me­tho­de zu er­zäh­len und ist es tat­säch­lich so, dass die Zeit es Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ver­harm­lost oder gar ent­schul­digt wird (Kri­ti­ker mein­ten, be­son­ders im drit­ten Teil hier­für An­zei­chen zu fin­den)? Oder ist es ein sehr ge­nau­es, ja ge­ra­de­zu au­then­ti­sches Er­zähl­stück, wel­ches mit nai­vem Kin­der­blick, der aber stets Di­stanz ver­rät, na­del­stich­ähn­lich dem deut­schen Spieß­bür-ger den Spie­gel vor­hält und ihn sei­nes Op­por­tu­nis­mus ent­larvt? Wä­re al­so letzt­lich Walsers Buch auch wie­der der Mo­ral­re­zep­ti­on zu­zu­ord­nen, wenn auch an­ders da­her­kom­mend?

Wie in so vie­lem sind die Ur­tei­le auch hier nicht ein­deu­tig oder gar ein­hel­lig fest­zu­le­gen. Ei­ner­seits er­scheint das Buch über ei­ni­ge Strecken wie ei­ne mund­art­li­che Groß­va­ter-Er­zäh­lung ei­ner Kind­heit, nicht un­be­dingt aus der »gu­ten, al­ten Zeit«, aber doch min­de­stens aus ei­ner an­de­ren Zeit, die vom Leser/Zuhörer mit of­fe­nem Mund auf­ge­nom­men wird. Nach all den mo­ra­li­sie­ren­den Er­zäh­lun­gen und Ro­ma­nen der Nach­kriegs­li­te­ra­tur mag dies durch­aus Neu­land für den »ge­stan­de­nen« Le­ser sein. Ein Schnitt im Er­zähl­text er­eig­net sich nicht, viel­mehr scheint al­les still und lei­se vor sich hin­zu­plät­schern. Hier liegt dann ei­ne die Stär­ke des Bu­ches: Der Ein­tritt der Mut­ter in die Par­tei ist nicht das wei­he­vol­le Er­eig­nis oder – re­tro­spek­tiv be­trach­tet – das »ein­schnei­den­de« Er­leb­nis, son­dern ein ba­na­ler Vor­gang, nicht oh­ne Hin­ter­grund­ge­dan­ken (näm­lich die ört­li­chen Par­tei­sit­zun­gen in ih­rem Gast­haus statt­fin­den zu las­sen). Das Üben des »deut­schen Gru­ßes« bei Ja­kobs Freund Adolf (!) und die Vor­trä­ge von Adolfs Va­ter ob der »neu­en Zeit« (Her­mann Lenz!) wer­den nicht mit nach­träg­li­cher Recht­fer­ti­gung oder Ver­harm­lo­sung kom­men­tiert, son­dern als sich un­mit­tel­bar er­eig­nen­de Sach­ver­hal­te ein­ge­bet­tet (es bleibt – am Ran­de – ei­ne in­ter­es­san­te Fra­ge, wie­so Wal­ser das Buch in der Ver­gan­gen­heits­form er­zählt hat und nicht in der Ge­gen­wart).

Am be­sten wird die­ses Prin­zip im zwei­ten Teil deut­lich, als ein Zir­kus den Ort be­sucht, un­mit­tel­bar nach dem Öster­reich-An­schluss im Jahr 1938. Wal­ser legt zwei zu­sätz­li­che Hand­lungs­strän­ge an: der ei­ne zeigt sei­ne kind­li­che Lie­be oder Ver­eh­rung zum Zir­kus­kind Ani­ta. Der an­de­re gibt die zu­nächst gar nicht spür­ba­re Be­dro­hung und Ein­schüch­te­rung durch die Na­zis der Stadt wie­der. An vie­len klei­nen und klein­sten Stel­len vor­her vor­be­rei­tet und als sol­ches nicht be­son­ders un­ge­wöhn­lich, wird auf ein­mal im Ein­prü­geln auf den »Dum­men Au­gust«, des­sen po­li­ti­scher Dis­put mit dem Di­rek­tor ein­deu­ti­ge re­gime­kri­ti­sche An­spie­lun­gen ent­hielt, greif­bar. Nach der Vor­stel­lung wird er von Un­be­kann­ten zu­sam­men­ge­schla­gen. So­fort wird das wirk­li­che Aus­maß der In­fil­tra­ti­on und des Be­dro­hungs­po­ten­ti­als spür­bar, und zwar bes­ser, als dies mit er­ho­be­nem Zei­ge­fin­ger mög­lich wä­re.

Das Buch ist voll mit sol­chen Tem­po­wech­seln, be­son­ders in den er­sten bei­den Tei­len. In der un­mit­tel­ba­ren Kind­heit (im er­sten Teil, 1932) wird der Kon­tra­punkt durch die Fi­gur von Jo­hanns Va­ter ver­deut­licht. Ein ge­schäft­lich auf al­len Ebe­nen schei­tern­der, in­tel­lek­tu­ell je­doch auf an­de­rem Ni­veau ste­hen­der Mann, der für den klei­nen Jo­hann prä­gend wird. Er er­rich­tet ihm ei­nen »Wör­ter­baum«: Wör­ter, de­ren Ver­ste­hen ei­ne Welt er­zeugt, ei­ne an­de­re Welt. »Jo­hann, ich stau­ne« ist Jo­hanns Lieb­lings­satz des Va­ters. Un­ver­gess­lich die Sze­ne, in der der Va­ter Jo­hanns Kopf um­schließt und weint. Die Ver­letz­lich­keit des Va­ters der Do­mi­nanz der Mut­ter ge­gen­über und die Welt­ver­zweif­lung wer­den dann sehr dicht.

Der Va­ter stirbt früh. Den­noch bleibt Jo­hann dem Va­ter ver­bun­den, ent­wickelt ge­ra­de­zu kul­ti­sche Ver­eh­rung für Ge­gen­stän­de, die er von ihm be­kom­men hat oder ge­fun­den und – vor al­lem – vor sei­nem „Wör­ter­baum“, al­so et­was Ab­strak­tem. Hier, im zwei­ten Teil, zeigt sich die Ge­fahr die­ses Un­ter­neh­mens: Selbst­ver­ständ­lich möch­te Wal­ser be­reits in der Kind­heit, spä­te­stens je­doch in der Ju­gend die Wur­zeln für Jo­hanns spä­te­re Kar­rie­re ge­legt wis­sen. Die­se wird zwar nicht er­wähnt, da es je­doch ziem­lich wahr­schein­lich ist, dass es sich bei Jo­hann um den Au­tor sel­ber han­delt bzw. weil der Le­ser im Glau­ben dar­an ge­las­sen wird und fahr­läs­sig mit die­ser Mei­nung al­lei­ne ge­las­sen wird, ent­steht ei­ne Art my­thi­sches Ver­mächt­nis, ei­ne Über­sti­li­sie­rung, ei­ne Art Ent­rückungs- oder Ver­zückungs­er­leb­nis ei­nes Schrift­stel­lers. Über-spitzt for­mu­liert: Wal­ser er­zeugt nicht nur ei­nen »My­thos« des Schrift­stel­ler­tums, son­dern sie-delt den Keim in an­rüh­ren­der At­mo­sphä­re an und ent­wirft ei­ne Art Fa­tum. Ex­akt hier, und nicht et­wa in For­mu­lie­run­gen wie »In ih­ren ho­hen Stiefeln...sahen sie [die Na­zis] aus, als könn­ten sie tun, was sie woll­ten«, wird das so sorg­fäl­tig auf­ge­bau­te Prin­zip des Er­zäh­lens oh­ne Wis­sen des Ge­we­se­nen kon­ter­ka­riert: Selbst­ver­ständ­lich be­steht kein Zwei­fel dar­an, dass der Wör­ter­baum Syn­onym für ei­ne Schrift­stel­ler­exi­stenz ist. Aber ge­nau dies wä­re so­zu­sa­gen aus der rück­wär­ti­gen Be­trach­tung aus er­zählt (und ‑ne­ben­bei- mit ver­steckt eli­tä­rem An­satz). Und so ge­ra­ten dann solch wun­der­schö­nen Pas­sa­gen und Sät­ze wie »...ver­gaß er [Jo­hann] fast, was er hier soll­te, weil er den Tan­nen zu­hö­ren woll­te, wie sie schwie­gen un­ter dem Schnee« im Kon­text sei­nes Wach- und Mi­li­tär­dien­stes kurz vor En­de des Krie­ges zu min­de­stens merk­wür­di­gen Selbst­sti­li­sie­run­gen.

So ge­glückt vie­le Pas­sa­gen in dem Buch sind, da sie ei­ne wirk­li­che, manch­mal fass­ba­re At­mo­sphä­re schaf­fen, ja ver­dich­ten, so oft bricht Walsers er­klär­tes Ziel zu­sam­men: Furcht oder gar Angst scheint Jo­hann, der 1945 noch ein­ge­zo­gen wird, nicht zu ken­nen. All­zu prä­sent ist dem Er­zäh­ler Jo­hanns Über­le­ben. Aber auch das Ge­gen­teil, ei­ne Art Gal­gen­hu­mor oder Fa­ta­lis­mus oder auch ein­fach nur Gleich­gül­tig­keit – nichts. Jo­hanns Jah­re von 1944–45 be­stehen wei­test-ge­hend aus der Ent­ste­hungs­ge­schich­te sei­ner Ge­dich­te (ein Lieb­lings­the­ma von Schrift­stel­lern: wann sie nicht schrei­ben konn­ten und dann wie­der) und pu­ber­tä­rem Ma­stur­bie­ren und dem (sanft) ge­walt­tä­ti­gen Wer­ben um die Toch­ter des Päch­ters bzw. das Den­ken dar­an (Walsers Er­zäh­len der Ma­stur­ba­tio­nen ist den­noch sehr fein­füh­lig, über­haupt nicht ob­szön und mag durch­aus in Duk­tus und Zart­heit die Stim­mung ei­nes Jun­gen in die­sem Al­ter kenn­zeich­nen. Aber auch hier nennt, be­nennt Jo­hann »sein Teil« nicht ein­fach wie al­le an­de­ren Kin­der, son­dern als »Ich bin der ich bin.« Jo­hann soll uns eben als je­mand be­son­ders ge­zeigt wer­den).

Man hat als Le­ser kei­ne Angst um Jo­hann, aber er hat auch kei­ne. Selbst in der er­grei­fend­sten Sze­ne des drit­ten Teils, als der Dorf­gen­darm, der im­mer nur die Nach­richt ei­nes »ge­fal­le­nen« Fa­mi­li­en­mit­glieds bringt, durch das Dorf geht, Jo­hann auf ei­nem Ap­fel­baum sitzt und des­sen Weg ver­folgt und es ir­gend­wann ein­deu­tig klar ist, daß er in ihr Haus kommt und dort der Mut­ter die Nach­richt vom To­de sei­nes Bru­ders Jo­sef bringt, selbst hier wird der in zwei, die Sät­zen em­pha­tisch aus­ge­drück­te Schmerz der Mut­ter, in merk­wür­di­ger Ab­ge­brüht­heit von Jo­hann (und sei­nem Er­zäh­ler) „be­rich­tet“.

Wal­ser soll – da­mit kein fal­scher Ton auf­kommt – nicht der »üb­li­che« Vor­wurf der Ver­harm­lo­sung, gar der »Um­keh­rung« ge­macht wer­den. Das, was ich sei­nem Buch vor­wer­fe, ist ei­ne In­kon­se­quenz sei­nem ei­ge­nen An­spruch ge­gen­über. ‚Jetzt sa­gen wir, dass es so und so ge­we­sen sei, ob­wohl wir da­mals, als es war, nichts von dem wuss­ten, was wir jetzt sa­gen.’ Ge­nau dies ist es aber: In Walsers Er­zäh­len ist hier schon im­pli­zit ein Wis­sen um das spä­te­re vor­han-den – al­le­mal, wenn in die­sem gra­vi­tä­tisch-na­iv-spitz­bü­bi­schen Ton er­zählt wird wie es Wal­ser macht. Beim Auf­schrei­ben ei­nes Trau­mes be­merkt Jo­hann ein­mal, dass er nun nicht mehr sei­nen Traum auf­ge­schrie­ben hat, son­dern nur das „was er für die Be­deu­tung des Trau­mes hielt«. Der Traum, so der Er­zäh­ler, sei durch das Auf­schrei­ben zer­stört wor­den. Jo­hann schließt dar­aus, dass er sich nicht der Spra­che an­ver­traut hat­te, son­dern schrieb, was er hat­te schrei­ben wol­len. Hier liegt Walsers Irr­tum: So­we­nig es mög­lich ist, ei­nen Traum so­zu­sa­gen »rein« auf­zu­schrei­ben, so un­mög­lich ist es, »au­then­tisch«, sich rein der Spra­che an­ver­trau­end zu er­zäh­len. Das Buch en­det mit der pa­the­ti­schen und auch ein we­nig ein­fa­chen Flos­kel »Die Spra­che, dach­te Jo­hann, ist ein sprin­gen­der Brun­nen«. Was das be­deu­tet, bleibt im va­gen, un­deut­li­chen.

Es gibt al­so ein gu­tes Le­ben im Schlech­ten, da ich da­mals das, was ich heu­te weiß, nicht ge-wusst ha­be. Ist aber nicht dies der Punkt, der es mög­lich macht/machen könn­te, das ge­sam­te deut­sche Volk »rein­zu­wa­schen«? Wenn wir da­mals »nichts von dem wuss­ten, was wir jetzt sa­gen«, kann man uns denn dann über­haupt ver­ant­wort­lich ma­chen für das Ge­sche­he­ne? Die­se Fra­ge ist nicht nur be­rech­tigt, son­dern exi­sten­ti­ell in der Be­wer­tung des po­li­ti­schen Ver­hal­tens von Men­schen wäh­rend und nach ei­ner Dik­ta­tur.

Vor­der­grün­dig ist dies Walsers In­ten­ti­on nicht. Be­dro­hung, In­fil­tra­ti­on sind spür­bar bis in den All­tag hin­ein. Über Jo­hann be­kommt der Le­ser ein Bild vom ste­ti­gen, manch­mal erst über Um­we­ge er­fahr­ba­ren Ein­sickern des Na­zi­tums in die Le­bens­welt. Wäh­rend der Va­ter an­th­ro-po­so­phi­sche Ver­samm­lun­gen in der Gast­stät­te ab­hält, tagt ne­ben­an ei­ne Par­tei­ver­samm­lung der NSDAP. Schär­fer könn­te der Kon­trast nicht aus­ge­drückt wer­den. Wal­ser sti­li­siert die Prä­gung Jo­hanns durch den Va­ter zwar ge­le­gent­lich et­was hoch, aber ge­nau dies kann ja Re­fle­xi-on auf das Ge­sche­he­ne sein, so­zu­sa­gen ein Stück Wunsch­den­ken in­ner­halb der Er­in­ne­rung. Im drit­ten Teil wird die Blocka­de der Be­völ­ke­rung mit der Aus­ein­an­der­set­zung der (ei­ge­nen) Ver­gan­gen­heit und die fast un­glaub­li­che Fle­xi­bi­li­tät im Um­gang da­mit deut­lich. Jo­hanns Freund Adolf sei in bri­ti­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft, sagt Adolfs Mut­ter Jo­hann und vom Stolz, den Sproß sei­ner­zeit (im vor­aus) »Adolf« ge­tauft zu ha­ben (1932), kommt man zum Stolz, ihn mit zwei­tem Na­men »Ste­fan« ge­tauft zu ha­ben (1945). Jo­hann ent­spricht so­fort der Mut­ter Wunsch, ihn zu­künf­tig Ste­fan zu nen­nen, in dem er aus­ruft, da ha­be ja der Ste­fan Glück ge­habt, in die­se Ge­fan­gen­schaft zu kom­men.

»Ein sprin­gen­der Brun­nen« ist kein Buch, wel­ches die Zu­stän­de (Op­fer/­Tä­ter-Di­cho­to­mie) um­kehrt. Und das nicht nur, weil es im ihm um­ge­ben­den Le­bens­raum (zu­nächst) kei­ne Op­fer gibt (au­ßer viel­leicht den Dum­men Au­gust). Walsers Wei­ge­rung, die­se so­zu­sa­gen nach­träg­lich in ei­ne Er­zäh­lung ein­zu­bau­en, ist nicht nur ver­ständ­lich, son­dern auch ehr­lich. Und als Jo­hann nach der ziem­lich un­spek­ta­ku­lä­ren Heim­kehr vom Ster­ben vie­ler sei­ner ehe­ma­li­gen Schul- und Dorf­freun­de er­fährt, mag für ei­nen Mo­ment beim Le­ser das Feh­len des mo­ra­li­schen Zei­ge­fin­gers ver­misst wer­den. Es geht Wal­ser nicht um das Wis­sen oder Un­wis­sen all der ge­sche­he­nen Greu­el­ta­ten. Er rich­tet nicht – aber er ent­la­stet auch nicht. Men­schen wer­den hier mit all ih­ren Feh­lern, Irr­tü­mern, In­fa­mi­tä­ten und Ge­fähr­lich­kei­ten ge­zeigt. Spür­bar ist die Di­stanz, die der Er­zäh­ler letzt­lich zu al­len Fi­gu­ren hat.

Es wä­re ein Feh­ler zu glau­ben Wal­ser wol­le ei­ne mo­ra­li­sche Am­ne­stie. Hier­nach steht ihm nicht der Sinn. Er möch­te er nur die Kind­heit ver­tei­di­gen (ei­nes sei­ner Bü­cher hieß so ein­mal). Ver­tei­di­gen vor ei­ner Ge­ne­ra­ti­on, die letzt­lich we­der Kennt­nis noch Ah­nung von der Le­bens­wirk­lich­keit der Zeit hat­te. Die­ser An­satz mag neu und für die re­bel­li­sche Ge­ne­ra­ti­on Nach­ge­bo­re­nen un­be­frie­di­gend sein. Er wä­re falsch, wür­de man ei­ne »Schlußstrich«-Debatte hier­aus ab­lei­ten wol­len. Er wä­re heil­sam, könn­te man Walsers Buch als ei­nen Be­ginn ei­ner vor­ur­teils­freie­ren und da­mit auch in­ten­si­ve­ren Aus­ein­an­der­set­zung der All­täg­lich­keit in ei­ner Dik­ta­tur be­grei­fen.