Karl Ove Knaus­gård: Aus der Welt

Karl Ove Knausgård: Aus der Welt

Karl Ove Knaus­gård:
Aus der Welt

Hen­rik Van­kel ist 1970 ge­bo­ren und 26 Jah­re alt, als er ei­ne Stel­le als Aus­hilfs­leh­rer, be­fri­stet auf ein Jahr, in ei­nem als Dorf be­schrie­be­nen Ort in Nord­nor­we­gen an­tritt. Es ist kalt und es schneit. Mit dem Win­ter be­ginnt die Zeit, in der es auf dem Hö­he­punkt nur rund ei­ne Stun­de am Tag hell ist, der Son­nen­auf­gang naht­los in den ‑un­ter­gang über­geht. Hen­rik ist un­ge­bun­den, lebt al­lein, in ei­nem Miets­haus. Über ihn wohnt Lin­da, acht Jah­re äl­ter, eben­falls Leh­re­rin, mit ih­rem Ehe­mann Ri­chard.

Oh­ne gro­ße Um­stän­de kommt Karl Ove Knaus­gård in sei­nem 1998 er­schie­ne­nen Erst­lings­ro­man »Aus der Welt« (nor­we­gisch: »Ute av ver­den«, laut Über­set­zungs­pro­gramm eher: »Nicht von die­ser Welt«) auf das be­stim­men­de The­ma die­ses Hen­rik zu spre­chen: Er ist an­ge­zo­gen von ei­ner Cli­que 13jähriger Mäd­chen der Schu­le, von Han­na, Ka­ta­ri­na, An­net­te und Mi­ri­am, die er »mei­ne Mäd­chen« nennt. Ich-Er­zäh­ler Hen­rik re­gi­striert »ihr ver­le­ge­nes Lä­cheln und ih­re er­rö­ten­den Ge­sich­ter« und kon­sta­tiert: »ir­gend­et­was an ih­nen brach­te mich aus dem Kon­zept«. »Was hat­ten sie an sich, das mich so aus der Fas­sung brach­te, was war es?«, so fragt Hen­rik am An­fang. Be­son­ders hin­ge­zo­gen fühlt er sich zu Mi­ri­am. Es be­ginnt als Schwär­me­rei, fast wie ein Teen­ager, was sich auch dar­in zeigt, dass der Ich-Er­zäh­ler ei­ni­ge Im­pres­sio­nen laut­ma­le­risch, in Co­mic­spra­che, un­ter­stüt­zend schil­dert.

Al­les an und von Mi­ri­am wird be­ob­ach­tet und ge­deu­tet: »Als wä­ren nur wir zwei im Raum, zieht sie vor­sich­tig das wei­te T‑Shirt straff, lä­chelt kurz und dreht sich dann um.« Im Un­ter­richt stei­gert sich das Ver­lan­gen bis­wei­len noch: »Ich hät­te zu ihr ge­hen kön­nen, nur um sie zu rie­chen, dach­te ich, den Ge­ruch ih­res war­men, feuch­ten Woll­pull­overs auf­zu­neh­men. Die Sü­ße des Atems.« Aber es muss un­ter­drückt, darf nicht of­fen­sicht­lich und von an­de­ren be­merkt wer­den. Denn es sind doch »Kin­der­stim­men, Kin­der­au­gen, Kin­der­ge­dan­ken, Kin­der­schuld, Kin­der­scham«, so be­schwört er sich sel­ber.

Ver­ge­bens. Als sie ihn un­ver­hofft be­sucht, flammt die Lei­den­schaft voll­ends auf. Er »war vol­ler Zärt­lich­keit für sie«, für ih­re »kur­zen ja­pa­ni­schen Schrit­te«, den »grü­nen Augen…kurzgeschnittenen Haa­ren«, dem »langgliedrige[n] Kör­per.« Kann es sein, dass sie auch in ihn ver­liebt ist? »Mi­ri­am, drei­zehn Jah­re alt, ver­liebt in mich? Nein, nein, nein! War­um soll­te sie? Gro­ßer Gott, hat­te ich jetzt völ­lig den Ver­stand ver­lo­ren, dach­te ich…« Noch gibt es die­se Bar­rie­re, das ge­sell­schaft­li­che Ta­bu. Den­noch Ver­ab­re­dun­gen für wei­te­re Be­su­che, auch wenn er ein­mal ihr Klin­geln nicht er­wi­dert.

Hen­rik ist ei­ne Be­ob­ach­tungs­ma­schi­ne und, wie es scheint, ein Mei­ster der In­ter­pre­ta­ti­on von Ge­sten, Zei­chen und Ge­spro­che­nem. Er neigt zu pa­ra­no­iden Zü­gen, be­zieht vie­les auf sich. Aber die Mei­ster­schaft er­weist sich schnell als frag­wür­dig. Mit Lin­das Avan­cen spielt er, in­dem er ei­nen an­ony­men Brief an Ri­chard schreibt. Hier­in deu­tet er ein Ver­hält­nis Lin­das mit ei­nem an­de­ren Mann an. Er war­tet auf die Re­ak­ti­on, die je­doch aus­bleibt; Ri­chard lädt ihn so­gar zum Fi­schen ein und als er ihn auf ei­nen Brief an­spricht, weiß die­ser von nichts.

Und als sich Lin­da bei ei­nem Fest auf sei­nen Schoß setzt, in­ter­pre­tiert Hen­rik die­ses Ver­hal­ten als Auf­for­de­rung. Ih­re Re­ak­tio­nen auf das Strei­cheln ih­res Bau­ches ver­lei­tet ihn zu wei­te­rem, über­grif­fi­gem Ver­hal­ten. Er geht zu weit: »Lin­da starr­te mich an, zu­nächst un­gläu­big, bis ihr Blick sich lang­sam mit Ver­ach­tung füll­te und ich be­griff, wie grau­sam ich mich ge­irrt hat­te.« Aber Hen­rik ist an die­sem Abend an­ge­sta­chelt. Er wen­det sich der we­ni­ger at­trak­ti­ven, aber an­schei­nend in­ter­es­sier­ten Ire­ne, eben­falls ei­ne Kol­le­gin, zu. Die An­ge­le­gen­heit droht zu es­ka­lie­ren, als er, nach Be­en­di­gung des Fe­stes, heim­lich in Ire­nes Haus ein­dringt und sie auf der Toi­let­te über­rascht. Sie stellt ihn zur Re­de und Hen­rik geht. Sein Fehl­ver­hal­ten schiebt sie auf des­sen über­mä­ßi­gen Al­ko­hol­ge­nuss.

Die­se Sze­ne ist die er­ste Zä­sur in die­sem Ro­man. Man ahnt, dass Hen­rik nicht der net­te Aus­hilfs­leh­rer ist, der im­mer ein of­fe­nes Ohr für sei­ne Schü­ler hat und sich in das Leh­rer­kol­le­gi­um ein­fü­gen möch­te. »Als wä­re ich harm­los…« denkt er, als Ire­ne ihn ul­ti­ma­tiv auf­for­der­te, das Haus zu ver­las­sen. Er be­herrscht sich je­doch. Selbst be­zeich­net er sich als »das per­so­ni­fi­zier­te Un­an­ge­neh­me«.

Die Dorf­struk­tu­ren brin­gen es mit sich, dass nicht nur je­der je­den kennt, son­dern auch schnell pri­va­te Be­zie­hun­gen über das Dienst­li­che hin­weg ge­knüpft wer­den. Spä­te­stens hier merkt man, dass der Ro­man 1996 spielt, ei­ner Zeit, in der es noch kei­ne Mo­bil­te­le­fo­ne und mit­hin kei­ne »so­zia­len Netz­wer­ke« und de­ren Aus­wüch­se gab. Die Be­woh­ner sind auf sich, auf ih­re »rea­len« so­zia­len In­ter­ak­tio­nen und Kon­tak­te, an­ge­wie­sen.

Die Schü­ler du­zen ih­re Leh­rer (was, wie ich mir ha­be sa­gen las­sen, in Nor­we­gen durch­aus nor­mal ist). Den­noch dürf­te die Ver­mitt­lung des Lehr­stoffs durch Hen­rik für nor­we­gi­sche Ver­hält­nis­se eher au­to­ri­tär ge­we­sen sein. Er er­kennt die De­fi­zi­te der Schü­ler und dass er die­se nicht wird auf­lö­sen kön­nen, da ihm die Zeit fehlt. Und er kon­fron­tiert sie da­mit. Gleich­zei­tig ent­wickelt er Ver­hal­tens­the­sen zu be­stimm­ten Jahr­gän­gen, ex­tra­po­liert die Un­ter­schie­de zwi­schen 10‑, 13- und 16jährigen, die für ihn es­sen­ti­ell sind. Da­hin­ter steht die Ver­mu­tung, dass die 16jährige Mi­ri­am die Lieb­rei­ze der 13jährigen nicht mehr be­sit­zen wird. Spä­ter, im drit­ten Teil, in dem Hen­rik mit dem Zwei­fel ringt, ist er sich si­cher, dass Mi­ri­am ihn ir­gend­wann ver­ges­sen ha­ben wird.

Die Leh­rer ver­keh­ren auch mal bei den El­tern der Schutz­be­foh­le­nen. Als Mi­ri­am mit ei­nem In­fekt zu Hau­se im Bett liegt, be­sucht Hen­rik sie, um ihr Auf­ga­ben zum Wei­ter­ler­nen zu ge­ben. »Sie wand­te sich mir im Bett zu. Ich ging zu ihr. Sie sah mich mit über­rasch­ten Au­gen an. Ich leg­te ei­ne Hand auf die Decke, beug­te mich über sie und be­rühr­te ih­re hei­ßen Lip­pen mit mei­nen, ein vor­sich­ti­ger Kuss, dann strich ich ihr mit der Hand durchs Haar.« Es ist pas­siert.

Hen­rik ist sich si­cher, dass Mi­ri­am in ihn ver­liebt ist. Auch An­dre­as, Mi­ri­ams Bru­der, hat ihm dies ge­sagt (er nimmt es für ba­re Mün­ze, wäh­rend er es An­dre­as ge­gen­über na­tür­lich ab­lehnt). Die Span­nung des Le­sers bis zum En­de des Ro­mans be­steht dar­in, ob man Hen­riks Deu­tung ak­zep­tiert, ob es In­di­zi­en da­für gibt oder nicht.

Zu­nächst schie­nen se­xu­el­le In­ter­es­sen aus­ge­schlos­sen, aber der Kuss än­der­te al­les. Klar, es droht jetzt im Ro­man der Kitsch. Die­se Ge­fahr bannt Knaus­gård, in­dem Hen­riks Schwär­me­rei­en zwar mit ge­ra­de­zu Stifter’schem Ent­zücken ge­schil­dert, aber da­bei meist hin- und her­ge­wen­det wer­den. Mi­ri­am hin­ge­gen bleibt wort­karg; der Le­ser bleibt auf die Ak­tio­nen ih­rer Kör­per­spra­che an­ge­wie­sen, die al­ler­dings nur durch den Er­zäh­ler ge­fil­tert wahr­ge­nom­men und da­mit durch ihn ge­deu­tet wer­den. Kann es sein, so fragt sich der Le­ser, dass sich Hen­rik Mi­ri­ams Zu­nei­gung ihm ge­gen­über nur ein­bil­det? Wie emp­fin­det Mi­ri­am?

Die Ver­wick­lun­gen neh­men halb tra­gö­di­en­haft ih­ren Lauf. Hen­rik gibt sich gro­ße Mü­he, nach au­ßen ei­nen mög­lichst neu­tra­len Ein­druck zu hin­ter­las­sen. Im Früh­ling kommt es zu im­mer häu­fi­ge­ren, kon­spi­ra­ti­ven Be­su­chen Mi­ri­ams. Hen­rik folgt dem »Licht des Be­geh­rens« im­mer mehr. Da sit­zen sie nun bei Kar­tof­fel­chips und Co­la. Das Mäd­chen ist eher pas­siv, schaut aus dem Fen­ster oder un­ter­sucht die CD-Samm­lung. Hen­rik ist un­si­cher. Es ent­ste­hen Räu­me von Schwei­gen, ge­füllt mit Sehn­süch­ten. Am Ran­de der Pein­lich­keit. Der Le­ser will ei­gent­lich nicht Zeu­ge sein, aber er muss. Er wird zum Voy­eur, viel­leicht so­gar zum Kom­pli­zen Hen­riks, der es kaum er­war­ten kann. Ei­ne an­de­re Mög­lich­keit der Re­zep­ti­on be­steht dar­in, al­les ab­zu­leh­nen, zu ver­teu­feln, die (üb­li­che, na­he­lie­gen­de) mo­ra­lin­saure Ar­gu­men­ta­ti­on nebst dem P‑Wort vor­zu­brin­gen. Aber es ist Li­te­ra­tur. Und es gibt Grün­de, sich dar­auf ein­zu­las­sen. Schließ­lich ist Li­te­ra­tur auch Zu­mu­tung.

Schließ­lich kommt es zur se­xu­el­len An­nä­he­rung: »Sie woll­te mich ha­ben. Hart vor Be­gier­de führ­te ich die Hand ab­wärts«. Zu­nächst ver­sagt er. Am En­de wacht Mi­ri­am bei ihm am näch­sten Mor­gen auf. Die Pa­nik ist auf bei­den Sei­ten groß. Was wer­den Mi­ri­ams El­tern sa­gen? Hen­rik ent­wickelt für sie ei­ne Lü­gen­ge­schich­te und schickt sie nach Hau­se. Er geht zu Hen­ning, den er über­re­den muss, ihn zu ei­nem drei Stun­den ent­fern­ten Ha­fen zu fah­ren. Hen­rik sieht schon die wü­ten­den Dorf­be­woh­ner vor der Tü­re (es bleibt Ima­gi­na­ti­on). Schließ­lich ist er auf ei­nem Schiff in Rich­tung Kri­sti­an­sand.

Die Sze­ne­rie bricht ab. Im zwei­ten Teil er­zählt Hen­rik von sei­ner Mut­ter In­grid, vom Som­mer 1964 in Kri­sti­an­sand, ei­nem son­ni­gen Sonn­tag, der ihr Le­ben prä­gen soll­te, denn in »ein paar Stun­den wird sie dem Mann be­geg­nen, der zum wich­tig­sten in ih­rem Le­ben wer­den wird. Noch wis­sen sie nichts von­ein­an­der.« In­grid He­gre­mes ist 17 Jah­re alt, ar­bei­tet den Som­mer über in den Fe­ri­en als Wä­sche­rin, braucht das Geld, um spä­ter die Hoch­schu­le zu be­su­chen. Mit ih­rer Freun­din fährt sie zu ei­ner In­sel. Dort be­geg­net sie den als Drauf­gän­ger ver­schriee­nen Ha­rald Van­kel, drei Jah­re äl­ter als sie. In­grid ver­liebt sich, for­ciert die Be­zie­hung, wäh­rend Ha­rald eher zu­rück­hal­tend ist. Hen­rik be­tä­tigt sich hier als all­wis­sen­der, gleich­zei­tig aber auch fra­gend-be­schwö­ren­der Er­zäh­ler.

Mehr­fach kippt die Stim­mung zwi­schen den bei­den. Es ist kei­ne Lie­be auf den er­sten, nicht ein­mal zwei­ten Blick. Hin­zu kommt, dass sich Ha­ralds Fa­mi­lie hoch­nä­sig ge­bär­det. Nüch­tern Hen­riks Er­kennt­nis, dass er oh­ne die Hart­näckig­keit sei­ner Mut­ter nicht ent­stan­den wä­re. Aus­gie­big wer­den die Jah­re des Paa­res zwi­schen 1964 und 1967, der Ge­burt von Klaus, Hen­riks Bru­der, be­han­delt, die fi­nan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten, die be­reits ein­set­zen­den Ehe­pro­ble­me. Als der Er­zäh­ler 1970 als zwei­tes Kind auf die Welt kommt, nimmt die Ge­schich­te Fahrt auf. Skiz­zen­haft das Le­ben in ei­ne neu er­rich­te­ten Wohn­sied­lung (die Jah­re spä­ter wie­der auf­ge­ge­ben wird). Es kommt 1984 zum Zer­würf­nis zwi­schen Klaus und sei­nem Va­ter, was dann zur Tren­nung zwi­schen In­grid und Ha­rald führt. Hen­rik stu­diert sechs Jah­re, geht kurz vor dem Ab­schluss nach Nord­nor­we­gen und bleibt dort bis zur »Flucht« neun Mo­na­te. So en­det das zwei­te Ka­pi­tel – mit Hen­rik al­lei­ne in ei­nem Zim­mer in Kri­sti­an­sand, all dies phan­ta­sie­rend.

Es ist erst knapp die Hälf­te des Bu­ches er­reicht, da be­ginnt der drit­te Teil, ein über wei­te Strecken sur­rea­les As­so­zia­ti­ons­ge­wit­ter von mehr als 450 Sei­ten. Zum ei­nen wird der Fa­den aus dem er­sten Teil wie­der auf­ge­nom­men. Hen­rik ist in Kri­sti­an­sand an­ge­kom­men, ei­ner Stadt, in der er schon mit sei­nen El­tern ge­wohnt hat­te, in der die El­tern des Va­ters ge­lebt ha­ben und jetzt noch die her­ri­sche, kal­te Groß­mutter lebt, ei­ne Stadt vol­ler (am­bi­va­len­ter) Er­in­ne­run­gen. Er hat sich ein Zim­mer in ei­nem bei­na­he ver­fal­le­nen Haus ge­mie­tet in dem nur er und ei­ne Schlan­ge le­ben. Die Ge­dan­ken krei­sen um Mi­ri­am, er über­legt lan­ge, ob er sie an­ru­fen soll, macht es dann (wie­der die ver­gan­ge­nen Zei­ten: man muss ei­ne Te­le­fon­zel­le su­chen) und er­fährt, dass sie in der näch­sten Wo­che mit der Fa­mi­lie zu ei­ner Kon­fir­ma­ti­on nach Kri­sti­an­sand fliegt. Man schmie­det Plä­ne, sich in al­ler Heim­lich­keit zu tref­fen und Hen­rik schwankt von nun an zwi­schen Lust und Ab­nei­gung, er »will sie« und dann wie­der nicht. »Scham ist Di­stanz zu sich selbst. Oh­ne Di­stanz fällt die Scham weg«, bi­lan­ziert Hen­rik ein­mal. Er sucht sie, die Di­stanz, schei­tert aber stän­dig.

Hen­rik schickt ein Kün­di­gungs­schrei­ben an die Schu­le und kon­tak­tiert ei­nen ein­sti­gen Schul­freund. Er re­ka­pi­tu­liert die Freund­schaft, die Ab­nei­gung der Freun­din des Schul­freun­des ihm ge­gen­über, die Schwie­rig­kei­ten in der Thea­ter-AG der Schu­le (ei­ne ein­dring­li­che Schil­de­rung wird ge­lie­fert, in der Hen­rik mit­be­kommt, wie sich die Mit­schü­ler über ihn lu­stig ma­chen, weil sie glau­ben, dass er ab­we­send sei). Er lügt ihn an, was sei­ne über­stürz­te Flucht an­geht.

Hen­rik ist ein Fla­neur, über­voll von Phan­tas­ma­go­rien, Kind­heits- und Teen­age­r­erin­ne­run­gen, Alp­träu­men, die ihm bei sei­nen Aus­flü­gen durch die Stadt (meist im Re­gen) an­flie­gen. Wie von Zau­ber­hand ist man plötz­lich mit »Hen­rik sechs­zehn« oder »Hen­rik acht­zehn«, in sei­nen di­ver­sen Wohn­kon­stel­la­tio­nen mit Mut­ter, mit Va­ter oder auch kur­ze Zeit al­lei­ne, als man ihn wie ei­nen Ge­gen­stand ab­schiebt in ein Man­sar­den­zim­mer in ei­nem Haus der Groß­mutter, die sich vor­her ver­be­ten hat­te, dass Hen­rik sie so häu­fig be­su­chen kommt.

Es ist ei­ne Ju­gend mit De­mü­ti­gun­gen, die ir­gend­wann aus dem Ru­der ge­rät, in Al­ko­hol und Van­da­lis­mus er­tränkt wird. Hen­riks Ver­hält­nis zum Va­ter ist von ei­ner Mi­schung aus Ohn­macht und Hass­lie­be ge­prägt: »Sein blo­ßer An­blick hat mich be­reits ge­schwächt. Wür­de er mich jetzt ent­decken, könn­te er mich schon da­durch er­zit­tern las­sen, dass er die Stim­me er­hebt. Näh­me er mich in den Arm, wür­de ich wei­nen. Er ist der Ein­zi­ge, ge­gen den ich mich nicht weh­ren kann. Ge­gen ihn hilft kei­ne Stra­te­gie. Selbst wenn er schwach ist, bin ich schwä­cher. Und so wird es im­mer blei­ben«.

Aus­führ­lich er­fährt der Le­ser von Hen­rik An­nä­he­run­gen an die Ju­gend­lie­ben Eli­sa­beth (50 Wör­ter im Bus, die ins nichts ver­lau­fen) und Ber­te (32 an­ony­me Brie­fe als Vor­spiel). Sei­ne Au­ßen­sei­ter­rol­le in der Schu­le, die er nicht ze­le­briert (nein, der­ar­ti­ge Rol­len­kli­schees be­dient Knaus­gård nicht), das krampf­haf­te Su­chen nach Freund­schaf­ten, nach Ak­zep­tanz (er be­ginnt fast aus Ver­zweif­lung mit dem Rau­chen), sein sub­ku­ta­nes Lei­den un­ter dem Ver­sa­gen der El­tern. Bis­wei­len wir­ken Hen­riks Re­ka­pi­tu­la­tio­nen des Ver­gan­ge­nen wie the­ra­peu­ti­sche Be­wäl­ti­gungs­stra­te­gien ei­ner ver­kork­sten Pu­ber­tät, frei­lich gar­niert mit reich­lich Selbst­mit­leid.

Aber es gibt auch noch Hen­riks Traum­wel­ten von 1996. Sie sind be­droh­lich, er­zäh­len vom Auf­wa­chen und dem Nicht­mehr­wis­sen, wo man ist, wer man ist, der un­be­kann­ten Frau ne­ben ei­nem, die die Ehe­frau ist, der Lek­tü­re in Le­xi­ka, in de­nen nichts mehr von dem stimmt, was er wuss­te. »Du schlugst Mon­tai­gne nach, der hier ein be­rühm­ter Staats­mann war, du last den Ar­ti­kel über Rönt­gen, der das Ma­schi­nen­ge­wehr konstruierte…du stu­dier­test Pa­steurs über­ir­disch schö­ne Cho­rä­le und Sym­pho­nien, last über Fran­cis Ba­con, den Er­bau­er des er­sten U‑Boots.« Er ist ver­wirrt, ver­zwei­felt, denn »du konn­test mit nie­man­dem dar­über spre­chen, dei­ne Er­in­ne­run­gen an ei­ne an­de­re Welt ge­hör­ten dir ganz al­lein, vor und zu­rück blät­ter­test du in die­sem Le­xi­kon und hat­test kei­ne Au­gen mehr für et­was An­de­res«. So wird aus­führ­lich von Im­ma­nu­el Kant er­zählt, der zu Leb­zei­ten als Pio­nier der ört­li­chen Be­täu­bung gilt und nach sei­nem Tod be­kannt wur­de für ein Er­zähl­pro­jekt aus Kö­nigs­berg, ein Buch vol­ler In­ti­mi­tä­ten, das bis 1952 in Deutsch­land ver­bo­ten war. Hier nimmt Knaus­gård sein »Min Kamp«-Projekt vor­weg.

Die Dys­to­pie wei­tet sich noch. Sei­ne Frau er­war­tet ein Kind und sie be­sorgt ihm Ar­beit, um die Fa­mi­lie mit­zuer­näh­ren. Er wird weg­ge­schickt, mit dem Zug, man ahnt Schreck­li­ches, aber es wird nur ei­ne Odys­see, zu ei­nem ge­hei­men Ar­beits­pro­jekt. Zwei Mo­na­te Ar­beit, 12 Stun­den am Tag, 11 Stun­den Schlaf. Da­nach geht es zu­rück zur kur­zen Frei­zeit, in der man sich ei­nen Box­kampf mit drei zehn­jäh­ri­gen Jun­gen an­schaut. Kaf­ka­es­ke Ab­läu­fe, zu­wei­len et­was in­kon­si­stent auf­be­rei­tet, wes­we­gen der Schau­der sich in Gren­zen hält.

Man ist dann froh wenn die Ab­zwei­gun­gen ins Phan­ta­sie-Reich auf­hö­ren, merkt aber auf, wenn er wie­der fla­niert, sein Zim­mer ver­lässt. Was kommt jetzt? As­so­zia­tio­nen zu Wil­helm II beim Ur­laub in Nor­we­gen 1914. Dann ei­ne Dan­te-Ver­zet­te­lung zu der ich, der Le­ser, den Fa­den und auch ir­gend­wann die Lust ver­lor. Ei­ne Tho­mas-Bern­hard-ge­mä­ße Schimpf­re­de auf die Al­ten. Re­fle­xio­nen über Por­no­gra­phie: »In der Welt des Por­nos ist kein Raum für Nu­an­cen. Es geht nur um ganz we­ni­ge Din­ge, al­les An­de­re ist un­wich­tig, der Por­no nimmt kei­ne Rück­sicht, der Por­no ist nicht freund­lich und ver­ständ­nis­voll.« Und die Bi­got­te­rie der 2020er Jah­re nimmt er auch noch vor­weg: »…selbst den Por­no kön­nen die Acht­und­sech­zi­ger nicht in Frie­den las­sen, selbst dort müs­sen sie ei­nem mit ih­ren bor­nier­ten An­sich­ten und win­del­wei­chen Ge­dan­ken über Gleich­be­rech­ti­gung kom­men.«

Es gärt in Hen­rik Van­kel. Er strotzt vor Mord‑, Aus­lö­schungs- und Selbst­aus­lö­schungs­phan­ta­sien. Die Be­er­di­gung des Va­ters et­wa. Ein Mord an ei­nen ehe­ma­li­gen Leh­rer­kol­le­gen. Der ei­ge­ne Tod in ei­nem Ka­nal, die Schreie, wenn die Leu­te sei­ne Lei­che ent­decken. Ei­ne Be­geg­nung des 26jährigen mit dem 13jährigen. Stän­di­ge Re­fle­xio­nen und Re­fe­ra­te über Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart. Der Hö­he­punkt ist ein ima­gi­nä­res Ten­nis­match: »Die Ge­gen­wart schlägt den Ball ins Feld der Ver­gan­gen­heit, die den Auf­schlag re­tur­niert, die Ge­gen­wart bleibt an der Grund­li­nie und schlägt den Ball zu­rück, die Ver­gan­gen­heit spielt of­fen­siv und geht ans Netz, die Ge­gen­wart ver­sucht ei­nen Lob, die Ver­gan­gen­heit sprin­tet zu­rück, dreht sich ab­rupt, bringt den Ball mit ei­ner plum­pen Rück­hand hoch über das Netz, die Ge­gen­wart hat leich­tes Spiel, hart plat­ziert sie den Ball in der Ecke, ein gna­den­lo­ser Schmet­ter­ball, und die Ver­gan­gen­heit ist aus­ge­spielt wor­den. 15 – 0.« Der größ­te Wunsch schein­bar: Die Ver­gan­gen­heit aus­zu­lö­schen, in ei­ne neue Ge­gen­wart zu trans­for­mie­ren, noch ein­mal von vor­ne an­fan­gen mit dem Wis­sen von heu­te?!

Zu­kunft gibt es nur als Ge­dan­ke an Ar­chäo­lo­gen in fer­ner Zeit, die in sich über die Ge­gen­wart als Ver­gan­gen­heit lu­stig ma­chen wer­den: »Wie un­se­re Welt ir­gend­wann ei­ne Er­in­ne­rung sein wird, schö­ne Ge­schich­ten aus ei­ner dunk­len Vor­zeit, von Flug­ma­schi­nen und Au­to­bah­nen, Fa­bri­ken und Raum­schif­fen. Schön, ein­fach. […] Was wer­den die Ar­chäo­lo­gen der Zu­kunft die­sen Din­gen ent­neh­men? Ei­ne kin­di­sche und hilf­lo­se Ex­pan­si­on. Wenn­gleich char­mant. Das wer­den sie den­ken, die­se Ar­chäo­lo­gen, ge­rührt […] So wie uns manch­mal die Ex­pe­ri­men­te der Al­che­mi­sten frü­he­rer Zei­ten rüh­ren«.

Die ein­zi­ge Zu­kunft ist der Tag, an dem Mi­ri­am mit der Fa­mi­lie an­kommt. Es wird zum Count­down. Hen­rik schwankt zwi­schen Gleich­gül­tig­keit und Lust. Was wird ge­sche­hen? Die­se Fra­ge wird hier nicht auf­ge­löst wer­den.

Es ist si­cher­lich ein biss­chen un­glück­lich, dass aus­ge­rech­net Knaus­gårds er­ster Ro­man jetzt erst ins Deut­sche, nach all den an­de­ren Tex­ten, über­setzt wur­de. Im­mer­hin blieb man bei Paul Berf als Über­set­zer. Knaus­gårds sur­rea­le Phan­ta­stik, die in »Al­les hat sei­ne Zeit« (2004 »En tid for alt«, 2007 deutsch) noch deut­li­cher her­vor­tritt, zeich­net sich hier schon ab. Hen­rik ist hier zwei Jah­re wei­ter, es ist 1998 und Mi­ri­am kommt nicht mehr vor. Aber­mals phan­ta­siert er sei­nen Tod, pa­ra­phra­siert sei­ne Grab­in­schrift: Er »starb, um sich da­von zu über­zeu­gen, dass sei­ne Ge­füh­le echt wa­ren.« Mehr Pa­thos geht nicht. In Knaus­gårds er­stem Ro­man fin­det man auch schon die Ge­schwät­zig­keit, die Be­ob­ach­tungs- und Deu­tungs­ma­nie, die in sei­nen »Min Kamp«-Büchern bis zur Schmerz­gren­ze aus­brei­ten wird.

Man geht Au­tor und Buch auf dem Leim, wenn man den Ro­man auf die Lie­bes­be­zie­hung zwi­schen Hen­rik und Mi­ri­am re­du­ziert. Gleich­zei­tig for­ciert Knaus­gård ge­nau die­se Span­nung im­mer wei­ter, legt sug­ge­stiv den Keim für die­se ge­sell­schaft­lich ge­äch­te­te Be­zie­hung in Kind­heit und Ju­gend sei­ner Haupt­fi­gur. Hen­riks zeit­wei­li­ge po­ly­morph-psy­cho­ti­schen Stö­run­gen, sein »Dop­pel­le­ben« (Selbst­cha­rak­te­ri­sie­rung), ma­chen ihn bis zum Schluß un­be­re­chen­bar. Ei­ni­ge Par­al­le­len zur Welt­li­te­ra­tur, die Knaus­gård ab­sichts­voll streut, wir­ken al­ler­dings be­müht. Die größ­te Schwä­che ist die Fi­gur Mi­ri­am, die blass bleibt. Na­tür­lich kommt man rasch auf den Lo­li­ta-Ver­gleich, aber von die­ser Fi­gur hat Mi­ri­am we­nig bis nichts. Die phi­lo­so­phi­schen Ein­schü­be Hen­riks, ins­be­son­de­re was die Zeit und die Er­in­ne­rung an­ge­hen, sind manch­mal un­ter­halt­sam, die Dys­to­pien zu harm­los. Trotz ei­ni­ger Län­gen ist »Aus der Welt« ein kraft­vol­les Buch, das bis­wei­len be­rührt. Der Ro­man ist ganz si­cher kei­ne Axt im ge­fro­re­nen Meer, aber viel­leicht ein klei­ner Eis­pickel. Und da­mit mehr als so vie­les, was man der­zeit so lobt.

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  1. Sie lo­ben ja schon wie­der... Ich könn­te das nicht. Die Schil­de­run­gen Knaus­gaards kom­men mir vor wie die Ta­ge­buch­ein­trä­ge ei­nes La­bor­huhns, in­so­fern nicht weit von Kaf­ka. Das Le­ben in Nor­we­gen muss fürch­ter­lich sein; es han­delt sich wohl um ei­ne War­nung. Der Tou­ris­mus­mi­ni­ster soll­te ihn zen­sie­ren.
    Ir­gend­wie glaubt man die Lo­li­ta-Ge­schich­te nicht. Die ver­bo­te­ne Be­zie­hung. Knaus­gaard ver­sucht, uns mit Oedi­pus zu locken. Man wun­dert sich, dass in die­ser In­ti­mi­täts-Druck­kam­mer Nor­we­gen über­haupt noch Gren­zen exi­stie­ren. Das Ich die­ses Ich-Er­zäh­lers ist ei­gen­tüm­lich schwach. Es fehlt die Selbst-Idea­li­sa­ti­on. Nie­mand ist et­was Be­son­de­res; Ver­fluch­te in ei­nem klei­nen pro­te­stan­ti­schen Land. Es gibt auch kei­ne be­son­de­ren Ge­dan­ken. Al­ler Geist kommt aus dem Aus­land. Pa­steur, Mon­tai­gne, Ba­con, Rönt­gen. War­um zum Teu­fel er­schießt er sich nicht, will er sich ewig be­dau­ern?! Be­stimmt will er nicht ba­nal er­schei­nen.
    Man­che Ro­ma­ne wer­den ge­schrie­ben, um ei­ne Psy­cho­ana­ly­se durch­zu­füh­ren. Knaus­gaard er­zeugt eher das Pla­gi­at ei­ner Ana­ly­se. Er schreibt in der Ich-Form, aber er ver­steckt das Mon­ster. Man kommt nicht »an ihn ran«...

  2. Ta­ge­buch­ein­tra­gun­gen ei­nes La­bor­huhns? Kaf­ka? Wie kom­men Sie denn auf das?

  3. War sa­ti­risch ge­meint. Bei Kaf­ka wer­den die Tie­re als voll­wer­ti­ge Le­be­we­sen be­schrie­ben; bei Knaus­gaard sind die Men­schen un­ter­ent­wickelt und äh­neln »La­bor­hüh­nern« un­ter un­gün­sti­gen Hal­tungs­be­din­gun­gen. »Nicht weit ent­fernt von Kaf­ka«, be­deu­tet al­so, hier liegt ein deut­li­cher Un­ter­schied vor...

  4. Ich bin mir gar nicht so si­cher, ob ich das Buch so stark ge­lobt ha­be.

    Die Pro­ble­ma­tik ist tat­säch­lich das Ich-Er­zäh­len von Hen­rik. Ich dach­te mehr­fach an Hand­kes Tor­mann. Hier wird personal/allwissend er­zählt, die psy­chi­schen Stö­run­gen des Prot­ago­ni­sten von au­ßen fast be­schrie­ben. Knaus­gaard macht das nicht, was ei­ner­seits die Span­nung er­höht, an­de­rer­seits ei­ne An­stren­gung des Le­sers for­dert. Wie zu­ver­läs­sig ist der Er­zäh­ler?

    Die­ses Ver­fah­ren geht zu La­sten der an­de­ren Prot­ago­ni­sten, ins­be­son­de­re Mi­ri­am. An­de­rer­seits weiß man so auch nicht, was Hen­rik sich ein­bil­det und was tat­säch­lich ge­sche­hen ist.

    Das gilt ins­be­son­de­re für die »Lolita«-Geschichte, die in Wirk­lich­keit kei­ne »Lolita«-Geschichte ist, weil Mi­ri­am z. B. kei­ner­lei Las­zi­vi­tät an den Tag legt. Auch dies ist das Span­nen­de wäh­rend der Lek­tü­re. Wä­re es nur ei­ne Gö­re, die halb­nackt her­um­läuft und mit den Au­gen klim­pert, wä­re es tat­säch­lich nur noch Kli­schee. (Wo­mit nicht ge­sagt ist, dass Na­bo­kovs Ro­man das ist. Aber nach »Lo­li­ta« müs­sen al­le an­de­ren Tex­te, die sich die­sem The­ma »wid­men«, erst ein­mal die Hür­de des Epi­go­nen­tums über­win­den.)

    Das er das »Mon­ster« ver­steckt, ist tat­säch­lich ein Ein­wand, den man nicht leicht ent­kräf­ten kann. Im­mer­hin liegt die Ver­mu­tung sehr na­he, dass es zum Ver­kehr zwi­schen Hen­rik und Mi­ri­am ge­kom­men ist. Für man­che Re­zen­sen­ten (be­son­ders Re­zen­sen­tin­nen) ge­nügt dies be­reits als Mon­stro­si­tät, die na­tür­lich einszu­eins auf den Au­tor pro­ji­ziert wird.

  5. »An­de­rer­seits weiß man so auch nicht, was Hen­rik sich ein­bil­det und was tat­säch­lich ge­sche­hen ist.« – Ging mir ge­nau­so beim Knaus­gaard »Ster­ben«.
    Der Ich-Er­zäh­ler weist ei­ne ei­gen­tüm­li­che psy­cho­lo­gi­sche Blind­heit auf. Er ist für den Le­ser un­zu­ver­läs­sig. Er scheint an­de­re Per­so­nen nicht rich­tig er­ken­nen und ein­schät­zen zu kön­nen. Ty­pisch: Lin­da auf dem Schoß. Ma­chen Frau­en »eher nicht«, und wenn dann ist es auch als Ein­la­dung ge­meint.
    Even­tu­ell ist Knaus­gaard fas­zi­niert von ei­ner Pa­tho­lo­gie, die sich erst im Sta­di­um der Jun­ger­wach­se­nen-Zeit ent­wickeln kann: den lo­se be­kann­schaft­lich ver­bun­de­nen Paa­ren, die aus den Peer-Grup­pen her­vor­ge­hen. Ich könn­te mir vor­stel­len, dass die nor­we­gi­sche Ge­sell­schaft die Sphä­ren der Freund­schaft und der ex­klu­si­ven Paar­bin­dung in­zwi­schen schon ziem­lich auf­ge­weicht hat (emul­giert hat). Dann ent­steht die­ser fru­strie­ren­de Rei­gen, den man zum Bei­spiel aus der US-Se­rie »Fri­ends« kennt. Er ver­setzt Hen­rik ja in die­ses Al­ter (En­de Stu­di­um, Ein­tritt Be­ruf, Leh­rer na­tür­lich...). Vgl. Ot­to Kern­berg, The Cou­ple and the Group, 1980.
    Sie wer­den sa­gen: die Frau fehlt, aber das ist viel­leicht nur ein Schrift­stel­ler-Trick. Hen­rik = Knaus­gaard mi­nus Ehe­frau (da­mals)

  6. Die au­to­fik­tio­na­le Glei­chung ist mir (fast) im­mer zu dünn. Sie pro­ji­zie­ren die »Min Kamp«-Texte auf den Ro­man. Das ist ge­nau das, was ich be­schrie­ben ha­be. (Wo­bei im üb­ri­gen auch dort die Gleich­set­zung Au­tor = Er­zähl-Ich zu sim­pel sein dürf­te.)

    Die Blind­heit Hen­riks, die fal­schen An­nah­men – das ist eben Li­te­ra­tur. Ich mag un­zu­ver­läs­si­ge Er­zäh­ler nicht be­son­ders, aber hier ist es da­hin­ge­hend in­ter­es­sant, weil er sei­ne ir­ri­gen Deu­tun­gen meist noch re­flek­tiert. Das ist zu­gleich auch ei­ne Schwach­stel­le, weil ich nicht glau­be, dass je­mand mit sol­chen De­for­ma­tio­nen zu sol­chen Re­fle­xio­nen fä­hig ist.

  7. Neh­men wir mal an, dass die Dar­stel­lungs­ab­sicht mit dem Er­geb­nis über­ein­stimmt: das In­ne­re des Men­schen ist tat­säch­lich ein ewi­ger »Kampf« mit der Rea­li­tät. Das Rea­le per­si­stiert, die Ein­bil­dun­gen müs­sen wei­chen. Zu hun­dert Pro­zent er­folg­reich sind wir nie, ein paar Vor­ur­tei­le und ir­ri­ge Mei­nun­gen blei­ben im­mer zu­rück. So be­wegt man sich durch die Welt. Wenn das die Ab­sicht war, wä­re er Ro­man ein Höh­len­mo­dell, hier des männ­li­chen Zeit­ge­nos­sen. Der Geist flackert in der Schä­del­höh­le, und irrt sich manch­mal ge­wal­tig. Vor­al­lem wenn ei­ne Frau auf Dei­nem Schoß sitzt.
    Wenn man die­ses Mo­dell mal zu­grun­de legt, wo man es tech­nisch be­dingt mit ei­ner tur­bu­len­ten Fi­gur und an­son­sten mit lau­ter Phan­to­men zu tun hat, dann wür­de ich er­war­ten, dass die Zen­tral­fi­gur (nun, ja!) be­son­ders un­ter­halt­sam oder we­nig­stens kri­mi­nell span­nend ge­stal­tet wird. Aber Knaus­gaard wählt den An­pas­sungs­hel­den, der »auch im In­ne­ren« so lang­weil­lig ist, wie er uns von au­ßen (als ge­sell­schaft­li­cher Phä­no­typ) er­schei­nen wür­de. An­ders ge­fragt: wor­in be­stehen denn (ab­ge­se­hen von dem Tech­tel­mech­tel mit dem Teen­ager) die Tu­gen­den und Stär­ken von Hen­rik?! Wo­für hät­te er un­se­re Auf­merk­sam­keit ver­dient?! Stich­wort: In­di­vi­dua­li­tät, Selbst­über­win­dung, Ra­tio­na­li­tät, tie­fe Emo­ti­on, etc.
    Ich er­in­ne­re an Reich-Ra­nicki, und sei­nen ewi­gen Spott: Aaah, Sie sa­gen, das ist ja das In­ter­es­san­te, dass der Au­tor das In­ter­es­san­te weg­ge­las­sen hat...

  8. Ich glau­be, Reich-Ra­nickis Bon­mot ging da­hin­ge­hend, dass er ei­nem Buch Lan­ge­wei­le at­te­stier­te. Dar­auf­hin ent­geg­ne­te man ihm, dass ge­nau das vom Au­tor be­ab­sich­tigt war. Das ist na­tür­lich die letz­te Flucht der Ver­tei­di­gung (üb­ri­gens in­zwi­schen längst ex­zes­siv von In­ter­pre­ten »mo­der­ner Kunst« ver­wen­det).

    Na­tür­lich kann man sich är­gern, dass die Haupt­fi­gur nicht wie Pa­trick Ba­te­man in »Ame­ri­can Psy­cho« ein Frau­en­kil­ler ist oder ähn­lich spek­ta­ku­lä­res schafft. (Im­mer­hin: der Ver­kehr mit ei­ner 13jährigen, der da mut­maß­lich be­chrie­ben wird, ist ja nicht ganz oh­ne straf­recht­li­che und ethi­sche Re­le­vanz). Ich er­in­ne­re mich an die Lek­tü­re von Hand­kes »Der Chi­ne­se des Schmer­zes«, als die Haupt­fi­gur dort in­mit­ten ei­ner eher ru­hi­gen Er­zäh­lung plötz­lich ei­nen Mord (min­de­stens ei­nen Tot­schlag« be­geht. Dar­auf an­ge­spro­chen, dass die­se Tö­tung ein gra­vie­ren­des, den Lauf der Er­zäh­lung ra­di­kal ver­än­dern­des Er­eig­nis dar­stellt und viel­leicht ein biss­chen fehl am Plat­ze sei, ent­ge­ge­nete Hand­ke mit ei­nem ge­wis­sen Ver­ständ­nis und dem Ein­ge­ständ­nis, dass er nicht an­ders ge­konnt ha­be (sinn­ge­mäß). Ich fand das da­mals auch stö­rend, weil es die Orts­er­zäh­lung zu Gun­sten ei­ner sol­chen Ge­schich­te auf­ge­ho­ben hat­te.

    Bei Knaus­gaard plät­schert nun die Ge­schich­te und die Re­fle­xio­nen des Er­zäh­lers schü­ren mehr Er­war­tun­gen, als er be­reit ist, zu lie­fern. Ich se­he das auch als Schwach­punkt (ge­nau wie die­se dys­to­pi­schen Ein­schü­be), bin aber hin­rei­chend »ver­söhnt« mit Hen­riks Ju­gend- und vor al­lem der Va­ter­er­zäh­lung. Viel­leicht bin ich auch ein biss­chen ein­fach ge­strickt.

  9. Gu­tes Bei­spiel, der Chi­ne­se. Es gibt ei­ne Rei­he von Ele­men­tar­ereig­nis­sen, die man in ei­ner Er­zäh­lung nicht ein­fach als Zwi­schen­fall ver­wen­den kann. Na­tur­ka­ta­stro­phen, Tod der El­tern, se­xu­el­le Aus­schwei­fung, po­li­ti­sche Mor­de, etc.
    Aber ich hal­te die Teen­ager-Ge­schich­te nicht nur des­halb für ei­ne »un­pas­sen­de An­rei­che­rung«, ein fal­sches Ge­würz. Wer heu­te auf­merk­sam 13-Jäh­ri­ge Mäd­chen be­ob­ach­tet, wird eher be­stürzt sein als ero­tisch fas­zi­niert. Das ist ex­trem phan­tas­ma­tisch, was uns Knaus­gaard zu­mu­tet (Kopf-Ki­no). Und da­mit kippt die Glaub­wür­dig­keit. Ei­ne Ge­schich­te muss ja nicht rea­li­stisch sein, aber wenn es in die Ex­tre­me geht, muss sich der Er­zäh­ler sehr viel Mü­he ge­ben, da­mit der Le­ser nicht ab­springt... Dar­in lä­ge die Kunst!
    Die Va­ter-Be­trach­tun­gen moch­te ich auch. Da scheint ein Stück psy­cho­lo­gi­sche Echt­heit auf. Die ty­pi­sche Er­kennt­nis des rea­len Men­schen, nach dem Ab­schied von der kind­li­chen Idea­li­sa­ti­on, im ge­sell­schaft­li­chen Ver­gleich. Die Ver­le­gen­heit, ei­nen Va­ter zu ha­ben, der Durch­schnitt war, wenn über­haupt...

  10. Man darf nicht ver­ges­sen, dass die Ge­schich­te 1998 er­schien. Mitt­ler­wei­le ist sie al­so fast ein Vier­tel Jahr­hun­dert alt. Wo­mög­lich ver­hal­ten sich 13jährige heut­zu­ta­ge tat­säch­lich an­ders. Ich ver­mag das nicht be­ur­tei­len.