Kla­ge über den ab­ge­holz­ten Wald

Klei­ne Weg­zeh­rung für Kla­gen­furt.

Ein fast my­ste­riö­ser Ar­ti­kel des »Al­fred-Kerr-Preis­trä­gers« 2007, dem Li­te­ra­tur­kri­ti­ker Hu­bert Win­kels im »Ta­ges­spie­gel«: Der Kri­ti­ker als drit­ter Gott.

In der Be­schwö­rung der gu­ten, al­ten (Kerr-)Zeit (die es – wie im­mer bei sol­chen Rück­blen­den – nie ge­ge­ben hat) und der Aus­lo­bung des grö­ssen­wahn­sin­ni­gen, apo­dik­ti­schen Kri­ti­kers mag ja ein ge­wis­ser Phan­tom­schmerz ei­nes 68er-Ver­fech­ters aus­zu­ma­chen sein. Win­kels’ ei­ge­ne Kri­ti­ken sind üb­ri­gens oft ge­nug – gut for­mu­lier­te, aber eher sprö­de – In­halts­an­ga­ben, die ir­gend­wann dann in ei­nen rou­ti­niert-ger­ma­ni­sti­schen Jar­gon mün­den, den Le­ser je­doch mehr oder we­ni­ger in­dif­fe­rent zu­rück­las­sen. Ihm ei­nen Preis zu ver­lei­hen, der ei­nen der gröss­ten Po­le­mi­ker deut­scher Spra­che als Na­mens­pa­tron hat, ver­blüfft schon. (Aber die­ses Pro­blem ist ge­ne­rell vi­ru­lent – ein »ge­kauf­ter« Na­mens­pa­tron, der sich nicht mehr weh­ren kann.) Der Un­art vie­ler sei­ner Kol­le­gen, dass re­zen­sier­te Werk gar nicht oder nur an­ge­le­sen zu ha­ben, ver­fällt Win­kels of­fen­sicht­lich nicht. Im­mer­hin das.

Vor ei­ni­gen Jah­ren mo­de­rier­te er im Fern­se­hen ein­mal mo­nat­lich ei­ne ein­stün­di­ge Li­te­ra­tur­sen­dung, die an der »Be­sten­li­ste« des SWR an­ge­lehnt war, auf 3sat Sonn­tag früh um 10 Uhr aus­ge­strahlt wur­de und die Bü­cher die­ser »Be­sten­li­ste« vor­stell­te. Die Sen­dung war sehr viel­sei­tig kon­zi­piert: mal gab es ei­ne kur­ze fil­mi­sche Vor­stel­lung ei­nes Bu­ches, mal ein Ge­spräch mit dem Au­tor, mal ein Ge­spräch mit ei­nem Kri­ti­ker und manch­mal ein Kri­ti­ker­streit­ge­spräch. Aus Ly­rik­bän­den wur­de auch schon ein­mal vor­ge­le­sen. Die Sen­dung wur­de nach rund zwei Jah­ren ein­ge­stellt – man mag schnell er­ra­ten, war­um. Das »For­mat« (man nennt die Art der Sen­dung wohl so) war we­nig fern­seh­kom­par­ti­bel; was kein Wun­der ist, da Win­kels un­ter an­de­rem Ra­dio­re­dak­teur beim Deutsch­land­funk ist. Da Qua­li­tät grund­sätz­lich un­ter »For­mat«- und Quo­ten­re­ge­lun­gen im Fern­se­hen ran­gie­ren, war die Ein­stel­lung nur lo­gisch. Als Al­ter­na­ti­ve hat man seit­dem die Sen­dung »Li­te­ra­tur im Foy­er« teil­wei­se tri­via­li­siert, in dem die be­müh­te, aber weit­ge­hend ah­nungs­lo­se Thea Dorn über gän­gi­ge Main­stream­best­sel­ler mit Au­toren spricht – na­ja, das was man im Fern­se­hen so »tal­ken« nennt – in der Re­gel be­lang­lo­ser Small­talk.

Win­kels, des­sen An­spruch al­so un­be­streit­bar ist, ver­misst in sei­nem Ar­ti­kel den weltbewegende[n], ekstatisch-grandiose[n], größenwahnsinnige[n] An­spruch der Kri­tik. An­schlie­ssend lässt er rund ein­hun­dert Jah­re Kunst- und Kul­tur­kri­tik Re­vue pas­sie­ren, be­nennt kennt­nis­reich die un­ter­schied­li­chen Strö­mun­gen in­ner­halb der Kunst – um dann in ei­nem selt­sa­men Um­kehr­schluss das Feh­len der poin­tier­ten Kri­tik eben der Kunst bzw. Li­te­ra­tur sel­ber an­zu­krei­den.

Da klingt dann in kriegs­ve­te­ra­nen­haf­ter Wei­se ei­ne »Frü­her war al­les besser«-Klagerhetorik an, die auch noch non­cha­lant die ak­tu­el­len Prot­ago­ni­sten als Schi­mä­ren pau­schal de­nun­ziert ( das Re­ak­tio­nä­re bei Bo­tho Strauß und neu­er­dings bei Mar­tin Mo­se­bach, ein biss­chen Ka­tho­li­zis­mus bei Ar­nold Stad­ler und Pa­trick Roth und ei­ne po­li­tisch-me­dia­le To­tal­ver­ir­rung bei Pe­ter Hand­ke). Auch Grass und Wal­ser sind Win­kels nicht mehr Wid­mung wert. Es feh­len ihm die ge­sell­schaft­li­chen An­knüp­fungs­punk­te, um ethi­sche und äs­the­ti­sche Auf­leh­nun­gen vom Zaun zu bre­chen. Man kann sich den Pro­phe­ten förm­lich im Ses­sel bei ei­ner Tas­se Kaf­fee vor­stel­len, wie er sein ge­gen­über fragt Was geht uns trif­tig, schmerz­lich wirk­lich an – au­sser wir uns selbst?

Na­tür­lich liegt er mit die­ser Dia­gno­se nicht ganz falsch. Aber Win­kels kommt wie ein För­ster da­her, der den Wald ab­ge­holzt hat und jetzt be­klagt, dass es kei­nen Schat­ten mehr gibt. Die Pro­duk­te des­sen, was er (und nicht nur er) be­kla­gen, sind für das brei­te Pu­bli­kum all­jähr­lich bei­spiels­wei­se im Bach­mann­preis zu se­hen: Gröss­ten­teils blut­lee­re Pro­sa, die mit ger­ma­ni­sti­schen Knif­fen manch­mal noch ge­ret­tet wer­den kann. Das Ur­teil der Kri­ti­ker er­scheint da­bei häu­fig ge­nug ta­ges­form­ab­hän­gig.

Tex­te von Au­toren, die et­was »ris­kiert« ha­ben, die dem gän­gi­gen Main­stream et­was ent­ge­gen­set­zen wol­len, ha­ben in den letz­ten zehn Jah­ren in Kla­gen­furt ei­nen schwe­ren Stand ge­habt. Die von Win­kels be­müh­ten post­mo­der­nen Zi­ta­ten­spie­ler re­üs­sier­ten; sie ent­fach­ten je­doch nur eph­eme­re Stroh­feu­er (und mei­stens ei­nen ve­ri­ta­blen Ka­ter).

Na­tür­lich ist Kerrs Ide­al vom drit­ten Gott, den die Kri­tik zu sein ha­be, in vie­ler­lei Hin­sicht we­der prak­ti­ka­bel noch wün­schens­wert. Den Göt­tern, die in der deut­schen Kri­tik in den letz­ten 50 Jah­ren den Wald suk­zes­si­ve ab­ge­holzt ha­ben, muss man al­ler­dings at­te­stie­ren, dass sie ei­ne »gu­te Ar­beit« ge­lei­stet ha­ben. Fai­rer­wei­se muss man je­doch an­mer­ken, dass sie vor al­lem von ei­ner ei­gent­lich un­wis­sen­den Schicke­ria zu Päp­sten und/oder Göt­tern ge­macht wur­den: Mit ih­nen liess sich dann ein äs­the­ti­sches Pro­gramm ver­mit­teln, was dem po­ten­ti­el­len Le­ser dann zum Frass vor­ge­wor­fen wur­de.

Ich re­de nicht nur vom Fern­se­hen. In den 70er Jah­ren gab es – auch und ge­ra­de dort – zahl­rei­che Ex­pe­ri­men­te, zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur nicht nur kri­tisch zu be­leuch­ten, son­dern – zu­nächst ein­mal – über­haupt in den Fo­kus der Be­trach­tung zu rücken. Die­ser auf­klä­re­ri­sche Fu­ror per­ver­tie­re Jahr­zehn­te spä­ter voll­ends in tri­bu­nal­ähn­li­chen Ver­an­stal­tun­gen wie das »Li­te­ra­ri­sche Quar­tett«. Dass es auch an­ders ging, konn­te man par­al­lel im schwei­zer »Li­te­ra­tur­club« der Nach-Hei­den­reich-Ära se­hen. Und dass es noch schlim­mer geht, zeigt das ZDF im Mo­ment just mit je­ner He­roi­ne El­ke Hei­den­reich, die sich auch schon mal nicht ent­blö­det, Bü­cher und de­ren Au­toren, die sie, wie sie sel­ber zu­gibt, gar nicht ge­le­sen hat, pau­schal zu ver­un­glimp­fen.

Das sind die »Göt­ter« der Kri­tik der Ge­gen­wart, Herr Win­kels. Und in die­sem Sin­ne ha­ben Sie na­tür­lich mit ih­rem Auf­schrei recht: Wie tief ist die­ser Be­ruf ge­sun­ken, der sich in gro­ssen Tei­len zum Trend­set­ter des Mas­sen­ge­schmacks ein­fach kon­su­mier­ba­rer Li­te­ra­tur ge­macht hat.

Ge­ra­de­zu ei­ne Ver­keh­rung der Wahr­heit ist Win­kels’ Fest­stel­lung (und Dik­tum), man ha­be um­ge­schal­tet von ideo­lo­gi­scher, auch stil-ideo­lo­gi­scher Au­ßen­steue­rung auf im­ma­nen­te Text­steue­rung. Das pu­re Ge­gen­teil ist der Fall: der »Text« (an­de­re Vo­ka­beln fal­len den Kri­ti­kern nicht ein) wird nur im je­wei­li­gen ge­sell­schaft­lich-po­li­tisch-li­te­ra­risch kor­rek­ten Um­feld als sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig an­ge­se­hen. Das schränkt – na­tur­ge­mäss – nicht nur den Kreis der kri­ti­schen Re­zep­ti­ons­mög­lich­kei­ten (al­so »Tex­te«) enorm ein – son­dern lässt auch je­nen an­fangs so em­pha­tisch ver­miss­ten Grö­ssen­wahn der Kri­tik nicht ein­mal theo­re­tisch auf­kom­men. Das zu re­zen­sie­ren­de ist be­reits vor­her ei­nem Do­me­sti­zie­rungs­akt un­ter­wor­fen wor­den, der fast zwangs­läu­fig in ei­ne Dres­sur des Au­tors aufs strom­li­ni­en­för­mi­ge hin­aus­läuft.

Und wenn das von Win­kels so pau­schal mit dem Eti­kett Schi­mä­re ver­se­he­ne, ge­nau das ist, wes­sen es sich der­zeit lohnt zu strei­ten? Kon­kret: Ist nicht in Zei­ten der fort­schrei­ten­den Ba­na­li­sie­rung ge­ra­de ei­ne Kri­tik so­wohl der me­dia­len Ver­mitt­lung (bzw. auch der li­te­ra­ri­schen Um­set­zung die­ser me­dia­len Ver­mitt­lung) als auch der ka­no­ni­sier­ten Be­trach­tungs­wei­sen, das neue The­ma? Sind da nicht Au­toren wie bei­spiels­wei­se Hand­ke und Wal­ser ex­akt je­ne ver­miss­ten Auf­leh­ner (bei al­ler ver­ein­zelt viel­leicht stö­ren­den Schrul­lig­keit)? »Stö­ren­frie­de«, die frei­lich nur ob ih­res Oeu­vres über­haupt ge­hört wer­den; ein »jun­ger« Au­tor mit ähn­li­chen The­sen wä­re nie­mals zur Tee­stun­de (nebst an­schlie­ssen­dem Raus­schmiss) im »Gross­feuil­le­ton« ge­la­den wor­den.

Ist nicht Win­kels’ Rück­griff auf den bel­li­zi­sti­schen Ernst Jün­ger in An­be­tracht der ak­tu­el­len Ge­menge­la­ge ge­ra­de­zu ei­ne ob­szön an­mu­ten­de Ge­ste? Ernst­haft: Was kann ei­nen Li­te­ra­tur­kri­ti­ker des 21. Jahr­hun­derts zu die­ser Flucht trei­ben – au­sser die Ka­pi­tu­la­ti­on vor ei­ner zeit­ge­nös­si­schen Blüm­chen­li­te­ra­tur, die aber letzt­lich nur brav den Im­pe­ra­ti­ven des Li­te­ra­tur­be­triebs folgt?

Es ist ja nicht so, dass die so schmerz­lich ver­miss­te Li­te­ra­tur (oder auch Kunst) nicht exi­stiert. Sie ist frei­lich im in­züch­ti­gen Treib­haus des Feuil­le­tons ei­ne ver­nach­läs­sig­te Pflan­ze, die nur ge­le­gent­lich zu Re­prä­sen­ta­ti­ons­zwecken müh­sam auf­ge­pep­pelt ans Licht ge­zerrt wird. Das Gross­feuil­le­ton be­spricht in ei­nem Jahr viel­leicht ein­hun­dert bel­le­tri­sti­sche Bü­cher – mehr Aus­wahl exi­stiert sel­ten (da täu­schen auch die pom­pö­sen „Son­der­aus­ga­ben“ nur Quan­ti­tät vor). Schnell wer­den die Kri­ti­ken zu Me­ta-Kri­ti­ken über Kri­ti­ken. Die Na­men der Au­toren sind über die Jah­re im­mer die glei­chen. Ame­ri­ka­ni­sche Wri­tin­g­school-Ak­ti­vi­sten ge­ben im­mer mehr den Ton an. Ver­ständ­lich, dass da die Em­pha­se in der Re­zep­ti­on fehlt.

Was der Kri­tik fehlt, ist schlicht­weg der Mut. Mut zur Selbst­re­fle­xi­on, Mut zur Kri­tik, die vor al­lem auch an den ei­ge­nen bis zur Ar­ro­ganz über­zeich­ne­ten Grund­fe­sten rüt­telt und zu­nächst ein­mal den ab­ge­holz­ten Wald auf­for­stet. Das ist ein eher lang­fri­sti­ges Pro­jekt in ei­ner auch in der Li­te­ra­tur im­mer schnelllebi­ge­ren Zeit. Aber ge­ra­de dies wä­re not­wen­dig; auch um neue Schich­ten lang­fri­stig an Li­te­ra­tur (an Li­te­ra­tur und nicht an »Schmö­ker«) zu bin­den. Hier­für war Win­kels’ Auf­satz aber lei­der kei­ne gro­sse Hil­fe.

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  1. Zur Schwie­rig­keit von Kri­tik
    Zu Ih­rem letz­ten Ab­satz: Ehr­lich: Sind Sie da sel­ber op­ti­mi­stisch? Bleibt die­se Art Li­te­ra­tur nicht für We­ni­ge?

    Ich ver­stand Win­kels im­mer so, dass er ei­nen Mit­tel­weg ver­such­te: Of­fen­siv, was ja auch sei­ne Lei­den­schaft ist, au­ßer in sei­nen Ni­schen (Spe­zi­al-Pu­bli­ka­tio­nen und Deutsch­land­funk) auch im Me­di­um des Blö­den zu ver­tei­di­gen (TV)... um da­hin, über im­mer mehr Auf­klä­rung per Kri­tik (erst mal egal, wel­che, ob­wohl er sei­ne In­stru­men­ta­ri­en im­mer of­fen ge­legt hat, of­fe­ner als an­de­re), dann doch das Bes­se­re zu trans­por­tie­ren. (Und hat­te er da nicht auch ein paar Er­fol­ge?)

    Kann man über­haupt mehr er­war­ten? Beim Ver­lust der Re­le­vanz nicht nur von Li­te­ra­tur-Li­te­ra­tur, son­denr über­haupt der Schrift, so­wie von de­ren Me­di­en, näm­lich den „Qua­li­täts­zei­tun­gen“, die ein­zig noch in grö­ße­rem Rah­men auf­wän­di­ge­re „Kri­tik“ ver­su­chen (wenn auch da be­reits ziem­lich un­ge­nü­gend, aber wenn es schon mal Aus­nah­men gibt, dann doch eben da)?

    Auch die aus­füh­ren­den Per­so­nen der Kri­tik stre­ben ja nach ei­ner ge­wis­sen Re­le­vanz, al­so kom­men auch sie an­schei­nend um die Hei­den­reich-Ef­fek­te (Po­pu­la­ri­sie­run­gen = Ver­fla­chung) nicht her­um. Es geht al­so da um „Po­si­tio­nen“ (zu­sätz­lich zur Auf­merk­sam­keits­wäh­rung).

    Ich stim­me Ih­nen in dem mei­sten Be­klag­ten zu, hal­te Win­kels aber eher für ei­nen „von den Gu­ten“. So we­ni­ge gibts ja da­von nicht.

    ~.~

    Viel­leicht dann bei der Ge­le­gen­heit:
    Ich woll­te die gan­ze Zeit et­was zu Ih­rer „Meere“-Kritik sa­gen – die ich für ge­lun­gen hal­te -, aber et­was Ent­schei­den­des, den An­sprech­punkt, den aus mei­ner Per­spek­ti­ve be­son­de­ren zu Herbsts Text, ver­mis­se ich da: Ich kann ihn aber bis­her sel­ber nicht be­nen­nen.

    Ich hat­te je­man­dem den Link ge­schickt, weil ich ihm „Mee­re“ dann lei­hen woll­te. Auf mei­ne Fra­ge hin, Ge­le­sen?, ant­wor­te­te er ja...aber: Hat ihm das Buch jetzt ge­fal­len? (Schla­gen Sie nicht mich: ich re­fe­rie­re hier nur...)

  2. »von den Gu­ten«
    Ist man nicht ge­ra­de bei den »Gu­ten« be­son­ders kri­tisch? Sei­ne Idee, Li­te­ra­tur im Fern­se­hen ad­äquat zu prä­sen­tie­ren, hebt ihn per se noch nicht her­aus.

    Sei­ne Kri­tik an Hand­kes Ser­bi­en-Pro­sa ist da ex­em­pla­risch für mich. Na­tür­lich kann man Hand­kes Tex­te kri­ti­sie­ren. Die Fra­ge ist doch nach dem wie. Und da greift Win­kels dann all zu ger­ne zum gän­gi­gen Chir­ur­gen­be­steck (das, wor­auf die an­de­ren ih­re Fin­ger­ab­drücke hin­ter­las­sen ha­ben und noch blut­trie­fend ist), um ei­ne miss­lie­bi­ge The­se zu des­avou­ie­ren. Im Ta­ges­spie­gel-Ar­ti­kel ist er da­bei mit­nich­ten ge­läu­tert – son­dern greift zur glei­chen Me­ta­pho­rik.

    Wer die Dis­kus­sio­nen in Kla­gen­furt, die so­eben zu En­de ge­gan­gen sind, ge­se­hen hat, konn­te schön das Di­lem­ma der gän­gi­gen Re­zep­ti­on der Kri­tik se­hen: Da or­na­men­tie­ren neun (mehr oder we­ni­ger) elo­quen­te, all­seits ge­bil­de­te Men­schen ihr über all die Jah­re er­run­ge­nes ger­ma­ni­sti­sches Wis­sen mit nichts an­de­rem als – ih­rem ei­ge­nen Ge­schmack. Und so­bald es im wört­li­chen Sin­ne pro­ble­ma­tisch wird, al­so ein Bei­trag aus der gän­gi­gen »cor­rect­ness« her­aus­ragt und – im be­sten Sin­ne – et­was »ris­kiert« (was nicht un­be­dingt be­deu­ten muss, das er [der Bei­trag] ge­lun­gen ist), dann schnap­pen die Sche­ren des Main­streams wie­der zu.

    Ich wer­de jetzt ein­mal pa­the­tisch: Ein Kri­ti­ker, der sich von nichts mehr mit­rei­ssen las­sen kann, der al­les mit dem glei­chen Be­steck se­ziert und sei­nen Be­ruf fast mit som­nam­bu­ler »Si­cher­heit« ab­spult – der ist ver­lo­ren für die Li­te­ra­tur. Ich mei­ne da­bei na­tür­lich nicht je­nen Fünf-Cent-Fu­ror ei­ner El­ke Hei­den­reich. Ich mei­ne nicht mehr und nicht we­ni­ger so et­was wie Lei­den­schaft. Ge­nau­er: Ei­ne Mi­schung zwi­schen Lei­den­schaft und Un­schuld. Ei­ne Her­an­ge­hens­wei­se an ei­nen Text, der ihm im­mer und je­der­zeit al­le Mög­lich­kei­ten lässt.

    All das ha­be ich bei den schrift­li­chen Kri­ti­ken von Win­kels sel­ten ge­le­sen. Son­dern im­mer nur ei­nen rou­ti­nier­ten Ap­pa­rat, der mich als Le­ser ir­gend­wann kalt lässt. Dar­in, in je­ner ge­le­gent­lich so­gar wich­tig­tue­ri­schen Kom­pe­tenz­si­mu­la­ti­on, liegt ein Pro­blem, war­um am­bi­tio­nier­te Li­te­ra­tur nicht mehr »po­pu­lär« ist (wo­bei »po­pu­lär« nicht »gou­tiert« be­deu­ten muss!). Und in die­ser La­ge er­scheint mir Win­kels’ An­ru­fung arg heuch­le­risch.

  3. Idio­syn­kra­tisch
    Wenn man un­er­bitt­lich blei­ben will, ha­ben Sie si­cher in dem mei­sten Recht. Aber: Ist das nicht das Schwie­rig­ste, sich bei all den na­he­lie­gen­den Rou­ti­nen die Lei­den­schaft zu be­wah­ren? Wenn Lei­den­schaft um ei­nen her­um in all den Zwän­gen zur Cool­ness und des „smooth ope­ra­tings“ des „Be­triebs“? (Ein biss­chen weiß ich, wo­von ich re­de... )

    Da­zu muss man Träg­heit und Be­har­rungs­ver­mö­gen der Ap­pa­ra­te, die Dick­fel­lig­keit der In­sti­tu­tio­nen und der End­adres­sa­ten, der Kon­su­men­ten, in Rech­nung stel­len. Man wird ja sel­ber zum Pawlow’schen Hund mit sei­nen Kon­di­tio­nie­run­gen (sei­nen Be­stecken und dem Re­spon­se: Ja, bit­te mehr da­von).

    An­de­rers­eist se­he ich bei Win­kels schon, dass er sich mit­rei­ßen lässt – und er ist ei­ner der We­ni­gen, die das Neue erst ein­mal be­grü­ßen und nicht gleich mü­de ab­win­ken und aufs Alt­be­kann­te ver­wei­sen, wie man es sonst so oft ser­viert be­kommt.

    Da­zu: All die­se Mul­ti­pli­kla­to­ren sind ja im­pli­zit Agen­ten des Main­streams: Selbst in der Po­se des Un­ter­wan­derns be­stä­ti­gen sie ihn, weil sie gar nicht um ihn als re­al-exi­stie­ren­den Bench­mark her­um­kom­men.

    Nein, nein: Ei­gent­lich mag ich die al­ler­mei­sten Leu­te da nicht, aber nach mei­nem Ge­fühl – oder ich kann ihn ein­fach bes­ser le­sen, al­so ab­sor­bie­ren? – ist Win­kels da noch ganz OK. UND er brigt im­mer noch Über­ra­schun­gen, weil er sei­ne Po­si­ti­on oft noch von an­ders­wo­her an­rei­chert.

    Oder ist er schlicht ei­ner von de­nen, der Ih­nen per­sön­lich auf die Ner­ven geht? Manch­mal sind das die­je­ni­gen, an de­ren man sein All­ge­mei­nes Un­be­ha­gen am be­sten ab­ar­bei­ten kann...

    Ich ha­be von Kla­gen­furt noch nix ge­se­hen... Ha­ben Sie schon ein (per­sön­li­ches) Fa­zit?

  4. Kei­ne Fra­ge, dass Lei­den­schaft zu kon­ser­vie­ren zum Schwie­ri­gen ge­hört. Wir hat­ten das ja auf Ih­rem ta­bu-Blog schon ein­mal. Selbst bei mir das Ge­fühl, schon al­les ge­le­sen und ge­hört zu ha­ben; kein zün­den­der Fun­ke mehr.

    Aber die­se Er­schöp­fung ist al­len Be­ru­fen im­ma­nent. Auch ein Fri­seur möch­te viel­leicht nicht im­mer in an­de­rer Leu­te Haa­re her­um­wüh­len. Be­rech­tigt ihn das, ei­ne schlech­te Ar­beit ab­zu­lie­fern? Oder ent­schul­digt es?

    Nein, mir geht er nicht per­sön­lich auf die Ner­ven. Ich ha­be ihn ein­mal in ei­nem Buch­la­den in Düs­sel­dorf ge­se­hen; ein Hü­ne. Ich mes­se ihn nur an sei­nen ei­ge­nen An­sprü­chen.

    Kla­gen­furt: 2007 war/ist un­be­dingt bes­ser als 2006. Es gab Pro­sa, die in ei­ni­gen Jahr­gän­gen vor­her ganz si­cher Prei­se ge­won­nen hät­ten – und ver­mut­lich jetzt leer aus­ge­hen. Ein gro­sser Hype ob ei­nes (ba­na­len) Tex­tes ei­nes Men­schen, des­sen Ge­sicht man nicht zei­gen durf­te (Pe­ter­Licht). Die Ju­ry brach in Ver­zückung aus. Ich ver­mu­te, man hat ei­ni­gen Ju­ro­ren vor­her ei­nen An­teil des Mit­tel­chen ver­ab­reicht, wel­ches den Prot­ago­ni­sten in Lichts Text Rausch­zu­stän­de er­le­ben lässt (flie­gen­de Wasch­ma­schi­nen).

    Die Dis­kus­si­on über die­sen Text setz­te sich dann heu­te mor­gen an­läss­lich ei­nes Tex­tes von Björn Kern fort. Kern, der ein mu­ti­ges Ex­pe­ri­ment ein­geht, in dem er den To­des­kampf ei­nes Men­schen ver­sucht zu er­zäh­len, wur­de mas­siv da­für ge­ta­delt. Dar­auf­hin setz­te Karl Co­ri­no, der un­ver­ständ­li­cher­wei­se zum Licht-Text ge­stern ge­schwie­gen hat­te, bei­de Tex­te im Ver­gleich, und nann­te Lichts In­sze­nie­rung ei­nen »Af­fen­zir­kus«. Das führ­te bei der Ju­ry­vor­sit­zen­den Ra­disch zu gro­sser Ver­är­ge­rung.

    Gu­te Zu­sam­men­fas­sun­gen fin­den Sie hier; ich ha­be dort auch teil­wei­se sehr spon­tan kom­men­tiert. Ich ver­mu­te, dass...nein, ich sag erst ein­mal nichts, viel­leicht schau­en Sie sich ja noch das ein oder an­de­re an (Schmidt? Bött­cher? Kern? Sei­ler?).

  5. Ja, ich wer­de mir ALLES anschauen...aber wie bei den Hol­ly­wood-Block­bu­stern: Ver­spä­tet.
    Bin aber na­tür­lich sehr neu­gie­rig... mich in­ter­es­siert Lutz Sei­ler sehr. Auch Sil­ke Scheu­er­mann.
    (Gu­te Ly­ri­ker ha­ben mir mir im­mer laaan­ge noch Vor­schuß­lor­bee­ren, auch wenn sie zwi­schen­zeit­lich mal ekla­tant ab­fie­len.)

    Die Vor­stel­lun­gen der Kan­di­da­ten in Voll­text ließ mich dies­mal selt­sam in­dif­fe­rent. Aber je­der Text kann je­der­zeit al­les im­mer her­aus­rei­ßen – wenn er es kann.

    Dan­ke für den Blog-Link!