Got­tes­sen

I – Pro­vo­ka­tio­nen

Die Ta­bus, die in un­se­rer Ge­sell­schaft Schau­der und Ent­rü­stung her­vor­ru­fen, wer­den im­mer we­ni­ger. Für ge­ziel­te Ta­bu­bre­cher, die ih­re Wir­kung nur noch auf die­se Art er­zie­len kön­nen, wird der Markt schwie­ri­ger. Ei­le ist ge­bo­ten – der Kol­le­ge könn­te am glei­chen Stoff ar­bei­ten. Bes­ser als die Prä­sen­ta­ti­on des ta­bu­bre­chen­den Kunst­wer­kes ist de­ren me­di­al in­sze­nier­te Ver­hin­de­rung. So­viel Öf­fent­lich­keit ist sel­ten und tut gut. Ker­ner ist ge­wiss. In die­se Rich­tung ge­hen die Ma­cher und Ver­lei­her des Films über die Er­eig­nis­se um den so­ge­nann­ten „Kan­ni­ba­len von Ro(h)tenburg“.

Denn: Kan­ni­ba­lis­mus ist noch ein Ta­bu. Aber war­um ei­gent­lich?

II – Zi­ta­te

Lu­kas 22,19:
Und er nahm das Brot, dank­te und brach’s und gab’s ih­nen und sprach: Das ist mein Leib, der für euch ge­ge­ben wird; das tut zu mei­nem Ge­dächt­nis.

Mar­kus 14,22:
Und als sie aßen, nahm Je­sus das Brot, dank­te und brach’s und gab’s ih­nen und sprach: Neh­met, das ist mein Leib.

Mat­thä­us 26,26:
Als sie aber aßen, nahm Je­sus das Brot, dank­te und brach’s und gab’s den Jün­gern und sprach: Neh­met, es­set; das ist mein Leib.

III – Glau­ben

Die Eu­cha­ri­stie ist der we­sent­li­che Punkt je­der ka­tho­li­schen Mes­se. Brot und Wein wer­den in der Mes­se sub­stan­ti­ell, ob­jek­tiv in den Leib und das Blut Chri­sti ver­wan­delt. Es han­delt sich da­bei kei­nes­falls um ei­ne sym­bo­li­sche Aus­le­gung! Die Ver­wand­lung ge­schieht tat­säch­lich – ei­ner der es­sen­ti­el­len Glau­bens­sät­ze der ka­tho­li­schen Kir­che (im Ge­gen­satz da­zu die „sym­bo­li­sche“ Aus­le­gung in der evan­ge­li­schen Kir­che).

Ist aber der Ge­dan­ke, vom Leib Got­tes zu es­sen nichts an­de­res als ein kan­ni­ba­li­scher Akt?

Ei­ne in­ter­es­san­te Deu­tung der Eu­cha­ri­stie fin­det sich aus­ge­rech­net (oder ge­ra­de?) bei Eu­gen Dre­wer­mann („Die Spi­ra­le der Angst“; Her­der 1991, 4. Auf­la­ge, S. 310ff):

Ge­ra­de auf dem Hin­ter­grund der ora­len Schuld­ge­füh­le möch­te die Eu­cha­ri­stie­fei­er in ih­rer ora­len Sym­bol­spra­che das mensch­li­che Da­sein von Grund auf, vom Er­le­ben der Nah­rungs­auf­nah­me her, von je­der Schuld frei­spre­chen und aus der Angst er­lö­sen, die es wi­der Wil­len im­mer tie­fer in das Di­lem­ma der agres­si­ven Trieb­re­ge­lun­gen ver­stricken muß. Wenn der ora­le Kan­ni­ba­lis­mus die tief­ste Schuld­erfah­rung dar­stellt, – nun, so scheint die­ses Sa­kra­ment sa­gen zu wol­len – so er­lau­ben wir doch von Gott her den Kan­ni­ba­lis­mus; wenn der Mensch am tief­sten da­durch ver­wirrt und er­schüt­tert wird, dass er tö­ten muß, was er am mei­sten liebt, nun so er­lau­ben wir ihm doch von Gott her, zu tö­ten, wo­von er lebt.

Er geht noch wei­ter:

Die Eu­cha­ri­stie ist wie ein ver­zwei­fel­tes, äu­sser­stes Be­mü­hen der Re­li­gi­on, dem Men­schen zu sa­gen, was psy­cho­lo­gisch ei­ne Mut­ter ih­rem Kind in der De­pres­si­on ge­ra­de nicht mehr über­zeu­gend zu sa­gen ver­mag: dass sei­ne Schuld­ge­füh­le un­be­grün­det sind, dass es, ent­ge­gen sei­nem Schuld­ge­fühl, kein Mör­der ist und das es auf­hö­ren kann, sich als Kan­ni­ba­le zu füh­len und als Kan­ni­ba­le zu le­ben, nur weil es, um zu le­ben, es­sen muß; der Gott, den man im Sa­kra­ment zu tö­ten meint, wird le­ben, – er gibt sich sel­ber hin -, es ist des Got­tes ei­ge­nes Op­fer, nicht ein Mord, was da ge­schieht.

Dre­wer­mann in­vol­viert en pas­sant noch ei­ne an­de­re Re­li­gi­on:

Die „Lo­gik“ die­ses Sa­kra­ments des Got­tes­sens ge­gen das ur­tüm­li­che ora­le Schuld­ge­fühl er­in­nert leb­haft an die al­te in­di­sche Le­gen­de, wo­nach der Bud­dha in ei­ner sei­ner frü­he­ren Exi­sten­zen als ein Ha­se zu Welt kam; und um es den Men­schen zu er­spa­ren, dass sie durch sei­nen Tod Schuld auf sich lü­den, op­fer­te der Bud­dha sich selbst in der Ge­stalt des Ha­sen und sprang von sich aus frei­wil­lig ins Feu­er.

Die­se Deu­tun­gen über­zeu­gen mich als Lai­en – für den die­se Art Bü­cher ja sein sol­len – nicht. Lö­sen wir die Grün­de für Dre­wer­manns Ar­gu­men­ta­ti­on (die Re­li­gi­on als Lö­sung wi­der den Krieg) aus dem Kon­text und fol­gen nur sei­ner In­ter­pre­ta­ti­on der Eu­cha­ri­stie (die er – ver­kürzt ge­sagt – auch als Frie­dens­bot­schaft sieht) , so blei­ben vie­le Fra­gen, die er auch aus psy­cho­lo­gi­schen Deu­tungs­mu­stern her­aus nicht be­frie­di­gend be­ant­wor­ten kann.

Mei­ne Fra­ge im Be­zug auf Kan­ni­ba­lis­mus: Ist nicht in die­ser fast or­na­men­ta­len Sym­bo­lik des Neu­en Te­sta­ments der Ge­dan­ke, sich Ei­gen­schaf­ten ei­nes an­de­ren Men­schen über sein Auf­es­sen „an­zu­eig­nen“, durch­aus vor­han­den? Und, war­um gibt es den­noch ein seit Jahr­tau­sen­den be­stehen­des Ta­bu des Kan­ni­ba­lis­mus?

IV – Schluss

Kann die als „se­xu­el­le Per­ver­si­on“ dar­ge­stell­te Hand­lung des An­ge­klag­ten im Kan­ni­ba­lis­mus-Pro­zess al­so auch an­ders ge­se­hen wer­den?

7 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ri­tu­el­len Kan­ni­ba­lis­mus gab es durch­aus in ei­ni­gen Kul­tu­ren (gar nicht so we­ni­gen). Und auch gar nicht vor sooo lan­ger Zeit. Im Jahr 1876 wur­de der eng­li­sche Mis­sio­nar Tho­mas Bak­er auf der In­sel Nu­bu­tautau, die zu Fi­dschi ge­hört, auf Grund ei­ner Ta­bu­ver­let­zung ver­speist.

  2. Das Ver­spei­sen des »Ich«
    Im Tier­reich ist Kan­ni­ba­lis­mus weit ver­brei­tet. Wenn man aber, so wie der Mensch, im an­de­ren Men­schen ein sich selbst ad­äqua­tes We­sen er­kennt, ver­speist man sich qua­si selbst. Ich bin kein Psy­cho­lo­ge, aber da müs­sen si­cher sehr star­ke und weit vom Durch­schnitt­li­chen ab­wei­chen­de Mo­ti­ve vor­lie­gen. Mir fal­len auf An­hieb vier un­ter­schied­li­che Mo­tiv­grup­pen ein:

    1. Ex­tre­me Not­si­tua­ti­on. Da­für gibt es zahl­rei­che Be­rich­te, ist si­cher­lich der un­in­ter­es­san­te­ste Fall.
    2. Re­li­gi­ös mo­ti­vier­te Ta­ten.
    3. Se­xu­el­le Mo­ti­ve.
    4. Ge­walt­phan­ta­sien.

    Vor ei­ni­ger Zeit ha­be ich ei­nen Ar­ti­kel ge­le­sen, in dem es um das Ver­hält­nis zwi­schen Se­xua­li­tät und Ge­walt ging. Ei­ne der zen­tra­len Fra­gen war, ob man männ­li­che Se­xua­li­tät und Ge­walt sau­ber tren­nen kann. Es war de­fi­ni­tiv kein Ar­ti­kel aus der fe­mi­ni­sti­schen Ecke. Für mich blieb die Ant­wort of­fen.

    Man kann sich auch die Fra­ge stel­len, ob Se­xua­li­tät und Re­li­gi­on et­was mit­ein­an­der zu tun ha­ben. Auch auf die­se Idee bin ich nicht selbst ge­kom­men, fin­de jetzt aber den Link oder Ar­ti­kel nicht mehr.

    3. und 4. sind si­cher Per­sön­lich­keits­stö­run­gen, bei kon­sen­su­el­lem Ver­spei­sen nicht nur beim Tä­ter son­dern auch beim Op­fer. Ri­tua­li­sier­ten re­li­giö­sen Kan­ni­ba­lis­mus kann man hin­ge­gen nicht als Per­sön­lich­keits­stö­rung klas­si­fi­zie­ren, weil er ja von der ge­sam­ten be­tref­fen­den Ge­sell­schaft prak­ti­ziert wird. Ob­wohl die Hy­po­the­se, be­stimm­te kul­tu­rel­le Er­schei­nun­gen wä­ren in ih­rem Kern mehr ei­ne Mas­sen­psy­cho­se als ver­nünf­ti­ges Han­deln, auch et­was für sich hat.

  3. Ri­tu­al
    Dre­wer­mann ist ja Psy­cho­lo­ge, aber sei­ne In­ter­pre­ta­tio­nen über­zeu­gen mich nicht. Ne­ben den von Dir ge­nann­ten vier Punk­ten gibt es ja noch so et­was wie ei­ne ri­tua­li­sier­te Tat, die nicht re­li­gi­ös mo­ti­viert ist, son­dern bei­spiels­wei­se in der Mei­nung gip­felt, man er­eig­ne sich die Ei­gen­schaf­ten und/oder die In­tel­li­genz des­je­ni­gen an, den man ver­spei­se.

    Hier­in be­trach­te ich den Ri­tus des Got­tes­sens – wir ver­lei­ben uns ein Stück von Gott ein, um ein biss­chen so zu sein wie er. Er (der Vor­gang) ist sel­ber m. E. nicht re­li­gi­ös, son­dern heid­nisch – wie aber das Chri­sten­tum vie­les aus heid­ni­schen Bräu­chen über­nom­men und für sich frucht­bar ge­macht hat.

    Er­klä­ren kann ich mir das nicht, denn es bleibt ja das Ta­bu be­stehen.

    Wenn der An­ge­klag­te von Ro­ten­burg nun se­xu­el­le Mo­ti­ve zu­gibt, ver­spielt er ei­ne in­ter­es­san­te Ver­tei­di­gungs­stra­te­gie, die sich auf die Eu­cha­ri­stie stüt­zen könn­te – eben de­ren wört­li­cher Aus­le­gung.

  4. Wahr­schein­lich ist Mei­wes kein Mit­glied der Kir­che. Und üb­ri­gens Ro­ten­burg (die Schreib­wei­se mit »h« aus recht­li­chen Grün­den für den Film ist al­ler­dings auch sehr pas­send.)

  5. @ C. Ar­a­xe
    Es gibt in­zwi­schen auch Stim­men, die von ei­ner Über­be­to­nung des Phä­no­mens des Kan­ni­ba­lis­mus re­den; ex­tre­me Ne­gie­rung in die­sem Bei­trag. Zwei­fel wer­den auch hier laut, zu­min­dest gibt es ei­nen Te­nor, der die gru­se­li­gen Vor­stel­lun­gen ein biss­chen re­la­ti­viert.

    Aus dem Ar­ti­kel zi­tiert:

    »Bei al­len Völ­kern«, sagt An­na-Ma­ria Brand­stet­ter, Eth­no­lo­gin an der Uni­ver­si­tät Mainz, »gilt das Ver­zeh­ren ei­nes Men­schen als ul­ti­ma­ti­ver An­griff auf des­sen Per­sön­lich­keit, als et­was Un­ge­heu­er­li­ches. Des­halb glau­be ich nicht an ei­nen ku­li­na­ri­schen Kan­ni­ba­lis­mus nur zur Be­frie­di­gung des Hun­ger­ge­fühls.« An­ders sei dies bei ri­tua­li­sier­ter Zer­stö­rung mensch­li­chen Le­bens. So wer­de in zen­tral­afri­ka­ni­schen Ge­sell­schaf­ten im­mer wie­der be­rich­tet, daß Skla­ven ge­tö­tet und zu ver­stor­be­nen Kö­ni­gen und Häupt­lin­gen ins Grab ge­legt – oder eben bei opu­len­ten To­ten­fei­ern ge­ges­sen wur­den. »Das hal­te ich durch­aus für mög­lich«, ur­teilt die Eth­no­lo­gin. »Denn nur sehr hoch­ge­stell­te Per­so­nen durf­ten an die­sen ri­tu­el­len Fei­ern teil­neh­men. Wenn sie Skla­ven ver­zehr­ten, zeig­ten sie ih­re Macht. Sie als ein­zi­ge konn­ten es sich lei­sten, die­se für das ge­wöhn­li­che Volk un­über­wind­ba­re Gren­ze zu über­schrei­ten.« So wä­re Kan­ni­ba­lis­mus letz­ten En­des nichts an­de­res als ein Mit­tel zur De­mon­stra­ti­on gren­zen­lo­ser Macht – ein zu­tiefst mensch­li­cher Zug, der nicht nur in den Zei­ten von Ho­mo ne­an­der­tha­len­sis dü­ste­re At­trak­ti­vi­tät be­ses­sen ha­ben dürf­te. In­di­zi­en da­für, daß Men­schen Men­schen aßen, gibt es ge­nug. Was je­doch un­be­weis­bar bleibt, ist das Mo­tiv da­hin­ter.

    Die­ses Mo­tiv wür­de mich ge­nau in­ter­es­sie­ren – und die Ver­bin­dung zu den je­wei­li­gen Stel­len in den Evan­ge­li­en eben­falls.

    »Roh­ten­burg« ha­be ich ent­spre­chend kor­ri­giert; dan­ke für den Hin­weis

  6. Das von Ih­nen zi­tier­te Mo­tiv hal­te ich je­den­falls für wahr­schein­lich. Klar, die Be­weis­la­ge ist schwie­rig, den­noch den­ke ich, dass hin­ter vie­len My­then und Le­gen­den ir­gend­wo auch ein Stück Wahr­heit, im Sin­ne von Rea­li­tät, ver­bor­gen ist. Und schließ­lich ent­hält die christ­li­che My­tho­lo­gie wi­der­um auch nur Ver­satz­stücke von äl­te­ren My­then.