Cy­borgs und Hu­ma­no­ide 2

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Ich möch­te der er­sten, heil­los un­voll­stän­di­gen Li­ste der Au­to­ma­ti­sie­run­gen ei­ne ganz an­de­re ge­gen­über­stel­len, die Li­ste der mensch­li­chen Ei­gen­schaf­ten und Fä­hig­kei­ten, so­weit sie nicht von Ma­schi­nen über­nom­men wer­den kön­nen, die al­so die Men­schen im Ver­gleich zur Ma­schi­ne aus­zeich­nen. Frü­her ha­ben Phi­lo­so­phen gern Mensch und Tier ver­gli­chen, um zu Aus­sa­gen über die Spe­zi­fik des er­ste­ren zu ge­lan­gen. Im 21. Jahr­hun­dert scheint es er­gie­bi­ger, den Men­schen mit der in­tel­li­gen­ten Ma­schi­ne zu ver­glei­chen. Und nicht nur er­gie­bi­ger – für mich als al­ten Hu­ma­ni­sten – old school, was will ich ma­chen – geht es vor al­lem dar­um, wel­che Ei­gen­schaf­ten und Fä­hig­kei­ten, et­wa durch die Be­quem­lich­keits­wir­kung des In­ter­nets und vor al­lem des Smart­phones, be­droht sein könn­ten und be­wahrt wer­den soll­ten. Ei­ne Zeit­lang, es ist schon ei­ni­ge Jah­re her, hat­te ich in Kants Kri­ti­ken ge­le­sen, weil ich dach­te, dort wä­ren un­se­re hu­ma­nen Ei­gen­schaf­ten auf­ge­li­stet, aber das hat mich nicht viel wei­ter ge­bracht – viel­leicht hat mir das dau­ern­de kan­ti­sche Ab­lei­ten- und Be­grün­den­müs­sen von Sät­zen den Über­blick ge­trübt. An­de­rer­seits glaubt oh­ne­hin je­der Mensch, we­nig­stens un­ge­fähr zu wis­sen, was ihn als Men­schen denn aus­macht. Ein kürz­lich er­schie­ne­nes Buch, Mensch­lich­keit von Jür­gen Gold­stein, ver­spricht, die Be­son­der­hei­ten zu­sam­men­zu­fas­sen, aber es sag­te mir nicht viel Neu­es: Re­nais­sance, Eras­mus, Mon­tai­gne (den ich halb aus­wen­dig kann), Auf­klä­rung, das al­les hat­te ich im sel­ben Sche­ma schon vor fünf­zig Jah­ren ge­lernt und ei­ni­ger­ma­ßen be­hal­ten. Auch daß Bio­lo­gis­mus und Ras­sis­mus und vor al­lem, wie Hit­ler und die Sei­nen die­se »Dis­zi­pli­nen« in die Tat um­setz­ten, das Ge­gen­teil von Hu­ma­nis­mus be­deu­tet. In­ter­es­sant in Gold­steins Buch sind al­ler­dings die spä­ten Ka­pi­tel über neue­re Be­stre­bun­gen, das Hu­ma­ne zu »über­win­den«. Tech­nik­chau­vi­nis­mus und An­ti- oder Post­hu­ma­nis­mus grei­fen da in­ein­an­der. Aber sonst? Was ist ei­gent­lich das Hu­ma­ne, und wie kann, wie soll es fort­be­stehen? Läßt es sich auf­li­sten? Muß es not­ge­drun­gen hy­brid, tech­no­id wer­den?

Ei­ne Ord­nung wer­de ich wohl nie in mei­ne Ah­nun­gen brin­gen kön­nen, da­zu be­darf es ei­nes sy­ste­ma­ti­sche­ren Gei­stes. Es wird bis auf wei­te­res bei ei­nem Brain­stor­ming blei­ben, das sich viel­leicht suk­zes­si­ve aus­wei­ten läßt. Fen­ster auf, Sturm im Kopf, die Blät­ter ra­scheln. Mehr als ein sol­ches Blät­ter­ra­scheln brin­ge ich nicht zu­stan­de. Kei­ne Hier­ar­chien. Man könn­te das An­ge­weh­te we­nig­stens al­pha­be­tisch ord­nen. Aber wo­zu?

Wir sind die Un­be­re­chen­ba­ren. Die­se Aus­sa­ge soll­te schon mal nicht am An­fang ste­hen son­dern am En­de, ei­ne Art Re­sü­mee. Un­se­re »Ap­pli­ka­tio­nen« – was auf deutsch nichts an­de­res heißt als: un­se­re An­wen­dun­gen (von Tech­no­lo­gie) – le­sen uns, be­rech­nen uns, rech­nen uns aus, sa­gen uns vor­her. Die Tech­no­lo­gie­kon­zer­ne stel­len uns, na­tür­lich nicht oh­ne Pro­fit­in­ter­es­se, Ko­pi­lo­ten, Ge­sprächs­part­ner, Die­ner, Freun­de, Seel­sor­ger zur Sei­te, das al­les in ei­ner Per­son, Ein­sam­keit ist aus der Welt ge­schafft, je­der­mann und je­de­frau geht in ste­ter Be­glei­tung durchs Le­ben, wie man in je­dem be­lie­bi­gen öf­fent­li­chen Raum be­ob­ach­ten kann.

Wenn wir uns et­was Mensch­li­ches be­wah­ren kön­nen, dann hat es mit un­se­rer Un­be­re­chen­bar­keit zu tun. Wir han­deln und den­ken in­tui­tiv, ha­ben plötz­lich Ein­fäl­le, Lau­nen, tun Din­ge, die nicht zu­sam­men­pas­sen, und stel­len im nach­hin­ein fest, daß sie »ir­gend­wie« doch zu­sam­men­pas­sen. Der Com­pu­ter gibt vor, selbst die­ses Ir­gend­wie noch be­rech­nen und als Er­geb­nis ir­gend­ei­nes De­ter­mi­nis­mus aus­wei­sen zu kön­nen. Wir glau­ben ihm nicht. Wir ent­zie­hen uns dem De­ter­mi­nis­mus. Im­mer noch. Die Un­be­re­chen­bar­keit kann man auch »Frei­heit« nen­nen.

Aus den­sel­ben Grün­den sind wir in­no­va­tiv. Wir sind in der La­ge, Neu­es zu schaf­fen, an­ders als die di­gi­ta­len Ma­schi­nen, die oh­ne um­fang­rei­che Ar­chi­ve – auch »Da­ten­ba­sis« ge­nannt – gar nichts zu­we­ge brin­gen. Zu­ge­ge­ben, auch wir brau­chen ei­ne Ba­sis, aber dann ge­nügt oft ei­ne klei­ne, un­vor­her­ge­se­he­ne Wen­dung, da­mit Neu­es ent­steht. Krea­ti­vi­tät kann man nicht pro­gram­mie­ren.

Prompt: »Mach mir ein Bild im Sti­le von Klimt oder von Ghi­b­li.«
Nichts leich­ter als das!
Ein Mu­sik­stück im Sti­le von Mo­zart, W. A.
Nichts leich­ter als das!
»Mach mir et­was Neu­es!«
Ja, was?
Mach es selbst!

Al­te Weis­heit: Com­pu­ter ha­ben kei­ne Ge­füh­le. Aber die neu­en Ein­hei­ten, We­sen, Bots, Hu­ma­no­ide, wie im­mer ihr sie nen­nen mögt, si­mu­lie­ren Ge­füh­le. Sie sind zum Bei­spiel un­be­irr­bar freund­lich, ge­dul­dig, höf­lich. Oder un­be­irr­bar fies, man kann sie um­stel­len, an­ders ein­stel­len. Sie sind nie schlecht auf­ge­legt. Sie sind nie gut auf­ge­legt. Sie ler­nen zwar, ent­wickeln sich aber nicht – al­lein schon über die­ses »sich« wä­re zu dis­ku­tie­ren. Sich – wen? Bei Men­schen än­dern sich die Ge­füh­le, Grün­de da­für kann es vie­le ge­ben, sie lie­gen in­nen oder au­ßen, bei mir oder bei den an­de­ren. Ge­füh­le mi­schen sich im­mer mit Ge­dan­ken. Ge­dan­ken sind nie frei von Ge­füh­len, der gan­ze Be­wußt­seins­strom wird im­mer­zu von Ge­füh­len be­glei­tet. Das macht die Ge­dan­ken dy­na­misch, das gibt ih­nen Form.

Wir ha­ben Mit­ge­fühl. »Wir«, das heißt die mei­sten von uns. Man­che viel­leicht nicht. Kommt dar­auf an. Mo­de­wort: »Em­pa­thie« (ich zie­he »Mit­ge­fühl« vor). Ma­schi­nen kön­nen Mit­ge­fühl si­mu­lie­ren. Be­haup­ten läßt sich vie­les. Wir müs­sen Wor­ten Ta­ten fol­gen las­sen.

Je nach Kon­text, wir stel­len uns auf den Kon­text ein. Kön­nen Ma­schi­nen das, sich auf ei­nen Kon­text ein­stel­len, um­stel­len? Sich an­pas­sen, ja. Der Al­go­rith­mus paßt sich an mich an, er ist ei­ne An­pas­sungs­ma­schi­ne. Und er paßt mich an sich an, in­dem er mir mei­ne Wün­sche vor­spie­gelt, mich fes­selt, in sein Ge­fäng­nis sperrt.

Ich kann mich in dich hin­ein­ver­set­zen. Li­te­ra­ri­sche Wer­ke, be­son­ders Ro­ma­ne, auch Ki­no­fil­me, sind Hin­ein­ver­set­zungs­ma­schi­nen par ex­cel­lence. Ich schrei­be »Ma­schi­nen«, nicht weil die Tech­nik so wich­tig wä­re, son­dern weil sie tat­säch­lich funk­tio­nie­ren – oder nicht. (Nicht funk­tio­nie­ren­de Ma­schi­nen ent­sor­gen wir. Bei Wer­ken kön­nen wir war­ten. Ein an­de­rer, in ei­nem an­de­ren Jahr­hun­dert, kann sie viel­leicht ge­brau­chen.) Wie die »Wunsch­ma­schi­nen« von De­leu­ze und Guat­ta­ri, ih­re ma­chi­nes dé­si­ran­tes. Bist du ei­ne Wunsch­ma­schi­ne, Co­pi­lot, Chat­bot, wer auch im­mer? Nein, du hast kei­ne Wün­sche. Du willst mir al­len­falls die­nen. Be­haup­test du.

Ich ver­set­ze mich in dich, ob Freund oder Feind, hin­ein und kann dich so­gar ver­ste­hen. In Be­zug auf Ma­schi­nen, selbst die in­tel­li­gen­te­sten, wird oft fest­ge­hal­ten, daß sie den Sinn, den sie durch ra­send schnel­le sta­ti­sti­sche Be­rech­nung pro­du­zie­ren, nicht ver­ste­hen. Wenn man kei­nen Sinn ver­steht, kann man auch nichts in­ter­pre­tie­ren.

Ob dem wirk­lich so ist und blei­ben muß – da bin ich mir al­ler­dings un­si­cher. Viel­leicht kön­nen wir Ma­schi­nen In­ter­pre­ta­tio­nen in ei­ni­gen Be­rei­chen er­lau­ben (sic!). Mo­ra­li­sche In­ter­pre­ta­tio­nen – im­mer die­sel­ben nie­der­schmet­tern­den Bei­spie­le: Ist es »bes­ser«, ein Klein­kind oder ei­nen al­ten Men­schen zu tö­ten? Gut, daß Men­schen in sol­chen Si­tua­tio­nen af­fek­tiv han­deln, in ei­nem an­de­ren Zu­stand, Aus­nah­me­zu­stand. (Aus­nah­me­zu­stän­de kennt die Ma­schi­ne nicht.) Wir wis­sen dann auch im nach­hin­ein nicht und kön­nen nicht ana­ly­sie­ren, war­um wir so ge­han­delt ha­ben und nicht an­ders. Ist die Durch­ra­tio­na­li­sie­rung der mo­ra­li­schen Ent­schei­dun­gen wirk­lich so wün­schens­wert?

Me­di­zi­ni­sche In­ter­pre­ta­tio­nen bei der Dia­gno­se: Mein Herz­schritt­ma­cher be­rech­net sta­ti­stisch, wie vie­le Un­re­gel­mä­ßig­kei­ten beim Herz­schlag durch­schnitt­lich auf­tre­ten. Er kann viel mehr Da­ten zu­ein­an­der in Be­zie­hung set­zen als die Ärz­tin. Oder? Die Ärz­tin tut es in­tui­tiv und auf­grund ih­rer lan­gen Er­fah­rung. Auch, weil sie mich als leib-see­li­sches, den­kend-füh­len­des Men­schen­we­sen kennt. Ih­re Dia­gno­se ist ei­ne In­ter­pre­ta­ti­on, aus der sie dann Schluß­fol­ge­run­gen zieht. Die Dia­gno­se des Schritt­ma­chers, al­so mei­nes ky­ber­ne­ti­schen An­teils, ist eben­falls ei­ne In­ter­pre­ta­ti­on. Die Ärz­tin ver­gleicht ih­re Dia­gno­se mit der ma­schi­nell er­stell­ten. Die Ärz­tin ist nach wie vor die, wel­che – hin­sicht­lich der Be­hand­lung des Pa­ti­en­ten – ent­schei­det. Oder soll, im Fall von Ab­wei­chun­gen zwi­schen den bei­den »In­ter­pre­ten«, die Ma­schi­ne ent­schei­den? Was, wenn mir die Ma­schi­ne an­de­re Me­di­ka­men­te und Do­sie­run­gen ver­schreibt? Wem traue ich mehr? Viel­leicht will ich so­gar, wie beim Fuß­ball-Ab­seits, lie­ber Feh­ler ris­kie­ren? Feh­ler ris­kie­ren kann dann hei­ßen: Le­ben ris­kie­ren.

Hier stel­le ich nur die Fra­gen, mehr nicht.

Das al­te Zau­ber­wort »Fle­xi­bi­li­tät«, laut Heß­ler kam es in den sieb­zi­ger Jah­ren in der Wirt­schafts­welt in Schwang. Fle­xi­bi­li­tät ist An­pas­sungs­fä­hig­keit. Sie zeich­net uns Men­schen aus. Aber auch die Tie­re, zu­min­dest als Ar­ten (laut Dar­win). Je­der, der ei­nen Per­so­nal­com­pu­ter ver­wen­det, weiß, daß auch die­se Din­ger sich an­pas­sen. Eben des­halb nen­nen wir sie »per­so­nal«. Es sind nicht mehr je­ne al­ten Ge­rä­te, die in der Bi­blio­thek, im In­ter­net­ca­fé oder wo auch im­mer je­der­mann zur Ver­fü­gung ste­hen. Nein, sie ha­ben mich ge­spei­chert, sie re­agie­ren auf mich, sie sind mei­ne Part­ner. Al­lein schon die­se Auf­for­de­rung: »Ma­chen Sie dort wei­ter, wo Sie auf­ge­hört ha­ben!« Der Com­pu­ter weiß es. Ich weiß es nicht. Er kennt mich. Sein Ge­dächt­nis ist »bes­ser«. Aber nicht mensch­li­cher.

Trotz­dem: Un­se­re mensch­li­che An­pas­sungs­fä­hig­keit ist viel­fäl­ti­ger, ge­schmei­di­ger, viel­leicht stö­rungs­an­fäl­li­ger, aber in Sum­me doch ganz an­ders als die der Ma­schi­ne. Wir ge­hen täg­lich mit vie­len Men­schen um. Wir ge­hen auch in die Tie­fe, wir ver­bin­den un­se­re An­pas­sung mit Ge­füh­len, so­gar mit Wi­der­stän­den. Kennt die Ma­schi­ne Wi­der­stand? Sagt sie: Ich mag dich nicht – und geht dann trotz­dem mit mir? Pa­ra­dox!

Mein Ge­dächt­nis ist nicht bes­ser oder schlech­ter, son­dern an­ders. Es funk­tio­niert an­ders. Im Grun­de ge­nom­men »spei­chern« die Men­schen das Er­fah­re­ne und Er­leb­te nicht. Der Com­pu­ter spei­chert die In­for­ma­tio­nen eins zu eins und eins zu null, ent­we­der ja oder nein, ent­we­der das Da­tum wird ge­löscht oder es bleibt da. Wir aber er­in­nern uns va­ge, die Er­in­ne­rung kehrt zu­rück oder wird schwä­cher, die »Da­ten« än­dern sich im Lauf der Zeit, der Jah­re, sie ge­hen an­de­re Ver­bin­dun­gen ein, bil­den an­de­re Ge­schich­ten, nicht un­be­dingt ge­gen­sätz­li­che, son­dern an­de­re Nu­an­cen, neue Dif­fe­ren­zie­run­gen, neue Ver­sio­nen. Die Kind­heit der mei­sten Men­schen ist in der Er­in­ne­rung über­wie­gend schön. In der Wirk­lich­keit war sie wohl we­ni­ger schön. Ist das ein Man­ko? Ein Vor­teil?

Das Ge­dächt­nis des Com­pu­ters hin­ge­gen bleibt stur: un­fehl­bar und un­fle­xi­bel.

Die Ma­schi­ne wägt nicht ab. Sie tut et­was, oder tut es nicht. Null­punkt­eins, plus­mi­nus, li­ke oder dis­li­ke: Wir pas­sen un­ser Den­ken den Com­pu­tern an. Viel­leicht ha­ben die mei­sten Men­schen im­mer schon so ge­dacht-ge­fühlt, in Po­si­tiv-Ne­ga­tiv-Ka­te­go­rien, schwarz­weiß. Aber die gu­te mensch­li­che Mög­lich­keit, die Hu­ma­ni­sie­rungs­mög­lich­keit, ist es doch, vom Schwarz-Weiß-Den­ken weg­zu­kom­men, zu nu­an­cie­ren, im­mer wei­ter zu dif­fe­ren­zie­ren, das Ge­gen­teil be­stehen zu las­sen und ei­ne Viel­zahl zu den­ken, ei­ne Plu­ra­li­tät von Sin­gu­la­ri­tä­ten, die sich äh­neln mö­gen, ver­gleich­bar, aber nicht gleich. Der Zwei­fel spielt da­bei ei­ne we­sent­li­che Rol­le. Ma­schi­nen zwei­feln nicht, aber für ein ech­tes Ab­wä­gen braucht es den Zwei­fel.

Jür­gen Gold­stein er­in­nert dar­an, daß Tho­mas Mann, der gro­ße Ro­man­cier, sich einst als Ak­ti­vist des Hu­ma­nis­mus be­tä­tig­te, aber be­zwei­fel­te, daß der mensch­li­che, men­schen­ge­mä­ße Zwei­fel die Welt vor dem Krieg und Deutsch­land vor dem Un­ter­gang ret­ten kön­ne. »In al­lem Hu­ma­nis­mus liegt ein Mo­ment der Schwä­che, das mit sei­ner Ver­ach­tung des Fa­na­tis­mus, sei­ner Duld­sam­keit und sei­ner Lie­be zum Zwei­feln, kurz: mit sei­ner na­tür­li­chen Gü­te zu­sam­men­hängt und ihm un­ter Um­stän­den zum Ver­häng­nis wer­den kann.« Im Klar­text, den man erst im Rück­blick ge­win­nen kann, denn sei­ne es­sen­ti­el­le Schwä­che wur­de dem Hu­ma­nis­mus zum Ver­häng­nis: Die Ver­fech­ter der Mensch­lich­keit wi­chen im­mer wei­ter zu­rück, sie wo­gen ab, leck­ten auch mal den Spei­chel der Star­ken und Lau­ten, ge­rie­ten da­bei aber schnell auf ver­lo­re­nen Po­sten. Das­sel­be ge­schieht auch heu­te, die Hu­ma­ni­sten rei­ben sich die Au­gen, mit wel­cher Ge­walt und Ge­schwin­dig­keit der Neo­fa­schis­mus hu­ma­ni­sti­sche, mo­ra­li­sche Stan­dards ab­baut, und sie wis­sen ihm nichts ent­ge­gen­zu­set­zen. Wei­ter soll der Ver­gleich nicht ge­hen, die Zei­ten und Tech­no­lo­gien ha­ben sich ge­än­dert, aber Do­nald Trump und Adolf Hit­ler eint ih­re Bru­ta­li­tät, ihr Selbst­be­haup­tungs­wil­le – Heid­eg­ger pries ihn ei­ne Zeit­lang –, ih­re Rück­sichts­lo­sig­keit, die Ver­ächt­lich­ma­chung von al­lem, was ih­rem Ego, ob es nun das Volk ist oder die Bra­ven oder die Ras­se oder der Füh­rer ist, ent­ge­gen­steht.

Auf der an­de­ren Sei­te, auf ver­lo­re­nem Po­sten, die Fä­hig­keit zum Zwei­feln. Zum Ab­wä­gen. Zum Aus­gleich.

Die so­ge­nann­te KI üb­ri­gens, die Mi­cro­soft mir wie je­dem User mit ih­rem Sy­stem un­ter­ju­belt, hat wie­der mal über­haupt nichts be­grif­fen. Sie zer­legt das obi­ge Zi­tat und be­haup­tet mit ih­rem ma­schi­nel­len, al­so »ob­jek­ti­ven«, »Ge­rech­tig­keits­sinn«, Tho­mas Manns Wer­ke sei­en »ein ein­drucks­vol­les Bei­spiel da­für, wie er die po­si­ti­ven und ne­ga­ti­ven Aspek­te des Hu­ma­nis­mus in sei­nen Wer­ken dar­ge­stellt hat.«

Aha. Ne­ga­ti­ve Aspek­te. Tho­mas Mann dreht sich im Grab um. Im­mer noch auf ver­lo­re­nem Po­sten.

Kitsch ist schön. Wür­de man die äs­the­ti­schen Wert­ur­tei­le der der­zeit im Um­lauf be­find­li­chen »Künst­li­chen In­tel­li­genz« auf die Welt an­wen­den, sie wür­de nach Strich und Fa­den ver­kitscht. Die Mas­se scheint das üb­ri­gens nicht zu stö­ren. Las­sen wir z. B. un­se­re Groß­städ­te von KI be­grü­nen. In der Welt, die da­bei her­aus­kommt – vor­läu­fig nur vir­tu­ell –, möch­ten die mei­sten rea­len Mit­bür­ger gern le­ben.

Dem­ge­gen­über hal­te ich fest, daß KI über­haupt kei­ne Wert­ur­tei­le zu fäl­len in der La­ge ist. Pro­zes­siert sie ei­nen mensch­li­chen Be­fehl, nein, ei­ne Für­bit­te wie die­se (»Mach un­se­re lie­ben Städ­te doch bit­te grü­ner!«), gibt sie nichts an­de­res wie­der als den Mas­sen­ge­schmack. Auch das ist ei­ne Si­mu­la­ti­on.

Was wir krie­gen, wenn wir Com­pu­ter­pro­gram­me ar­bei­ten las­sen, sind Mu­ster, und wenn wir die­se auf In­hal­te be­zie­hen, er­ge­ben sich Kor­re­la­tio­nen. Die Kor­re­la­ti­on ist kein Zu­sam­men­hang. Ich, all­zu mensch­lich, kann nicht de­fi­nie­ren, was ein Zu­sam­men­hang »ei­gent­lich« ist, aber ich weiß, daß es vie­le ver­schie­de­ne Ar­ten von Zu­sam­men­hän­gen gibt, daß die Her­stel­lung von Zu­sam­men­hän­gen auf mensch­li­chen Er­fah­run­gen (die ein In­di­vi­du­en oder ei­ne Viel­zahl von In­di­vi­du­en vor­aus­set­zen, wo­bei je­des In­di­vi­du­um ei­ne Ent­wick­lungs­ge­schich­te be­sitzt) be­ruht und oft spon­tan bzw. in­tui­tiv ge­tä­tigt wer­den – in vie­len Fäl­len kom­men sie für das Sub­jekt selbst über­ra­schend.

Stau­nen und die Fä­hig­keit, sich über­ra­schen zu las­sen, ist ei­ne wei­te­res mensch­li­ches Spe­zi­fi­kum. Wor­über staunt der Chat­bot, die in­tel­li­gen­te Ma­schi­ne? Über den mil­li­on­sten Son­nen­un­ter­gang, den sie mir in ei­ner Se­kun­de hin­ma­len kann? Nein, sie staunt nicht, und ih­re Son­nen­auf- wie auch ‑un­ter­gän­ge sind lang­wei­lig. (Aber das sind auch die Mil­li­ar­den Di­gi­tal­fo­tos der Men­schen, die durch Tik­Tok usw. an­ge­schwemmt wer­den.)

In­tel­li­gen­te Ma­schi­nen, so­ge­nann­te LLM mit ih­rem rie­si­gen Da­ten­bauch, kön­nen – wie al­le an­de­ren Ma­schi­nen – nicht al­tern. Wä­re es kein An­thro­po­mor­phis­mus, man könn­te sa­gen, sie sei­en ur­alt. Sie wer­den ur­alt ge­bo­ren. Men­schen da­ge­gen blü­hen auf, ler­nen, ent­wickeln sich, än­dern sich, rei­fen, al­tern, ster­ben. Ma­schi­nen kön­nen nicht ster­ben. Sie wer­den de­fekt, dys­funk­tio­nal. Man re­pa­riert oder ent­sorgt sie.
Das­sel­be könn­te man von Men­schen sa­gen: Man re­pa­riert sie, und wenn sie nicht mehr re­pa­ra­bel sind, ent­sorgt man sie. Man wirft sie weg oder ver­brennt sie. Das stimmt. Und es stimmt nicht. Wir hal­ten Ze­re­mo­nien ab und ge­den­ken der To­ten. Wir sind kei­ne Ma­schi­nen. Oder nur halb. Wir sind Tie­re. Ko­mi­sche Tie­re, drô­les de bêtes.

Wir sind Tie­re, Men­schen und Cy­borgs. Wir ha­ben drei Hälf­ten.

Mein Be­gräb­nis ist mir egal. Mein Nach­le­ben ist mir egal. Es ist ei­ne An­ge­le­gen­heit der Über­le­ben­den, nicht von mir. Be­han­delt mich ru­hig wie ei­ne Ma­schi­ne!

Was ha­be ich ver­ges­sen? Das mei­ste. Gibt es wei­se Ma­schi­nen? Nein. Aber es gibt – ein paar, we­ni­ge – wei­se Men­schen. Kön­nen wir die Ganz­heit des­sen, was uns um­gibt, er­ken­nen? Ja. Nein. Wir bil­den es uns ein. Sind Er­fah­run­gen et­was an­de­res als ein Bün­del von Da­ten? Ja. Nein. Kommt dar­auf an, wie man sie be­trach­tet.

Nichts Mensch­li­ches ist den Ma­schi­nen fremd. Sie kön­nen al­les, eig­nen sich al­le Fä­hig­kei­ten an, doch ih­re An­eig­nungs­wei­se, fast könn­te man sa­gen: ih­re Seins­wei­se, ist die Si­mu­la­ti­on. Ei­nes Ta­ges wä­re ei­ne On­to­lo­gie der Ma­schi­nen zu schrei­ben. Von Men­schen, oder…

Ber­tolt Brecht hat von den Mü­hen der Ebe­nen ge­spro­chen. Und von den Mü­hen der Ge­bir­ge, die (an­geb­lich) hin­ter »uns« lie­gen. Gibt es kei­ne neu­en Ge­bir­ge, kei­ne neu­en Ebe­nen hin­ter die­sen? Doch, doch. Je­den­falls ist Si­sy­phos nicht da­zu ver­dammt, im­mer wie­der von vor­ne an­zu­fan­gen. Er hat den Stein längst lie­gen ge­las­sen, oder zu­rück­rol­len las­sen, und spa­ziert jetzt frei über die Ebe­ne, die Mü­hen er­le­di­gen ir­gend­wel­che Ma­schi­nen, der Stein hat sich in ei­nen Auf­zug ver­wan­delt, aber die Mas­se hat das noch nicht be­merkt. Ei­ne Wei­le wird Si­sy­phos frei sein, frei und al­lein, oh­ne Co­pi­lo­ten, oh­ne Fahr- und Zaun­gä­ste. Si­sy­phos ist dem My­thos ent­ron­nen. Die Göt­ter ha­ben kei­ne Macht mehr über ihn. Das ist die neue mensch­li­che Fi­gur, die Ebe­ne um ihn her­um ei­ne ein­zi­ge Uto­pie. Viel­leicht wä­re das jetzt – 2025 – die neue exi­sten­ti­el­le Er­fah­rung. Der Ro­man da­zu ist noch nicht ge­schrie­ben. Oder noch nicht ent­deckt.

© Leo­pold Fe­der­mair

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