60 Jahre Deutschland in zehn Hochglanz-Themenbänden zu je ca. 90 Seiten: Politik, Wirtschaft, Reise und Verkehr, Kunst und Literatur, Film und Fernsehen, Musik, Mode und Design, Sport, Gesellschaft, Architektur. Die Unterteilung in den jeweiligen Bänden erfolgt chronologisch nach Jahrzehnten: Nach einer kursorischen Einführung in 60 Jahre des jeweiligen Sujets gibt es eine Doppelseite mit einem für das Jahrzehnt typischen Foto, dann vier Seiten Text (mit wenigen Fotografien), davon eine Faksimile-Seite einer Ausgabe der »Welt« zu einem wichtigen Ereignis. Danach gibt es zu weiteren Themengebieten auf acht bis zehn Seiten Fotografien mit Erläuterungen – viel Bekanntes aber auch manchmal »Schnappschüsse«, was man noch nicht kannte. Auf diese Weise kann man sich mit den Bänden der »Welt-Edition« für einige Tage auf eine Zeitreise der deutschen Geschichte seit 1949 begeben.
Die Texte von Rüdiger Dingemann und Renate Lüdde sind wohltuend; es ist glücklicherweise keine Feiertags- oder Jubelprosa. Sie sind konzise aber nicht oberflächlich, durchaus pointiert und zeigen Zusammenhänge auf. Es gibt keine dröge Vermittlung lexikalischen Wissens; wer zum Beispiel die Ergebnisse aller Bundestagswahlen, Tabellen zu Politikern und ihren Ämtern oder Werksverzeichnisse berühmter Literaten sucht, wird hier nicht bedient. Ebenso wenig wird der Leser mit Sterbedaten vermeintlich berühmter Persönlichkeiten gelangweilt; es wird im politischen Band nur ein Sarg gezeigt – der Sarg eines Bundeswehrsoldaten, der in Afghanistan ums Leben gekommen ist.
Dingemann/Lüdde geht es um die Darstellung von Entwicklungen (die natürlich, wenn sie behandelt werden, mit den relevanten Daten versehen werden). So wird beispielsweise im Band 9 »Gesellschaft – Familie und Alltag« (augenzwinkernd das Cover: Benedikt XVI und Uschi Obermaier) immer wieder die jeweiligen Rollenverhältnisse zwischen Männern und Frauen in der Bundesrepublik und der DDR gegenübergestellt und über die Jahrzehnte begleitet. Im Band 4 (»Kunst und Literatur«) gibt es Reflexionen über die einzelnen »documenta«-Kunstausstellungen genau so wie immer wieder die Entwicklungen auf den deutschen Theaterbühnen aufgezeigt werden oder man veranschaulicht die (gelegentlich in der Rückschau verblüffenden) Parallelen zwischen BRD und DDR hinsichtlich des Verhältnisses von Schriftstellern und Künstlern zur jeweiligen Staatsmacht – »Von Ratten und Schmeißfliegen« ist der Abschnitt der 70er Jahre nicht ohne Grund betitelt.
Man liest kritisches im Politik-Band über die Treuhand und die »Abwicklung« der DDR-Betriebe. Kohl und Gorbatschow bei den Verhandlungen sind die »Freunde in Strickwesten«. Die »Hetze« der »Bild«-Zeitung hinsichtlich der Studentenbewegung wird ebenso wenig verschwiegen wie die Beweggründe, die dann für einige in den Terrorismus führte (wenn es auch weder im Politik- noch im Gesellschaftsband ein Foto von Rudi Dutschke gibt; in beiden findet man lediglich das am Boden liegende Fahrrad Dutschkes nach dem Attentat 1968). Das schäbige Verhalten von großen Teilen der CDU/CSU-Fraktion während und anlässlich der Rede des Alterspräsidenten des Bundestages Stefan Heym von 1994 wird gleichermaßen angemerkt wie die bahnbrechende Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985. Die Ostpolitik der Brandt/Scheel-Regierung wird als Erweiterung der Westbindungspolitik Adenauers eingeordnet; Brandts Kniefall vom Dezember 1970 vor dem Denkmal des jüdischen Ghettos in Warschau ist das Foto der 70er Jahre im Politikband (und der Leser freut sich, weil er sich eigentlich auch nichts anderes vorstellen konnte).
Es ist bei einem solchen Werk natürlich unvermeidlich, dass der ein oder andere Aspekt doch ein bisschen unterbelichtet erscheint. Beispielsweise die Dramatik des Einigungsprozesses und die mindestens anfangs teilweise starken Vorbehalte insbesondere in der SPD. Oder eine etwas differenziertere Betrachtung zum Brandt-Rücktritt (die Spionageaffäre um Guillaume war ja letztlich nur Anlaß, aber nicht der Grund). Die Hysterie, in der Deutschland im »Deutschen Herbst« steckte, wird im Politikband nur am Rande erwähnt (im Literaturband allerdings eindringlich im Zusammenhang mit Leben und Werk Heinrich Bölls). Oder man fragt sich, ob die Krönung der Queen tatsächlich das prägende gesellschaftliche Ereignis der 50er Jahre war. Gelegentlich scheinen die Betrachtungen der 2000er Jahre aufgrund der mangelnden zeitlichen Distanz noch ein wenig nahe an der Nachrichtenvermittlung.
Wenn in Band 9 der Alltag in West und Ost beschrieben wird, Ausdrücke wie Henkelmann, Dederonbeutel, Smogalarm oder Zauberwürfel sozusagen wiederbelebt werden – dann kann man sich vorstellen, dass man hier eher als in dicken Geschichts- und Soziologieschwarten jüngeren Generationen das jeweilige Lebensgefühl einer Epoche nahebringen kann. So mancher Jungwessi wird da Neues über das Leben in der DDR erfahren und sein vorschnelles Urteil ein bisschen relativieren müssen. Aber auch eine Verklärung der Vergangenheit dürfte nach der geballten Erinnerungsmacht ein bisschen schwerer werden (und zwar auf beiden Seiten, denn die Autoren machen keinen Hehl daraus, dass beispielsweise die 50er Jahre in der Bundesrepublik noch von autoritärem Geist durchdrungen waren und die Emanzipation der Frau in der DDR nicht uneigennützig war).
Von den Bildbänden als Appetitanreger später dann vielleicht zur ausführlichen Beschäftigung mit Aspekten der deutschen Geschichte? Das scheint mit dieser Edition möglich und wäre kein geringes Verdienst.
Dederonbeutel?
Höre ich zum erstenmal, was ist das?
Sowas hier. (Mußte ich beim ersten Mal auch nachschlagen.)