Beide Texte sind Meldungen zum prognostizierten Ausgang der Parlamentswahlen in Polen und wurden am 25.10.2015 publiziert; beide enthalten Passagen mit beinahe identem Wortlaut, daneben auch Unterschiede wie die prognostizierten Prozentwerte der angetretenen Parteien; der erste Text entstammt einer deutschen Zeitung (FAZ), der zweite dem öffentlichen Rundfunk in Österreich (ORF); der erste gibt seine Quelle, die dpa, unter dem Text an, der zweite nicht (jedenfalls nicht so wie es sein sollte; ein einziges Mal wird ein Zitat einer dpa-Analyse zugeordnet1 ). — Sehr wahrscheinlich sind die Ähnlichkeiten auf eine dpa-Meldung zurückzuführen oder aber direkt von der FAZ abgeschrieben. Die Ähnlichkeiten seien im Folgenden dokumentiert:
»Im künftigen Parlament sind Prognosen zufolge fünf Parteien vertreten. Drittstärkste Partei ist die konservative Bewegung Kukiz des ehemaligen Rockmusikers Pawel Kukiz, die 8,7 Prozent der Stimmen erhielt. Außerdem schafften die wirtschaftsliberale Partei Nowoczesna mit 7,7 Prozent und die Bauernpartei PSL mit 5,2 Prozent der Stimmen den Einzug ins Parlament. Die Linke hingegen ist erstmals nicht vertreten.« (ORF)
»Im künftigen Parlament sind Prognosen zufolge fünf Parteien vertreten. Drittstärkste Partei ist danach die konservative Bewegung Kukiz des ehemaligen Rockmusikers Pawel Kukiz, die 9,1 Prozent der Stimmen erhielt und auf 44 Abgeordnetensitze hoffen kann. Außerdem schafften die wirtschaftsliberale Partei Nowoczesna mit 7,2 Prozent und die Bauernpartei PSL mit 5,7 Prozent der Stimmen den Einzug ins Parlament. Die Linke hingegen ist erstmals nicht vertreten.« (FAZ)
Wenn man im Online-Standard vom 26.10.2015 nachliest findet man folgende Passage mit minimalen Abweichungen zu den beiden oben angeführten (wer weiter sucht wird noch andere Ähnlichkeiten finden; es wird unterhalb des Texts auf die apa, im Text auf die dpa verwiesen):
»Im künftigen Parlament sind Prognosen zufolge fünf Parteien vertreten. Drittstärkste Partei ist demnach die konservative Bewegung Kukiz des ehemaligen Rockmusikers Pawel Kukiz, die 9,1 Prozent der Stimmen erhielt und auf 44 Abgeordnetensitze hoffen kann. Außerdem schafften die wirtschaftsliberale Partei Nowoczesna mit 7,2 Prozent und die Bauernpartei PSL, bisher Juniorpartner der PO, mit 5,7 Prozent der Stimmen den Einzug ins Parlament. Die Linke hingegen ist erstmals nicht vertreten.«
Im Gegensatz zum Text des ORF findet man hier wie bei der FAZ dieselben prognostizierten Prozentwerte und den Nebensatz »und auf 44 Abgeordnetensitze hoffen kann«; neu ist hingegen das eingefügte »bisher Juniorpartner der PO«. Abschließend und ohne weiteren Kommentar die Ähnlichkeiten der beiden eingangs erwähnten Texte:
»„Dieser Sieg ist euer aller Verdienst!“, sagte sie vor jubelnden Anhängern.« (ORF)
»„Dieser Sieg ist euer aller Verdienst“, sagte Szydlo vor jubelnden Anhängern.« (FAZ)
»Die bisherige Ministerpräsidentin Kopacz hatte zuvor bereits ihre Niederlage eingeräumt. Sie verwies auf die Erfolge von acht Jahren PO-Regierung, vor allem das Wirtschaftswachstum und den Rückgang der Arbeitslosigkeit. „In diesem Zustand überlassen wir Polen denen, die heute gewonnen haben“, sagte sie.« (ORF)
»Kopacz räumte am Abend ihre Niederlage ein. Fast trotzig verwies sie auf die Erfolge von acht Jahren PO-Regierung, vor allem das Wirtschaftswachstum und den Rückgang der Arbeitslosigkeit. „In diesem Zustand überlassen wir Polen denen, die heute gewonnen haben“, sagte sie.« (FAZ)
»Szydlo hatte im Wahlkampf eine Senkung der Steuern und des Rentenalters sowie eine Erhöhung der Sozialleistungen versprochen. So versprach Szydlo etwa mehr Geld für Familien und Pensionisten, mehr Unterstützung für Landwirte und ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für junge Polen. Damit sollen sowohl die sogenannten Müllverträge, bei denen schlechte Bezahlung mit Befristungen verbunden ist, als auch die anhaltende Auswanderung der jungen Generation gestoppt werden. Nicht nur im Regierungslager war kritisiert worden, dass diese Pläne schwerwiegende Folgen für die bisher stabilen Staatsfinanzen haben würden.« (ORF)
»Szydlo hatte im Wahlkampf vor allem mit sozialen Themen für Stimmen geworben. Sie versprach mehr Geld für Familien und Rentner, mehr Unterstützung für Landwirte und ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für junge Polen. Damit sollen sowohl die so genannten Müllverträge, bei denen schlechte Bezahlung mit Befristungen verbunden ist, als auch die anhaltenden Auswanderung der jungen Generation gestoppt werden. Nicht nur im Regierungslager war kritisiert worden, dass diese Pläne schwerwiegende Folgen für die bisher stabilen Staatsfinanzen haben würden.« (FAZ)
"Mit ihrem freundlichen und sachlichen Auftreten dürfte es ihr aber gelungen sein, neue Wählerschichten anzusprechen, schrieb die deutsche Nachrichteagentur dpa in einer Analyse." ↩
Was sollen Journalisten schreiben, zumal wenn sie auf Nachrichtenagenturen und Übersetzungen von Zitaten rekurrieren? Wenn man wollte, könnte man sicherlich jeden Tag mehrere solcher Kopien auflisten. Fragt sich nur, wer bei wem abschreibt. (Dass der ORF es mit der Nennung von Quellen nicht so genau nimmt, ist bekannt.)
Eine Nachricht kommt über Nachrichtenagenturen. Die Redaktionen übernehmen sie 1:1, wenn sie denn überprüft wurden und wenn die Quelle benannt wird spricht ja auch nichts dagegen. Dass man dann in allen Medien identische Texte liest, ist zwar langweilig, aber kaum verwunderlich.
Anders sieht es aus, wenn auch die »Analyse« der, z.B. dpa, einfach übernommen wird. Hier kommen Wertungen ins Spiel und wenn die plötzlich bei in allen Medien gleich ausfallen, wird’s ärgerlich. Leider muss man, angesichts der weitgehend gleichklingenden Wertungen, davon ausgehen, dass heute bis auf wenige Ausnahmen, in den Redaktionen nicht mehr selbst gedacht, sondern nur noch umformuliert wird. Ist einfach billiger.
@Gregor und blackconti
Dass Agenturmeldungen abgekupfert werden, ist nichts Neues, ich wollte es bloß einmal dokumentieren, deshalb steht der Text auch unter »Apropos« (dass sie allerdings darüber hinaus auch noch als Eigenleistung auftreten, finde ich schon dreist; dass derart wörtlich kopiert wird, ebenfalls).
Man muss ja nicht gleich zu jeder Prognose sofort eine Meldung produzieren, man könnte zuwarten und statt drei Meldungen einen Text in eigenen Worten und Gedanken versuchen (oder zur Abwechslung auf jemand anderen verweisen, anstatt so zu tun als produziere man selbst etwas).
Etwas bewerten kann ich im Regelfall selbst, dazu brauche ich keinen Journalisten.
Etwas bewerten kann ich im Regelfall selbst, dazu brauche ich keinen Journalisten.
Das ist genau das Problem: Etliche Journalisten glauben inzwischen, dass man die Bewertung gleich mit zu liefern hat bzw. dem Rezipienten den »lästigen Prozess« der Urteilsbildung als Serviceleistung abnehmen sollte. Damit wird ja inzwischen unverholen geworben, ja, dies sogar als »demokratische Aufgabe« betrachtet (und nicht nur von Kolumnisten wie Diez). Das hat dann natürlich zur Folge, dass man nicht einmal mehr die kleinste Meldung ohne entsprechender vorgefasster Tendenz präsentieren kann. Vielleicht resultiert daraus aus das Abschreiben: Da, wo es keine divergierenden Unterschiede mehr in der Bewertung von politischen Prozessen gibt, kann man auch gleich voneinander abkupfern.
@Gregor
Bzw. kann das Abschreiben dann als legitim betrachtet werden, wenn dadurch die richtige Meinung verbreitet wird (wobei daneben sicherlich betriebliche, ökonomische und lebensweltliche Ursachen existieren).
Was mich an diesem Agenturjournalismus stört, ist nicht nur, dass überall die gleiche Meldung steht, sondern dass ich den Eindruck habe, dass die Zeitungen sich so auf bequeme Weise ihrer Aufgabe der eigenen Recherche entledigen können. Aktuelles Beispiel ist derzeit die Meldung über den ungebetenen Zeugen im Münchener Landgerichtsprozeß gegen die (ehemaligen) Deutsche Bank-Manager Fitschen, Ackermann und Breuer. In dieser Meldung werden viele Umstände dieses kuriosen Auftritts berichtet, so z.B. habe er an früheren Prozeßtagen in die Verhandlung gerufen und den Richter und Staatsanwalt geduzt, dass er im Anzug erschienen sei, dass er aus dem Saal entfernt werden musste, dass das Sicherheitspersonal alarmiert gewesen sei usw. Das, was nicht berichtet wurde, ist, was genau er eigentlich aussagen wollte. Sehr wahrscheinlich handelt sich dabei bloß um einen Wichtigtuer, aber hat man irgendwo den Versuch unternommen seitens der Presse, ihn nach seiner Entfernung aus dem Gerichtssal über den Inhalt zu befragen – Stichwort Mollath? Das scheint bislang keinem Pressevertreter in den Sinn gekommen zu sein. Aber Hauptsache, man hat irgendwie darüber berichtet.
@Gregor
Kann es sein, dass es da einen Zusammenhang gibt, zwischen der Aufgabe jeglichen politischen Willens à la »Wir schaffen das schon...« und dem was da als neuer Journalismus, nicht nur gefordert, sondern bereits vorhanden ist (Diez)?
@Wolfgang B.
Genau, das was getan werden sollte, was (in gewissem Sinn) journalistische Pflicht ist, wird vernachlässigt, weil – ja, warum? – schnell, einfach und bequem, eine eigene Geschichte da ist, jedenfalls eine, die man als solche ausgeben kann.
@metepsilonema
Diez ist eine Krawallschachtel, von da her ist meine Verlinkung eigentlich weniger auf ihn bezogen als auf das Aktivistentum von Journalisten, das inzwischen als legitim betrachtet wird, und zwar von der Verbrauchersendung bis zum Korrespondentenbericht woauchimmer. In diesem Zusammenhang sehe ich die Selbstqualifizierung der Journalisten als 4. Gewalt als unumkehrbaren Trend. Die 4. Gewalt fordert Stellungnahmen nach Belieben ab – sei es von Fußballspielern, Politikern, Künstlern oder Funktionären. Sie sind Ankläger und Verteidiger – je nach Situation und Gesinnung. Wer sich den Medien nicht im adäquaten Modus äußert, gilt per se als suspekt oder schwierig. Im Gegensatz zu den anderen drei Gewalten, die sich wechselseitig kontrollieren, nimmt man wie selbstverständlich von der 4. Gewalt an, dass jegliche Kontrolle identisch mit Zensur ist.
Etliche Journalisten halten sich für die besseren Politiker. Man muss sich auf der tagesschau.de-Seite nur mal Kommentare und Analysen durchlesen. In wenigen Minuten werden dort die Probleme der Welt gelöst. Der Vorteil liegt natürlich darin, dass (1.) die Extrempositionen in den Kommentaren niemals realisierbar sind, d. h. es gibt niemanden, der das jemals überprüfen wird und (2.) die einzelnen Probleme zumeist isoliert betrachtet werden. Letzteres macht natürlich die Politik auch (wie man sieht).
Der Unterschied zu früher besteht darin, dass Journalisten keinen Hehl mehr aus seiner Parteinahme macht und darauf baut, dass der stete Tropfen (das immergleiche Mantra) den Stein (das Publikum) aushöhlt (mürbe macht).