Zunächst denkt man, dass das Buch »25« heißt. Diese Zahl prangt weiß auf schwarzem Untergrund auf dem Cover. Erst auf dem zweiten Blick erkennt man den richtigen Titel, senkrecht in goldenen Buchstaben: »Der Springer«. Auf der nächsten Seite, umrissartig die »26«. Auf der vorletzten Seite »27«. Dazwischen: das Buch. Was haben die Zahlen zu bedeuten? Nach einem Drittel ahnt der Leser: Es sind Zimmernummern. In Zimmer 27 trifft sich ein Paar. Und in Zimmer 26 ist der Ehemann der Frau. Viel später erfährt man, dass das Zimmer 25 auch noch eine Rolle spielt. Es ist verwirrend.
Dabei beginnt alles so einfach: Eine tote Frau, ein Kommissar, der im sommerlichen Gewitterregen den Tatort zu Fuß aufsucht und ein zumeist schweigender Tatverdächtiger, der gesteht und danach nur noch einen Satz in einem langen Verhör sagt. Am Grab der Getöteten, wenige Tage später, erscheint dem Kommissar epiphanisch die Gestalt der Frau und auch gleich die Geschichte dazu. Es ist die Geschichte von Paulzen, dessen ehemaligen Studienkollegen Stockmann und von Madeleine, die dann Stockmanns Ehefrau wurde. Plötzlich sucht Stockmann Paulzen auf und »bietet« ihm ohne Umstände seine Frau an. Sie »entgleite« ihm und er komme mit ihr nicht mehr zurecht. Er könne sie haben.
Eine wilde, alptraumhafte Erzählung von einem Mann, der an ein Bett gefesselt, fixiert ist und gerade deshalb schier ungeahnte Kräfte bekommt, beginnt mit dem Bett zu reiten, es bewegt sich sogar und er schreit. »Gewalten«. Dabei Gedankenflut, Galopprennen, Bars, besonders das »Brick’s«, die ewigen 89er, die zur Nikolaikirche pilgern. Leipzig also. Hilflosigkeit, Verzweiflung gepaart mit Trotz und Auflehnung. Eine Schwester kommt, er spuckt ihr ins Gesicht (eine Kunst aus dieser Entfernung und diesem Winkel) und sie kommen mit einem Kissen, welches sie ganz langsam auf sein Gesicht legen und etwas Warmes schießt in seinen Arm, Erinnerung an New York, den Maler Paule Hammer (sein Bild »AUA« ist das Cover des Buches) und später dann ein Ich bin noch da, ihr Schweine.
Eine neue Geschichte, einige Monate später. Der Leser erfährt über die Zwischenzeit nichts. Der Erzähler will sich mit einem Mann am Leipziger Bahnhof treffen, einem Interessenten für Filmdrehbücher. Die ganze Szenerie im Bahnhof ist nahezu kafkaesk, der Agent sucht das schlechteste Café aus, spricht leise, man fachsimpelt über Filme, Regisseure, Peckinpah, Bogdanovich, Szenen, beide sind Kenner, der Fremde verlässt das Café für zehn Minuten und kommt plötzlich mit einer Mappe wieder. Dann ein Schnitt. Plötzlich in seinem verdunkelten Zimmer, sozusagen vergraben, Bilder an der Wand, die grinsen, Abu Ghraib, Guantánamo und die Geschichte von K. Ein moderner K. und der Erzähler erleidet mit, die Demütigungen. Reminiszenz an Charlie Chaplin in »Modern Times« in den riesigen Zahnrädern und dann die Realitäten der Wohnung, die Zigaretten, die er wegspült und dann kurz danach sucht, ob er nicht eine daneben geworfen hat. Der Fall K. als »M.A.S.H.«-Film? Gedanken zum Islam, zum Glauben (ich kann das nämlich nicht mehr), Goethe und sein Respekt vor dem Koran (große Dichtung!). »My film is Guantánamo« wird Coppola paraphrasiert. Und dann verschmelzen alle Figuren, die privaten, die Leute auf den Fotografien, die Frau, die einen Häftling aus Abu Ghraib an der Leine führt und plötzlich ist er K., sieht sich Verhörleuten gegenüber; deliriert. Die Entspannung dann: das Gefühl, in seinem Zimmer beobachtet zu werden, wie in einem »Bernstein« eingeschlossen.
Erstaunlich, wie Xaver Bayers Geschichten nachklingen. Tage später ist plötzlich eine Formulierung wieder da. Oder ein Bild. Beispielsweise der Ich-Erzähler, der in Paris verhaftet und von den Polizisten aufs Revier begleitet wird und dabei plötzlich mit der Vorstellung kokettiert, man könne denken, ich selbst sei der Kommissar anstatt des Verhafteten (»Noch einmal für Jean-Louis Trintignant«). Er beginnt plötzlich den französischen Schauspieler zu imitieren: Ich setze bewusst meine Schritte so resolut, dass es für einen in der Situation Uneingeweihten so wirken könnte, als wäre ich es, der die Flics, meine Untergebenen, hinüber zum Kommissariat führt, so als handelte es sich darum, in den nächsten Minuten, drüben, in meinem Büro, die Aufklärung eines Falls in Angriff zu nehmen… Nur Sekunden dauert diese Verwandlung, die augenscheinlich niemand mitbekommt.
Oder der innere Selbstmonolog eines LKW-Fahrers (»Höhenstraßengespräche«), in den immer wieder Beobachtungsfetzen einfliessen, die im gleichen Moment einen Eindruck konterkarieren und damit verblüffenderweise gleichzeitig erweitern: Zwischen den Stämmen der Bäume im krautigen Unterholz blühen die Herbstzeitlosen, und da und dort blinkt das Rot einer weggeworfenen Coladose oder das Grün einer Flasche auf. Da bedarf es der Steigerung fast nicht mehr, dass die Kehlen heiser vom Schweigen geworden sind.
Der Abstieg von nicht näher beschriebenen Wanderern aus einem Höhenwald. Es dämmert schon und sie hatten an manchen Ecken regelrecht das Gefühl, dass die Dorfbewohner in der Zeit, die wir im Wald am Gipfel verbracht hatten, ihre Häuser geringfügig umgestellt hatten, wie um uns in die Irre zu führen. Sie verlieren vollkommen die Orientierung, können auch niemanden fragen, weil sie plötzlich die Sprache nicht mehr verstehen und suchen fast wie die ersten Menschen ein Entkommen aus einem Landschaftslabyrinth (hin zu ihrem »Sehnsuchtsort«, dem Parkplatz).
Es liegt etwas in der Luft
In »Der Nichtsdestotrotzraum« hört ein Ich-Erzähler zunächst vereinzelte Schreie, dann Wimmern und wird dabei von seiner Lektüre abgelenkt. Zunächst meint er es handele sich um Kinderlärm, dann glaubt er, jemand wird gequält. Er kann aber die Quelle des Lärms nicht lokalisieren und wird immer unruhiger. Er überlegt, die Polizei anzurufen, tröstet sich jedoch dann mit der Annahme, dass dort vielleicht ein Paar sadomasochistische Sexspiele veranstaltet oder das die Bauarbeiter, die Umbauarbeiten am Haus vornehmen, in der Mittagspause ein Pornovideo von ihren Handys abspielen. Als dann die Kreissägearbeiten wieder beginnen nimmt er dies zum Anlass den Polizeianruf erst recht nicht mehr zu tätigen. (Hier gibt es allerdings eine kleine Assoziation innerhalb der Erzählung, die nicht verraten werden soll.)
In fast allen zweiundzwanzig Geschichten scheint etwas in der Luft zu liegen, eine dunkle, rätselhafte, nicht näher konkretisierbare aber ständig als Möglichkeit anwesende Bedrohung. Der Leser wird ohne jegliche Einführung in ein Setting geworfen, in das er sich zunächst einmal zurechtfinden muss (was allerdings problemlos gelingt). Die Protagonisten scheinen wie Delirierende des Daseins. Manche (manche?) sind unbarmherzig militant auf eine bestimmte Aufgabe gerichtet, die nicht selten physisch Besitz von ihnen ergriffen hat. Sie sind dabei häufig von Emotionen und damit auch von Empathie befreit oder Verdrängen diese zumindest; manchmal erscheinen sie wie die Eloi in Wells’ »Zeitmaschine« oder bewegen sich einer »1984«-Welt Orwellscher Prägung oder wirken ihrer Absurdität ausgeliefert wie zeitgenössische Sisyphos-Nachfolger.