Ge­sin­nungs­äs­the­tik, Klas­sen­lie­be und Mei­nungs­pfo­sten

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen
An­ke Stel­ling:
Schäf­chen im Trocke­nen

Un­ge­ord­ne­te Be­mer­kun­gen zu An­ke Stel­lings »Schäf­chen im Trocke­nen«

Es gibt sie noch, die Li­te­ra­tur­kri­tik, die es schafft, Lust auf die Lek­tü­re ei­nes Bu­ches zu er­zeu­gen. Über­ra­schend ist viel­leicht, dass ein Ver­riss war, der mich auf An­ke Stel­lings »Schäf­chen im Trocke­nen« neu­gie­rig mach­te. Die lo­ben­den Wor­te, die ich in den Teasern von den üb­li­chen Ver­däch­ti­gen las und auch der Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se ge­nüg­ten hier­für nicht. Es be­durf­te der fu­rio­sen Phil­ip­pi­ka von Iris Ra­disch (lei­der jetzt hin­ter ei­ner Paywall). Vor al­lem, weil hier von »Ge­sin­nungs­äs­the­tik« die Re­de ist, vom »vul­gär­so­zio­lo­gi­schen Grund«, der die­se Pro­sa mit dem »wichtigste[n] Li­te­ra­tur­preis des Früh­jahrs« be­denkt.

Der Vor­wurf der Ge­sin­nungs­äs­the­tik fällt im­mer dann, wenn ein Buch nicht auf­grund sei­ner li­te­ra­ri­schen Vor­zü­ge ge­lobt und aus­ge­zeich­net zu wer­den scheint, son­dern der po­li­ti­sche, ge­sell­schaft­li­che Deu­tungs­rah­men des In­halts do­mi­niert. Ge­sin­nungs­äs­the­tik fun­giert da­bei vor al­lem als Ur­teil über die Re­zep­ti­on bzw. die Kri­tik. Es han­delt sich al­so im wei­te­sten Sinn um Me­di­en­kri­tik. Sel­ten, dass ei­nem Au­tor ge­sin­nungs­äs­the­ti­sches Schrei­ben da­hin­ge­hend un­ter­stellt wird, dass er ei­nen po­li­ti­schen und/oder ge­sell­schaft­li­chen Main­stream be­wusst be­dient.

Da­bei wird über­se­hen, dass na­he­zu je­des Ur­teil über ein li­te­ra­ri­sches Werk ge­wis­sen ge­sin­nungs­äs­the­ti­schen Strö­mun­gen un­ter­liegt. So ist der klei­ne Bru­der der Ge­sin­nungs­äs­the­tik der Zeit­geist. Der Un­ter­schied zwi­schen Zeit­geist und Ge­sin­nungs­äs­the­tik be­steht dar­in, ob die Aus­zeich­nen­den, die Lo­ben­den um die Prio­ri­sie­rung ih­rer Ur­teils­kri­te­ri­en wis­sen. Zeit­geist ge­schieht, Ge­sin­nungs­äs­the­tik ist be­wusst. Aus­ge­zeich­net wird dann et­was ge­ra­de we­gen sei­ner au­ßer­li­te­ra­ri­schen Be­zü­ge, bei­spiels­wei­se weil in ei­nem Ro­man ei­ne be­stimm­te po­li­ti­sche Rich­tung po­si­tiv dar­ge­stellt wird oder weil es ei­ne Frau ge­schrie­ben hat oder ein Mann oder ein Ein­hei­mi­scher oder ei­ne Per­son mit Mi­gra­ti­ons­vor­der- oder –hin­ter­grund oder was auch im­mer als re­le­vant her­an­ge­zo­gen wird.

Zu­letzt kur­sier­te der Vor­wurf der Ge­sin­nungs­äs­the­tik in gro­ßem Stil in den Feuil­le­tons der 1990er Jah­re als es um die nach­träg­li­che Be­wer­tung der Dich­tun­gen aus der DDR ging. Der Aus­lö­ser war Chri­sta Wolfs No­vel­le »Was bleibt«. In der sich im­mer mehr vom Text ab­kop­peln­den Dis­kus­si­on ging es am En­de dar­um, ob bei­spiels­wei­se Wolfs Werk auf­grund ih­res Sta­tus als Au­torin der DDR zu po­si­tiv re­zi­piert wor­den sei. Man hät­te hier­aus ei­ne in­ter­es­san­te Dis­kus­si­on um Schrift­stel­ler und de­ren po­li­ti­sche Kom­pe­tenz füh­ren kön­nen – aber wie so häu­fig ent­glitt das The­ma. Be­zeich­nend, dass Wolf vor al­lem von Gün­ter Grass in Schutz ge­nom­men wur­de. Man hät­te durch­aus auch Grass, der halb frei­wil­lig halb er­zwun­gen zum »Ge­wis­sen der Na­ti­on« sti­li­siert wur­de, als ge­sin­nungs­äs­the­tisch be­wer­te­ten Au­tor her­an­zie­hen kön­nen, aber aus ir­gend­wel­chen Grün­den un­ter­zog man nur die DDR-Au­toren der Kri­tik.

Ra­disch ver­wen­det die Be­zeich­nung der »po­pu­lä­ren Ge­sin­nungs­äs­the­tik«. Da­mit kri­ti­siert das, was man grob ver­ein­fa­chend als gän­gi­ge Preis- und Sti­pen­dia­ten­pro­sa be­zeich­nen könn­te. Es ist ei­ne Pro­sa, die das rich­ti­ge schreibt und denkt, sich dem Main­stream an­ge­passt hat. Der Vor­wurf der Ge­sin­nungs­äs­the­tik ist da­her auch als Kri­tik an den li­te­ra­ri­schen Ur­tei­len ge­ne­rell zu ver­ste­hen.

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