Tom Kri­sten­sen: Ab­sturz

Tom Kristensen: Absturz
Tom Kri­sten­sen: Ab­sturz

Ole Ja­strau ist 34 Jah­re alt, ver­hei­ra­tet mit Jo­han­ne, hat ei­nen drei­jäh­ri­gen Sohn Oluf, lebt in Ko­pen­ha­gen und re­zen­siert dä­nisch­spra­chi­ge Bü­cher beim »Dag­bla­det«. Es ist Früh­jahr 1929, ein Tag vor ei­ner Wahl zum dä­ni­schen Fol­ke­ting. Die Re­zen­si­ons­exem­pla­re sta­peln sich bei ihm in der Woh­nung; er muss le­sen und vor al­lem schrei­ben, kann sich aber nur schwer kon­zen­trie­ren. Plötz­lich klin­gelt es an der Tür. Zu­nächst er­kennt er den »Kom­mu­ni­sten­ben­gel« Bern­hard San­ders nicht, ver­mut­lich, weil er ihn an sei­ne ei­ge­ne po­li­ti­sche Ver­gan­gen­heit er­in­nert. Er ist in Be­glei­tung ei­nes ge­wis­sen Ste­fan Stef­fen­sen, der ei­gent­lich Ste­fa­ni heißt, und der Sohn ei­ner an­ge­se­he­nen Ko­pen­ha­ge­ner Per­sön­lich­keit ist, des Dich­ters und Apo­the­kers H. C. Ste­fa­ni. Auch Stef­fen­sen scheibt Ge­dich­te.

Die bei­den bit­ten um Asyl für ei­ne Nacht, um ei­ne dro­hen­de Haft­stra­fe we­gen Ver­brei­tung ih­rer kom­mu­ni­sti­schen Zeit­schrift nicht ab­sit­zen zu müs­sen. Ih­re Spe­ku­la­ti­on geht da­hin, dass bei ei­nem Wahl­sieg der So­zi­al­de­mo­kra­ten ei­ne all­ge­mei­ne Am­ne­stie für sol­che Fäl­le aus­ge­spro­chen wer­den dürf­te. Die Gä­ste be­die­nen sich ger­ne und las­sen sich noch lie­ber aus­hal­ten. Ja­strau gilt beim blitz­ge­schei­ten San­ders als Re­ne­gat, der sei­ne ein­sti­gen Idea­le ver­ra­ten ha­be und er läßt kei­ne Ge­le­gen­heit aus, ihm dies mit­zu­tei­len. Ne­ben­bei wird das »Dag­bla­det« als »Lü­gen­blatt« be­zeich­net. Jo­han­ne zeigt sich von dem Be­such nicht be­gei­stert. Sie kocht zwar für die bei­den mit, reist dann je­doch mit Oluf zu den El­tern. Ja­strau geht in die Re­dak­ti­on.

Das ist die Aus­gangs­si­tua­ti­on für Ab­sturz, des 1930 erst­mals ver­öf­fent­lich­ten Ro­mans des dä­ni­schen Schrift­stel­lers Tom Kri­sten­sen (1893–1974), den der Gug­golz-Ver­lag in ei­ner neu­en Über­set­zung von Ul­rich Son­nen­berg her­aus­ge­bracht hat. Kri­sten­sen nahm sich auf den 620 Sei­ten Zeit, viel Zeit. Mit gro­ßer Be­hut­sam­keit wird der Le­ser in die Cha­rak­ter­rol­len, Freund- wie Feind­schaf­ten, Rän­ke­spie­le und Ge­heim­nis­se von Jour­na­li­sten und Ko­pen­ha­ge­ner Kul­tur­schicke­ria her­an­ge­führt. Da ist die »Rat­ten­wa­che« zum Bei­spiel, in der nach Fei­er­abend Re­dak­teu­re die Pa­pier­kör­be ih­rer Kol­le­gen aus­lee­ren, zer­ris­se­ne Zet­tel zu­sam­men­set­zen und auf die­se Art zu­erst an In­for­ma­tio­nen über bri­san­te Re­cher­chen kom­men oder Pri­va­tes von ih­ren Kol­le­gen er­fah­ren. Die äl­te­ren Re­dak­teu­re le­ben häu­fig in pre­kä­ren Ver­hält­nis­sen, sind des­il­lu­sio­niert, dem Al­ko­hol ver­fal­len. Ihr Stamm­lo­kal ist die »Bar des Ar­ti­stes« nebst an­lie­gen­dem Ho­tel, ein Kos­mos, der hin­ter ei­ner schwe­ren, dunk­len Por­tie­re ei­ne an­de­re Welt of­fen­bart, in der die gül­ti­gen Hier­ar­chien und Wert­vor­stel­lun­gen au­ßer Kraft ge­setzt sind. Hier sit­zen nur Män­ner, ei­ni­ge von ih­nen tag­aus, nacht­ein.

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Hen­rik Pon­top­pi­dan: Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel

Henrik Pontoppidan: Kaum ein Tag ohne Spektakel
Hen­rik Pon­top­pi­dan: Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel

Im letz­ten Jahr be­en­de­te Ul­rich Son­nen­berg sei­ne Ar­beit an der Neu­über­set­zung der va­ri­an­ten­rei­chen Him­mer­land­ge­schich­ten des dä­ni­schen No­bel­preis­trä­gers Jo­han­nes V. Jen­sen. Und nun liegt im Wall­stein-Ver­lag mit Kaum ein Tag oh­ne Spek­ta­kel ei­ne An­tho­lo­gie ei­nes an­de­ren dä­ni­schen Au­tors vor: Hen­rik Pon­top­pi­dan (1857–1943), Sohn ei­nes Pfar­rers und 1917 mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­net. Zu­sam­men mit Mar­le­ne Ha­sten­plug fun­giert Son­nen­berg hier als Her­aus­ge­ber. Die Über­set­zungs­ar­beit der zwi­schen 1881 und 1918 in di­ver­sen Pu­bli­ka­tio­nen er­schie­nen Tex­te wur­de von ins­ge­samt zwölf Stu­den­tin­nen und Stu­den­ten des In­sti­tuts für Skan­di­na­vi­stik in Frank­furt vor­ge­nom­men1. Ne­ben zwölf Er­zäh­lun­gen wur­den acht Feuil­le­tons auf­ge­nom­men. Das Nach­wort ist von Nils Gun­der Han­sen, Lei­ter des Pon­top­pi­dan Cen­ters der Süd­dä­ni­schen Uni­ver­si­tät in Oden­se. Hier wird ein sehr in­struk­ti­ves Web­por­tal zu Hen­rik Pon­top­pi­dan be­trie­ben, auf dem sich Tex­te des Dich­ters im Ori­gi­nal, aber auch auf Deutsch zu fin­den sind.

Han­sen weist in sei­nem Nach­wort kurz auf die epi­schen Ro­ma­ne Pon­top­pidans hin (die im üb­ri­gen in deut­scher Über­set­zung nur un­ge­nü­gend lie­fer­bar sind) und den auch in Dä­ne­mark vi­ru­len­ten Wunsch nach dem um­fas­sen­den Ge­sell­schafts­ro­man (das scheint über­all und zu al­len Zei­ten ein Ver­lan­gen zu sein), um dann den Fo­kus auf die aus­ge­wähl­ten Tex­te zu rich­ten. Man lernt, dass der Erst­kon­takt mit Pon­top­pi­dan im Schul­un­ter­richt in Dä­ne­mark durch die Er­zäh­lun­gen Ane-Met­te und Gna­den­brot her­ge­stellt wird. Ane-Met­te spielt auf ei­nem dörf­li­chen Fried­hof, ei­ne Vier­tel­mei­le ent­fernt vom (fik­ti­ven) Ort Lil­le­lun­de (den Pon­top­pi­dan in meh­re­ren Er­zäh­lun­gen ver­wen­det). Der Kirch­hof ist »nackt und un­heim­lich«, die Vo­gel­stim­men bil­den ge­gen Abend ein »Höl­len­kon­zert«, was im Kon­trast zu den bun­ten Tö­nen der Bäu­me im Herbst steht. Aber es ist Som­mer und warm und es geht um ei­ne Per­son, ei­ne Frau, die in Trau­er­hau­be auf ei­ner Bank sitzt. Spä­ter er­fährt man, dass sie noch in Be­glei­tung ei­nes zwölf­jäh­ri­gen Mäd­chens ist. Die Trau­er­hau­be trägt die Frau nicht we­gen ih­res vor vier Jah­ren an ei­nem »glück­li­chen Win­ter­mor­gen« da­hin­ge­schie­de­nen Man­nes (ei­nem Trun­ken­bold). Sie ist dort, weil ih­re vor zwan­zig Jah­ren ver­stor­be­ne, da­mals drei­jäh­ri­ge Toch­ter, von zwei Män­nern ex­hu­miert wird, weil ge­nau an die­ser Stel­le ein Kind ei­ner rei­chen Fa­mi­lie be­gra­ben wer­den soll. Die bei­den Män­ner be­ei­len sich, aber die Ak­ti­on wird er­schwert, weil man noch un­ver­hofft die Ge­bei­ne ei­nes Man­nes fin­det, der auf dem Kind be­stat­tet wor­den ist. Erst dann sam­melt man die Kin­der­kno­chen auf und es gibt so­gar noch ei­ne Haar­locke von je­ner Ane-Met­te. Die prunk­vol­le und ge­sang­rei­che Be­er­di­gung der Rei­chen nutzt die Frau als Hin­ter­grund, um die Über­re­ste ih­res Kin­des in ei­nem Ra­sen­stück mit der Wür­de zu be­er­di­gen, die ihr da­mals nicht mög­lich war. »Sie fühl­te sich so leicht ums Herz…so wie je­mand, der ei­ne al­te Schuld be­gli­chen hat…«

Gna­den­brot er­zählt von ei­nem neu ge­bau­ten »Ar­men- und Ar­beits­haus«, in dem sich die »ver­brauch­ten Kräf­te« ver­sam­meln, »wenn die Hand zu schwach und der Rücken zu krumm wird, um die Last des Le­bens noch lan­ge zu tra­gen.« Die Schil­de­rung der Opu­lenz des neu­en Bau­werks kon­tra­stiert mit der sar­ka­sti­schen Schil­de­rung der Ver­brin­gung je­der »er­schöpf­ten Exi­sten­zen« und ih­rer Ver­pfle­gung, bei­spiels­wei­se mor­gens mit ei­nem »hal­ben Li­ter ab­ge­koch­tem, ver­dünn­ten Was­ser«, wel­ches Bier ge­nannt wür­de. Mit­tags »gibt es Grün­kohl mit Rü­ben und Kar­tof­feln – und den Ge­ruch des Rind­fleischs des In­spek­teurs…« Ei­gent­lich sind al­le ganz zu­frie­den mit die­sem neu­en Heim, nur ei­ne nicht und das ist Tri­ne Bød­kers. Und wie die sich wehrt und wie die an­de­ren sich dar­auf weh­ren – das er­zählt die­se Ge­schich­te mit ei­ner sar­ka­sti­schen Un­er­bitt­lich­keit.

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  1. In alphabetischer Reihenfolge: Philipp Botte, Randi Drümmer, Sarah Fengler, Jona Gola, Rebecca Jacobi, Mona Langhorst, Lara Ringel Fraile, Natalie Scheib, Julia Schmidt, André Wilkening, Alexander Witzko, Anastassis Zaltsberg. 

Hamsun/Sonnenberg: Hun­ger

[...] Knut Ham­suns Hun­ger wur­de bis­her mehr­fach ins Deut­sche über­setzt. Die Tran­skrip­ti­on von Ma­rie von Borch wur­de in den 1920er Jah­ren von Ju­li­us Sand­mei­er ab­ge­löst. Seit den 1950er Jah­ren er­scheint Hun­ger in Deutsch­land in meh­re­ren Ver­la­gen in der Über­set­zung von Ju­li­us Sand­mei­er und So­phie An­ger­mann (die auch an­de­re Wer­ke Ham­suns zu­sam­men über­setzt hat­ten). Die­se Über­tra­gung ...

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Jo­han­nes V. Jen­sen: Him­mer­lands­ge­schich­ten

Jo­han­nes Vil­helm Jen­sen wur­de 1873 als Sohn ei­nes Tier­arz­tes in Far­sø im jüt­län­di­schen Him­mer­land, Dä­ne­mark, ge­bo­ren. 1894 be­gann er un­ter dem Pseud­onym Ivar Lykke Span­nungs­ro­ma­ne zu schrei­ben, um sein Me­di­zin­stu­di­um zu fi­nan­zie­ren. Die er­sten Ro­ma­ne un­ter sei­nem ei­ge­nen Na­men be­gann er 1896 (spä­ter woll­te er die­se, wie es heißt, eher un­ge­sche­hen ma­chen). Er gab das ...

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