Lutz Sei­ler: Stern 111

Lutz Seiler: Stern 111
Lutz Sei­ler: Stern 111

Ir­gend­wie war es Pe­ter Hand­kes Schuld, dass ich 2014 »Kru­so« nicht ge­le­sen hat­te. Er fand das Buch »grau­en­haft« (nebst ei­ner nicht zi­tier­ba­ren Vo­ka­bel). Ich hat­te dann kei­ne Lust mehr und wid­me­te mich an­de­ren Bü­chern. »Kru­so« ge­wann da­mals den Deut­schen Buch­preis. Und nun wie­der ein Preis­buch von Sei­ler, »Stern 111« (mit kur­zen Ca­me­o­auf­trit­ten ei­ner Fi­gur na­mens »Kru­so«). Der neue Ro­man hat 520 Sei­ten, aber es ist ver­blüf­fend leicht, den In­halt wie­der­zu­ge­ben: Man ist zu Be­ginn im Herbst 1989. Die Mau­er hat­te sich ge­öff­net. Carl Bi­sch­off, Ein­zel­kind, 26, »zur Zeit Stu­dent«, wird von sei­nen El­tern In­ge und Wal­ter (um die 50) te­le­gra­phisch mit ei­ner Art Hil­fe­ruf nach Hau­se, nach Ge­ra ge­be­ten. Sie of­fen­ba­ren ihm, dass sie so­fort »den We­sten in An­griff« neh­men, noch ein­mal ganz von vor­ne an­fan­gen wol­len. Be­gin­nen im Not­auf­nah­me­la­ger. Carl ist fas­sungs­los, für ihn sind die bei­den die »un­wahr­schein­lich­sten Flücht­lin­ge«; die er sich nur vor­stel­len kann. Er rich­tet sich im El­tern­haus ein, rech­net mit ei­ner frü­her Rück­kehr. Die tritt nicht ein, er be­kommt ei­nen La­ger­kol­ler und bricht sei­ner­seits mit dem Shi­gu­li sei­nes Va­ters auf. Er stran­det in der Ber­li­ner Haus­be­set­zer­sze­ne »As­sel«, um die Ora­ni­en­bur­ger Stra­sse. Wäh­rend er in Ber­lin lie­ben und le­ben lernt, mit­hilft, die rui­nö­sen Häu­ser als Mau­rer und Put­zer zu ver­schö­nern, ne­ben­bei kell­nert und ei­ne Zie­ge mel­ken kann, be­kommt er die von Ge­ra um­ge­lei­te­ten Brie­fe sei­ner Mut­ter. Aus Sor­ge, dass sich die El­tern Sor­gen ma­chen wür­de, ver­schweigt er ih­nen lan­ge sein Le­ben in Ber­lin. Carls Zu­kunfts­plan ist ei­ne Kar­rie­re als Dich­ter. Die Haus­be­set­zer-Gue­ril­la ist be­ein­druckt: Ein Hand­wer­ker und Dich­ter. Das passt per­fekt in die ideo­lo­gi­sche Ge­bäck­mi­schung der Frei­zeit­gue­ril­las. Ein paar Jah­re spä­ter sind die El­tern über Um­we­ge in Los An­ge­les ge­lan­det und Carl ver­ab­schie­det sich schließ­lich aus Ber­lin.

Es ist nicht un­be­dingt ein Aus­weis von feh­len­der Qua­li­tät, wenn Ro­man­in­hal­te der­art schnell re­ka­pi­tu­lier­bar sind. Es ist ein Rah­men. Li­te­ra­tur be­steht ja auch aus Ne­ben­aspek­ten. Zum Bei­spiel: Was ist mit dem Ti­tel? Auf dem wun­der­schö­nen Co­ver sieht man ei­ne Ra­dio­ska­la nebst Laut­spre­cher­ver­klei­dung und Sen­der­rad. Der im We­sten so­zia­li­sier­te Le­ser lernt auf Sei­te 340, dass es sich um die An­sicht von »Stern 111«, ei­nem ost­deut­schen Ra­dio, han­delt. Tat­säch­lich spielt die­ses Ra­dio ei­ne Rol­le. Geht es um die Kurz­wel­le, die das Hö­ren al­ler­lei »ver­bo­te­ner Sen­der« zu DDR-Zei­ten hät­te er­mög­li­chen kön­nen? Nein. Das Ra­dio dient als Er­in­ne­rungs­an­ker für Aus­flü­ge von Carl als Kind mit sei­nen El­tern. Spä­ter, am En­de, wird es dann noch aus­ge­gra­ben, wo­bei un­klar bleibt, war­um es je­mals ein­ge­gra­ben wur­de. Das war’s.

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Lutz Sei­ler: Die Zeit­waa­ge

Lutz Seiler: Die Zeitwaage
Lutz Sei­ler: Die Zeit­waa­ge

»Turk­sib« in ziem­li­cher Ein­mü­tig­keit den In­ge­borg-Bach­mann-Preis zu­ge­spro­chen be­kam. Auch wenn man viel­leicht ei­nen an­de­ren »Lieb­lings­text« im Wett­be­werb hat­te – die Qua­li­tät die­ser Pro­sa war ein­deu­tig und tat­säch­lich her­aus­ra­gend. Und noch heu­te er­in­nert man sich an die­sen schau­rig-zärt­li­che Lo­re­ley-Ge­sang des rus­si­schen (?) Hei­zers auf den rüt­teln­den Turk­sib-Gän­gen. Viel­leicht ist die­ser Fisch­ge­sang, der sich zwi­schen Er­zäh­ler und Hei­zer für ei­ne schwer durch­at­me­te Dau­er er­eig­ne­te, der Kri­stal­li­sa­ti­ons­punkt die­ser Er­zäh­lung, die an­son­sten fast nur aus der Be­wäl­ti­gung des Ich-Er­zäh­lers der Strecke vom Zu­gen­de zum Zug­an­fang (oder ist es um­ge­kehrt?) und der Be­schau ei­nes Gei­ger­zäh­lers (und vor al­lem dem Ge­räusch!) zu be­stehen scheint. Aber – und dies wird noch Ge­gen­stand der Er­ör­te­rung sein – es ist nicht im­mer ganz leicht, den Mo­vens der Er­zäh­lun­gen von Lutz Sei­ler »her­aus­zu­ar­bei­ten«, was al­ler­dings die Lek­tü­re zu­sätz­lich reiz­voll macht.

Der vor­lie­gen­de Band mit dem schö­nen, al­le­go­ri­schen Ti­tel »Die Zeit­waa­ge« (ei­ne Zeit­waa­ge ist ein In­stru­ment zur Fest­stel­lung der Gang­ge­nau­ig­keit ei­ner Uhr) um­fasst drei­zehn Er­zäh­lun­gen (die Ti­tel­ge­schich­te fin­det sich am En­de des Bu­ches). Sie wei­sen for­mal kein ein­heit­li­ches Sche­ma auf. Häu­fig gibt es ei­nen Ich-Er­zäh­ler, der bis­wei­len durch­aus (bio­gra­fi­sche) Par­al­le­len mit dem Au­tor sug­ge­riert (aber manch­mal wird die­ses über­eif­ri­ge Ger­ma­ni­sten­su­chen auch auf per­fi­de Art plötz­lich, in­ner­halb der Er­zäh­lung, ge­bro­chen) und so­gar, ein­mal (in der Er­zäh­lung »Gavro­che«), wer­den Er­zäh­ler und Er­zäh­lung sel­ber Ge­gen­stand der Er­zäh­lung. Und in ei­ni­gen Ge­schich­ten gibt es ab­wei­chend ei­nen aukt­oria­len Er­zäh­ler.

Bis auf die er­sten bei­den Ge­schich­ten (»Frank« und »Im Ge­räusch«), die durch die Prot­ago­ni­sten mit­ein­an­der ver­bun­den sind (sie sind auf Ur­laub in den USA), »Turk­sib« und die »Zeit­waa­ge« (Ber­lin) kann man als Ort Sei­lers Hei­mat Thü­rin­gen aus­ma­chen. Und ob­wohl die Ge­schich­ten in der ehe­ma­li­gen DDR min­de­stens ver­wur­zelt sind, die Prot­ago­ni­sten ih­re So­zia­li­sa­ti­on dort er­fah­ren ha­ben (zu al­ler­dings durch­aus un­ter­schied­li­chen Zei­ten) und es durch­aus An­spie­lun­gen auf Skur­ri­li­tä­ten und Ab­son­der­lich­kei­ten des Sy­stems gibt (die­se meist eher mit leich­ter Hand ge­zeich­net), ist die »Zeit­waa­ge« kein »DDR-Buch«, schon gar kein Be­wäl­ti­gungs­buch. Die Ver­stö­run­gen und Ver­let­zun­gen der Fi­gu­ren sind auf ei­ne fast be­tö­ren­de Art Zeug­nis ei­nes aus-der-Welt-ge­fal­len-Seins und be­sit­zen ei­nen merk­wür­dig ho­hen Grad an Uni­ver­sa­li­tät (die al­ler­dings in kei­nem Fall mit Be­lie­big­keit ver­wech­selt wer­den darf).

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